Ich habe mich in jun­gen Jah­ren recht aus­gie­big mit Ruck­sack und Rei­se­schecks aus­ge­rüs­tet in ande­ren Län­dern und auf ande­ren Kon­ti­nen­ten umge­tan. Oft waren es Welt­ge­gen­den, die als nicht beson­ders sicher gal­ten und dies auch tat­säch­lich nicht waren. Ich hat­te immer Glück – der Über­land­bus der­sel­ben Linie wur­de erst am Tag nach mei­ner Fahrt aus­ge­raubt, der Raub­über­fall auf das Beach­vol­ley­ball-Spiel geschah mei­nen zeit­wei­li­gen Mit­rei­sen­den, nicht mir, der Taschen­dieb such­te sich den Mann aus, der vor mir durch die Fuß­gän­ger­zo­ne Rios schlen­der­te. Sogar die Hoodlums, die mich in St. Lou­is auf dem Weg vom Base­ball­sta­di­on zur Unter­kunft dumm anquatsch­ten und „unter­su­chen“ woll­ten, gaben sich schließ­lich mit ein paar blö­den Sprü­chen zufrie­den, weil sie den unver­hofft in ihrem Kiez auf­ge­tauch­ten Deut­schen so ulkig fanden.

Man wuss­te auch bis zu einem gewis­sen Grad, wie man sich schüt­zen konn­te: in alten Kla­mot­ten her­um­lau­fen (mei­ne Stan­dard­kluft: alte Bun­des­wehr­ho­se, schmut­zi­ge Segel­tuch­schu­he, schlabb­ri­ges Polo­hemd), einen Geld­gür­tel tra­gen, die Lan­des­spra­che beherr­schen. Nachts nicht an roten Ampeln hal­ten, auf kei­nen Fall unbe­glei­tet in die Fave­la. Nicht auf Gesprä­che mit komi­schen Leu­ten ein­las­sen, die einem in der Baixa von Lis­sa­bon Dro­gen und gol­de­ne Arm­band­uh­ren ver­kau­fen wol­len. Und vor allem wuss­te man, dass all die­se Vor­sichts­maß­nah­men nicht mehr nötig sein wür­den, sobald man in Mün­chen oder Ber­lin wie­der das Flug­zeug ver­las­sen hat­te. Das eige­ne Land war ein biss­chen lang­wei­lig, man war nicht son­der­lich stolz dar­auf, die Leu­te rann­ten zu sehr dem Geld hin­ter­her, und kul­tu­rell gaben einem New Orleans und Bahia alles, was man brauch­te. Aber eines war die­ses Land ganz bestimmt: sicher und verlässlich.

Ich muss geste­hen, dass mich die­ses Gefühl von abso­lu­ter Sicher­heit und Ver­läss­lich­keit in den letz­ten Mona­ten schlei­chend und schließ­lich in den letz­ten Tagen mit dra­ma­ti­scher Geschwin­dig­keit ver­las­sen hat. Das liegt, natür­lich, an der poli­ti­schen Reak­ti­on auf den stark anschwel­len­den Flücht­lings­strom, den Atten­ta­ten von Paris und all dem, was seit­dem pas­siert ist. Vor ein paar Tagen saß ich mit vie­len ande­ren bud­dhis­tisch Gesinn­ten in einem Medi­ta­ti­ons­zen­trum und hör­te zu, wie ein Bhikk­hu aus Süd­deutsch­land sei­ne Sicht der Din­ge erläu­ter­te und dann die frisch eröff­ne­ten Räum­lich­kei­ten seg­ne­te. Gleich­zei­tig ertapp­te ich mich stän­dig dabei, wie ich zur Tür sah und über­leg­te, was wohl zu tun wäre, wenn plötz­lich ein Ver­mumm­ter her­ein­sprin­gen, „Alla­hu akbar!“ rufen und die Ban­de von Göt­zen­an­be­tern, die wir für ihn wären, ins Jen­seits beför­dern wür­de. Über­zo­gen, natür­lich. Die Jungs von IS und al-Quai­da haben Wich­ti­ge­res zu tun, als irgend­wo in Nie­der­sach­sen aufs plat­te Land zu fah­ren und ein paar Räu­cher­stäb­chen­ab­bren­ner nie­der­zu­schie­ßen. Jeden­falls einst­wei­len noch. Ande­rer­seits bin ich gera­de ziem­lich froh, kein beson­ders gro­ßer Fuß­ball­fan zu sein. Wir sol­len hero­isch unser Leben wei­ter­le­ben, heißt es, mit allen Frei­hei­ten und Frei­zü­gig­kei­ten. Um ehr­lich zu sein – das wirkt wie ein Fünf­jäh­ri­ger, der einem ande­ren Fünf­jäh­ri­gen zuruft: „Bei dei­nem doo­fen Krieg mach ich aber nicht mi-hit!!!“ Nur dass der ande­re gar kein Fünf­jäh­ri­ger ist. Und sein Gewehr ist auch nicht aus Plastik.

