Mit der nahe­lie­gends­ten Ant­wort kann ich (zum Glück) nicht die­nen: Ich muss kein Fami­li­en­trau­ma auf­ar­bei­ten, weil einer mei­ner Groß­el­tern bei der SS oder sonst wie als Täter am Holo­caust betei­ligt war. Mei­ne Vor­fah­ren sowohl väter­li­cher- als auch müt­ter­li­cher­seits waren, soweit ich das noch fest­stel­len kann, stock­kon­ser­va­ti­ve, ein­fa­che Land­leu­te, die auch in den Jah­ren des „Drit­ten Rei­ches“ hart­nä­ckig an stän­disch gepräg­ten Gesell­schafts­vor­stel­lun­gen fest­hiel­ten, die sich ent­we­der in der Ver­eh­rung des Hohen­zol­lern­hau­ses oder im Ein­ste­hen für die „Wel­fen­par­tei“ aus­drück­ten (mei­ne Mut­ter wur­de in Hin­ter­pom­mern, mein Vater in der dama­li­gen preu­ßi­schen Pro­vinz Han­no­ver gebo­ren). Leh­manns Eltern, die nicht an Hit­lers Geburts­tag eine Ker­ze ent­zün­de­ten wie der Rest des Dor­fes, son­dern am Ehren­tag Wil­helms II. – das sind mei­ne Groß­el­tern. „Es muss doch auch gro­ße Leu­te auf der Welt geben“, pfleg­te mein Pom­mern-Groß­va­ter zu sagen, „damit auch die klei­nen Leu­te Arbeit haben.“

Sol­che Ansich­ten wir­ken heu­te eini­ger­ma­ßen befremd­lich, und Wider­stands­kämp­fer sind trotz aller Reser­viert­heit den Nazis gegen­über nicht aus ihnen gewor­den, aber nie­mand von ihnen ist in die Par­tei ein­ge­tre­ten, um Kar­rie­re zu machen, nie­mand war bei der SA und hat Syn­ago­gen ange­zün­det, nie­mand hat sich frei­wil­lig zur Waf­fen-SS gemel­det oder als Toten­kopf-Sol­dat Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger bewacht. Mein Pom­mern-Groß­va­ter, der schon im Ers­ten Welt­krieg Sol­dat gewe­sen war und um den Zwei­ten gera­de so her­um­kam, soll sei­nem Sohn, als der in den Krieg muss­te, gera­ten haben, nur immer den Kopf unten und sich von den „Fana­ti­schen“ fern zu hal­ten – eine Emp­feh­lung, an die sich mein Onkel hielt, bis ihm noch kurz vor Schluss auf dem Rück­zug ein Gra­n­at­tref­fer den Arm weg­riss und zum Kriegs­in­va­li­den mach­te. Mein Nie­der­sach­sen-Groß­va­ter wur­de, bei­na­he 40-Jäh­rig, als ein­fa­cher Sol­dat zur Luft­waf­fe ein­ge­zo­gen und bewach­te die Flug­hä­fen, von denen aus Kre­ta erobert wur­de, aber wegen einer begin­nen­den Lun­gen­krank­heit konn­te er nicht mit dem Rest sei­ner Ein­heit nach Afri­ka wei­ter­zie­hen und ver­brach­te den Groß­teil sei­ner Mili­tär­zeit damit, auf der grie­chi­schen Insel und in Ita­li­en Feld­post aus­zu­tra­gen. Als der Krieg sich sei­nem Ende näher­te, geriet er unter das Kom­man­do eines klu­gen Offi­ziers, der sich sei­ne eige­nen Marsch­be­feh­le aus­stell­te und mit einer klei­nen Grup­pe von Sol­da­ten von einer Ecke der umkämpf­ten „Fes­tung Deutsch­land“ in die ande­re fuhr und Kampf­hand­lun­gen ver­mied, bis sich im April 1945 alle den Eng­län­dern ergaben.

Wenn Sie das an den bra­ven Sol­da­ten Schwe­jk erin­nert – bit­te sehr. Ich stam­me, um ehr­lich zu sein, lie­ber von Schwe­jk ab als von all­zu schnei­di­gen Rit­ter­kreuz­trä­gern und Ober­sturm­bann­füh­rern. Was das Gift noch alles ange­rich­tet hät­te, das mei­nen Eltern über die Jah­re in Schu­le, HJ und BdM ein­ge­träu­felt wur­de, kann ich nicht sagen. Im Mai 1945 waren sie bei­de 15 und haben das Ende des Krie­ges ganz sicher nicht als „Befrei­ung“ emp­fun­den, aber in jedem Fall waren sie zu jung, um sich irgend­wie schul­dig gemacht zu haben.