Es herrscht gro­ße Ver­wir­rung in der Welt, sag­te der Bhikk­hu, und da hat er wohl recht. Nicht das „Böse“, nicht das „Irra­tio­na­le“, aber gro­ße Ver­wir­rung. Ich habe mei­nen Roman Wolfs­stadt über einen Poli­zis­ten geschrie­ben, der 1948 einen Mord­fall auf­klä­ren soll, aber in Wirk­lich­keit muss er das Rät­sel lösen, dass er selbst ist. Im Som­mer 1942 in der Ukrai­ne herrsch­te auch gro­ße Ver­wir­rung, da hat ihm jemand befoh­len, auf Frau­en und Kin­der zu schie­ßen, und er hat den Befehl nicht ver­wei­gert, obwohl er es gedurft hät­te. War­um nicht? Eine der Ant­wor­ten, die er fin­det, ist das Ver­gnü­gen an abso­lu­ter Macht, der Macht über Leben und Tod. Gott der Herr, der über die Ägyp­ter kommt. Ich glau­be nicht, dass ein sol­ches Ver­gnü­gen nur bei uns Deut­schen zu fin­den ist, des­we­gen schä­me ich mich auch nicht beson­ders, zu die­sem Volk zu gehö­ren. Ich glau­be, da geht es um anthro­po­lo­gi­sche Poten­zia­le, die mehr oder weni­ger jeder in sich trägt, die aber durch die beson­de­ren poli­ti­schen, kul­tu­rel­len und gesell­schaft­li­chen Umstän­de der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts zufäl­lig in Deutsch­land zum Aus­bruch gekom­men sind. Wenn das ein biss­chen pes­si­mis­tisch klingt, kann ich es nicht ändern. Wer sich län­ger mit der Sho­ah beschäf­tigt und hin­ter­her immer noch ein durch­weg posi­ti­ves Men­schen­bild ver­tritt, hat sich nicht lan­ge genug damit beschäftigt.

Ich glau­be auch, dass die­se Poten­zia­le jetzt wie­der zum Aus­bruch kom­men. Der Poli­tik der USA und ihrer Ver­bün­de­ter im Nahen Osten hat – von Eisen­ho­wer und Mos­sa­degh über Rea­gan und Afgha­ni­stan bis zum ver­bre­che­ri­schen Irak-Krieg des Geor­ge W. Bush und des Tony Blair – jede Men­ge Mons­ter in die Welt gesetzt, die sie jetzt ver­zwei­felt wie­der ein­zu­fan­gen ver­su­chen. Fai­led Sta­tes sind ent­stan­den, Zonen der Unre­gier­bar­keit, in denen die nack­te Gewalt herrscht wie im Som­mer 1942 im Osten Euro­pas. Mit Reli­gi­on hat das auf den ers­ten Blick nichts zu tun. Die Dschi­ha­dis gehen in Schwarz wie noch jede Todes­schwa­dron vor ihnen, als coo­le Kämp­fer gegen das Impe­ri­um und die Las­ter des Wes­tens locken sie die Ver­ach­te­ten Euro­pas an eben­so wie jun­ge Frau­en, deren Sehn­sucht nach abso­lu­ter Hin­ga­be (auch die gibt es) kei­ne libe­ra­le Gesell­schaft mehr stil­len kann. Gegen die Viel­deu­tig­keit der Welt set­zen sie die ver­füh­re­ri­sche Kraft der ein­fa­chen Wor­te. Sie könn­ten genau­so gut „Bom­ben auf Engel­land“ sin­gen und sich einen Toten­kopf an ihr Kopf­tuch heften.

Auf den zwei­ten Blick ist es natür­lich trotz­dem ein Pro­blem der Reli­gi­on. Ich bin kein Exper­te für isla­mi­sche Theo­lo­gie und bezweif­le nicht, dass es eine Les­art des Koran gibt, die all die mar­ki­gen Wor­te über den Kampf gegen die Ungläu­bi­gen nur als inne­ren Kampf und Meta­pher ver­steht, ich bezweif­le nicht ein­mal, dass die­se Les­art die heut­zu­ta­ge vor­herr­schen­de ist. Aber wie fast alle Reli­gio­nen ist auch der Islam in sich bekämp­fen­de Frak­tio­nen zer­fal­len, und eini­ge davon bevor­zu­gen nun mal Les­ar­ten, die ein gutes Stück wört­li­cher sind. Wer woll­te da von dem Islam sprechen?

Und wer woll­te bestrei­ten, dass letzt­end­lich der Glau­be an den einen, ein­zi­gen Gott, des­sen Pro­phe­ten die eine, ein­zi­ge Wahr­heit ver­kün­den, immer im Wider­spruch ste­hen muss mit der viel­fäl­ti­gen, wider­sprüch­li­chen, chao­ti­schen Welt? Das ist selbst­ver­ständ­lich ein Wesens­merk­mal aller Mono­the­is­men, und es ver­lei­tet sie im schlimms­ten Fall zu hals­star­ri­gem Fun­da­men­ta­lis­mus – von dem jüdi­schen Sied­ler in der West­bank, der die Torah für eine Art ewig gül­ti­gen Grund­buch­ein­trag hält, über den ame­ri­ka­ni­schen Bible thum­per, der Abtrei­bungs­ärz­te ermor­det, bis zu dem Lon­do­ner Hass­pre­di­ger al-Mas­ri, der eine Frau lie­ber tot sehen will, als ihr Nackt­heit zu erlau­ben. Für das Juden­tum spricht aus mei­ner Sicht, dass sie mich nicht bekeh­ren wol­len, für das Chris­ten­tum, dass ihm die letz­ten zwei­hun­dert Jah­re Auf­klä­rung die Zäh­ne gezo­gen haben. Mir wäre woh­ler, wenn wir das mit dem Islam jetzt auch mög­lichst schnell hin­krie­gen könnten.

In der Zwi­schen­zeit herrscht gro­ße Ver­wir­rung. Und gro­ße Gefahr. Ich weiß nicht, wie es dem Leser geht, aber wenn ich mich an die Stel­le der IS-Leu­te ver­set­ze, könn­te es kei­ne bes­se­re Zeit für mich geben als jetzt die­se. Ver­wal­tung und Sicher­heits­kräf­te aller Län­der von Grie­chen­land bis Schwe­den sind mit dem nicht enden wol­len­den Flücht­lings­strom beschäf­tigt, die Wach­sam­keit ist natur­ge­mäß nicht so hoch wie zu nor­ma­len Zei­ten. Zudem las­sen sich über den Zug der Ver­zwei­fel­ten pro­blem­los mit fal­schen Päs­sen ver­se­he­ne Schlä­fer nach Euro­pa ein­schleu­sen, die unter ihrem rich­ti­gen Namen viel­leicht Schwie­rig­kei­ten hät­ten, weil sie hier poli­zei­be­kannt sind. Ich weiß, ich weiß, da regt sich sofort Wider­spruch … Natür­lich sind die Flücht­lin­ge zu min­des­tens 99,999 % kei­ne Ter­ro­ris­ten, aber wenn noch nicht mal der Staat genau weiß, wer da eigent­lich gera­de unter­wegs ist, wenn vie­le Flücht­lin­ge nach Grenz­über­tritt oder Erst­auf­nah­me aus dem Gesichts­feld der Behör­den ver­schwin­den, wer könn­te da schon beschwö­ren, was mit den rest­li­chen 0,001 % los ist?

Man muss sich noch­mal vor Augen hal­ten, dass der Angriff auf Paris aus Sicht des IS eigent­lich fehl­ge­schla­gen ist. Ziel wäre das Län­der­spiel gewe­sen, sicher nicht zufäl­lig eines zwi­schen den bei­den Füh­rungs­mäch­ten Euro­pas, drei Leu­te mit Spreng­gür­teln hät­ten sich inmit­ten der Zuschau­er in die Luft gesprengt, hun­der­te von Men­schen wären vor den Augen der Fern­seh­zu­schau­er direkt gestor­ben, tau­sen­de in der dar­auf­hin ein­set­zen­den Mas­sen­pa­nik. Sicher­heits- und Hilfs­kräf­te hät­ten sich gleich­zei­tig um die Ablen­kungs­an­grif­fe auf das Bata­clan und die Cafés küm­mern müs­sen und wären der Lage ver­mut­lich nicht mehr Herr gewor­den. Ein furcht­erre­gen­des, blu­ti­ges Spek­ta­kel, das sogar den 11. Sep­tem­ber in den Schat­ten gestellt hät­te. Die Hel­den des Abends waren die Sicher­heits­leu­te, die den Angrei­fern den Ein­tritt ins Sta­di­on verwehrten.

Wer­den sol­che Hel­den immer recht­zei­tig zur Stel­le sein? Die Dschi­ha­dis wer­den nicht ruhen, bis sie einen neu­en Ver­such unter­nom­men haben, um die Schar­te aus­zu­wet­zen, und – mit Ver­laub – wei­ter im Café sit­zen und auf Kon­zer­te gehen, um die Über­le­gen­heit unse­rer Lebens­art zu demons­trie­ren, wird das Pro­blem nicht lösen. Aber was statt­des­sen? Wie sol­len wir reagie­ren? Sicher auch nicht durch das Ent­sen­den von Flug­zeug­trä­gern und wei­te­ren Trup­pen. Das ver­su­chen die Ame­ri­ka­ner jetzt seit 14 Jah­ren, und letzt­end­lich hat es sich als völ­li­ge Plei­te erwie­sen. Die Tali­ban ste­hen wie­der vor Kun­dus, der Zusam­men­bruch des Zwei­strom­lands hat den Isla­mis­ten sogar einen eige­nen „Staat“ beschert. Kraft erzeugt Gegen­kraft, und genau das will der IS ja. Wenn man das Pro­blem auf die­se Wei­se lösen will, müss­te man – wie der CIA-Kil­ler Quinn in der neu­en Staf­fel von Home­land so prä­gnant bemerkt – bereit sein, 200.000 Mann Boden­trup­pen für zwan­zig Jah­re vor Ort sta­tio­nie­ren und in den von ihnen geschütz­ten Zonen eben­so vie­le Leh­rer und Sozi­al­ar­bei­ter wir­ken las­sen, um eine anstän­dig funk­tio­nie­ren­de Gesell­schaft auf­zu­bau­en. Und selbst dann wüss­te man nicht, ob es klappt und ob da nicht noch ande­re, fun­da­men­ta­le­re Kräf­te am Werk sind (aber davon ein ande­res Mal mehr).

Statt­des­sen die Waf­fen nie­der­le­gen und hof­fen, dass unser „freund­li­ches Gesicht“ den gan­zen Nahen Osten ansteckt? Dass unse­re Hilfs­be­reit­schaft die Angrei­fer lang­fris­tig dazu brin­gen wird, ihre Aggres­si­on ein­zu­stel­len und sich in den Koope­ra­ti­ons­mo­dus zu bege­ben? Ich weiß nicht, was Ange­la Mer­kels Stra­te­gie ist, aber wenn sie eine hat, ist es ver­mut­lich die­se. Und grund­sätz­lich wäre das viel­leicht sogar eine ganz gute Idee, aber in der jet­zi­gen Lage und als Ant­wort auf eine kon­kre­te, kurz­fris­ti­ge Bedro­hung …? Die Flücht­lin­ge kom­men mit gro­ßen Hoff­nun­gen zu uns, aber aller Wahr­schein­lich­keit nach wird ein Groß­teil von ihnen mona­te­lang in Turn­hal­len und Zelt­städ­ten leben müs­sen, bevor eine völ­lig über­for­der­te Ver­wal­tung auch nur den Beginn ihres Asyl­ver­fah­rens in Gang gesetzt hat. Nach allem, was man so hört und liest, wer­den sie auch mit­tel­fris­tig eher Pro­ble­me haben, in den deut­schen Arbeits­markt zu kom­men, und der eine oder ande­re wird ins Grü­beln kom­men, war­um er eigent­lich nicht in sei­nem Zelt in der Tür­kei geblie­ben ist, wenn es ihm hier auch nicht bes­ser geht. Ich sehe da ein gro­ßes Poten­zi­al an Unzu­frie­den­heit, und das wird die Sicher­heits­la­ge nicht verbessern.

Außer­dem hal­te ich es für abwe­gig, die Kämp­fer des IS in der momen­ta­nen Lage durch Freund­lich­keit auf­hal­ten zu wol­len. Sie sind nur ein paar ver­wirr­te Jungs, wie gesagt, aber manch­mal ist die Ver­wir­rung zu stark, um noch mit Wor­ten oder Ver­nunft etwas bewe­gen zu kön­nen. Nicht anders als bei unse­ren ver­wirr­ten Vor­fah­ren zwi­schen 1933 und 1945. Ich bin nicht für einen Feld­zug gegen den IS, aber ich bin auch kein Pazi­fist. Und ich bin froh, dass Groß­bri­tan­ni­en, die USA und die Sowjet­uni­on im 2. Welt­krieg nicht von Pazi­fis­ten regiert wurden.

Ohne einen gewis­sen Grad an Wehr­haf­tig­keit wird es nicht gehen. Und ich kann mir nicht vor­stel­len, dass wir unter den gegen­wär­ti­gen Umstän­den unse­re Poli­tik der offe­nen Gren­zen auf ewig fort­set­zen kön­nen. Ja, das bedeu­tet das Ende von Schen­gen. Eine schwer zu schlu­cken­de Krö­te, gera­de für einen Groß­teil der West­deut­schen, der seit den 1950ern davon träumt, sei­ne natio­na­le Iden­ti­tät auf­zu­ge­ben und in einem irgend­wie gear­te­ten über­staat­li­chen „Euro­pa“ auf­zu­ge­hen. Das mag damals sogar mach­bar gewe­sen sein, aber inzwi­schen ist die Euro­päi­sche Uni­on nach diver­sen Erwei­te­rungs­run­den, dem auf hal­bem Weg ste­cken­ge­blie­be­nen Eini­gungs­pro­zess und dem Vaban­que-Spiel der Euro-Ein­füh­rung zu einem hilf­los tau­meln­den Fran­ken­stein-Mons­ter gewor­den, das nie­man­den mehr zum Träu­men bringt. Und gera­de die ost­eu­ro­päi­schen Mit­glieds­staa­ten, die ja mit dem Epo­chen­wech­sel 1989/90 über­haupt erst zu einer Ein­heit von Staat und Nati­on gefun­den haben, haben die­se Träu­me ohne­hin nie geteilt und wer­den sie auf abseh­ba­re Zeit auch nicht teilen.

Wenn das Kapi­tal kei­ne Gren­zen kennt, darf es auch für Men­schen kei­ne Gren­zen geben, so oder ähn­lich argu­men­tiert Mer­kel. Aber es ist ja gera­de die Gren­zen­lo­sig­keit des Kapi­tals, die 2007/8 aus einer begrenz­ten ame­ri­ka­ni­schen Immo­bi­li­en­kri­se ein welt­wei­tes Desas­ter gemacht hat, es scheint mir also kei­ne gute Idee zu sein, die­sel­ben Dumm­hei­ten jetzt auf ande­ren Gebie­ten zu wie­der­ho­len. Es gibt kei­ne wirk­lich funk­tio­nie­ren­den über­staat­li­chen Ein­rich­tun­gen, die sol­che kri­sen­haf­ten Ent­wick­lun­gen wirk­sam ein­däm­men kön­nen, und rea­lis­tisch betrach­tet wird es auch in nähe­rer Zukunft kei­ne geben. Der wich­tigs­te Hand­lungs­rah­men von Poli­tik und sozia­ler Steue­rung ist und bleibt der Nationalstaat.

Ja, man muss den Flücht­lin­gen hel­fen. Nicht nur den Flücht­lin­gen, allen Men­schen, die durch Krieg ihre Hei­mat ver­lo­ren haben und von reli­giö­sen Fana­ti­kern bedroht wer­den. Ich will jetzt nicht im Detail die Ver­säum­nis­se wie­der­ho­len, die ande­re aus­führ­lich beschrie­ben haben, aber es wäre sicher hilf­reich, wenn zum Bei­spiel die Leu­te in den Flücht­lings­la­gern in der Tür­kei und im Liba­non nicht hun­gern müss­ten, weil der Wes­ten und die Golf­staa­ten ver­säumt haben, der UN bereits zuge­sag­te Hilfs­gel­der zu über­wei­sen. Es wäre noch hilf­rei­cher, den­je­ni­gen, deren Leben und Gesund­heit nicht unmit­tel­bar bedroht sind, klar­zu­ma­chen, dass sie sich gar nicht erst auf den Weg machen brau­chen. Und am hilf­reichs­ten wäre es, end­lich ein Gesetz zu beschlie­ßen, dass die Fra­ge der Ein­wan­de­rung auf eine klar defi­nier­te Grund­la­ge stellt, anstatt sich vom Augen­blick mit­rei­ßen zu las­sen und aufs Bes­te zu hoffen.

Auf kei­nen Fall kann es eine Lösung sein, die eige­ne Staat­lich­keit auf­zu­ge­ben und eine Situa­ti­on zuzu­las­sen, die am Ende auch den Flücht­lin­gen (die ja gera­de des­we­gen hier­her­kom­men, weil sie Sicher­heit und Sta­bi­li­tät suchen) gefähr­lich wer­den kann. Ich habe kei­ne Patent­lö­sun­gen. Wir müs­sen vor­sich­tig sein und bei jedem Schritt prü­fen, was zu tun ist. Aber wir gehen gera­de sozu­sa­gen jeden Tag unbe­glei­tet in die Fave­la und zie­hen dabei unse­ren bes­ten Anzug an, und das durch Stra­ßen, die auf kei­ner Kar­te ver­zeich­net sind. Das ist nicht nur gefähr­lich, es ist abso­lut verantwortungslos.