Mög­li­cher­wei­se erlau­ben mir die­se beson­de­ren Fami­li­en­um­stän­de sogar, mich dem The­ma unbe­fan­ge­ner zu nähern. Aber wie bin ich damit in Berüh­rung gekom­men? Eigent­lich begann alles mit mei­nem alten Freund Luis. Er ist Spa­ni­er, und irgend­wie gerie­ten wir an einem schö­nen Som­mer­abend vor etli­chen Jah­ren in ein Gespräch über die an Gewalt und Grau­sam­keit so über­aus rei­che Geschich­te unse­rer bei­den Län­der. Natür­lich kamen die Sho­ah und der Spa­ni­sche Bür­ger­krieg zur Spra­che, und da stell­te er mir dann die­se Fra­ge: Ja, die Repu­bli­ka­ner haben Non­nen abge­schlach­tet und die Land­gü­ter von Fran­co-Anhän­gern ange­zün­det. Das kann man nicht ent­schul­di­gen, aber es ist nach der jahr­hun­der­te­lan­gen Unter­drü­ckung des spa­ni­schen Vol­kes durch Kle­rus und Ober­schicht doch wenigs­tens erklär­bar. Hier hat­te sich eine unge­heu­re Men­ge an Hass ange­staut, die jeder­zeit zum Aus­bruch kom­men konn­te. Was zum Teu­fel aber brach­te einen zu einer Son­der­ein­heit abkom­man­dier­ten deut­schen Poli­zis­ten dazu, 1942 irgend­wo fern im Osten in der Ukrai­ne sein Gewehr zu erhe­ben und ohne Skru­pel unbe­waff­ne­te und wehr­lo­se Men­schen zu erschie­ßen, Grei­se, Frau­en, Kin­der dar­un­ter, die weder ihm noch sei­nen Vor­fah­ren jemals irgend­ein Leid ange­tan hat­ten? War die Nazi-Pro­pa­gan­da wirk­lich so wir­kungs­voll, dass er die­se armen, abge­ris­se­nen Schtetl-Bewoh­ner für die Speer­spit­ze der Wei­sen von Zion hal­ten muss­te, die danach trach­te­ten, dem deut­schen Volk das Blut auszusaugen?

Ich woll­te zu einer Ant­wort anset­zen, stell­te aber ver­blüfft fest, dass ich kei­ne hat­te. In der Schu­le und in Büchern, die ich gele­sen hat­te, war in die­sem Zusam­men­hang viel vom preu­ßi­schen Unter­ta­nen­geist die Rede gewe­sen, von Ador­no, Freud, Fromm, auto­ri­tä­rem Cha­rak­ter, unter­drück­ter Sexua­li­tät und nar­ziss­tisch gestör­ten Per­sön­lich­kei­ten. Und natür­lich hat­te es die Nazi-Pro­pa­gan­da gege­ben, den Völ­ki­schen Beob­ach­ter, den Stür­mer, den Rund­funk, die ideo­lo­gi­sche Schu­lung in allen mög­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen. Aber kauft man sich eine Fla­sche Zucker­brau­se, bloß weil man dau­ernd einen ent­spre­chen­den Wer­be­spot im Radio hört, und sei es auch zehn Mal am Tag? Und reicht das alles wirk­lich, um die Tötungs­hem­mung außer Kraft zu set­zen, die zum Mord an wehr­lo­sen Men­schen nun ein­mal über­wun­den wer­den muss?

Dar­über hin­aus wis­sen wir inzwi­schen von vie­len Men­schen, die allem Anschein nach deut­sche Bil­der­buch­spie­ßer waren, aber trotz­dem im ent­schei­den­den Moment auf die Stim­me ihres Gewis­sens hör­ten und sich in Gefahr brach­ten, um Ver­folg­ten zu hel­fen: der kon­ser­va­ti­ve Bau­er Hein­rich Asch­off etwa, das NSdAP-Mit­glied Wilm Hosen­feld, sogar Albert, der Bru­der Her­mann Görings. Was trieb sie an? Was trieb, um ein weni­ger dra­ma­ti­sches Bei­spiel aus mei­ner eige­nen Fami­lie zu nen­nen, mei­ne preu­ßisch-königs­treue Groß­mutter an, als sie mei­ne damals drei­zehn­jäh­ri­ge Mut­ter mit­ten in der Nacht mit dem Fahr­rad ins Nach­bar­dorf schick­te, die ukrai­ni­sche Zwangs­ar­bei­te­rin vom Nach­bar­hof auf dem Gepäck­trä­ger, die ent­ge­gen allen Vor­schrif­ten ihre dort­hin ver­schlepp­te Cou­si­ne besu­chen soll­te? Wahr­schein­lich ganz ein­fach Mit­leid im Ange­sicht des lei­den­den Mit­men­schen. Nicht mehr – nicht weniger.

Aber war­um fehl­te die­ses Mit­leid den Tätern? War­um hoben sie ihre Hand gegen ihren Bru­der, obwohl ihre christ­li­che Erzie­hung und jedes Anstands­ge­fühl ihnen sagen muss­te, dass dies ein Ver­bre­chen war? Obwohl kein jahr­hun­der­te­al­ter Hass sie dazu ver­lei­ten konn­te? Die Fra­ge ist nicht tri­vi­al. Man muss nicht zu den „Anti-Deut­schen“ gehö­ren, um zu spü­ren, dass eine naiv-begeis­ter­te Iden­ti­fi­zie­rung mit unse­rem natio­na­len Kol­lek­tiv wie in ande­ren Län­dern nicht mög­lich ist – es gibt ein Kel­ler­ge­schoss, in das man ungern hin­ab­steigt, weil dort Mil­lio­nen von Toten auf einen war­ten, auch wenn es viel­leicht nicht direkt die eige­nen Vor­fah­ren waren, die sie umge­bracht haben. Es geht also, wenn man so will, auch um eine Art Identitätsfindung.

Ich bin stol­zer Inha­ber eines Uni­ver­si­täts­ab­schlus­ses in Geschich­te, also durch­wühl­te ich jede Men­ge fach­wis­sen­schaft­li­che Auf­sät­ze und Bücher, schließ­lich die damals viel­dis­ku­tier­ten Wer­ke von Chris­to­pher Brow­ning und Dani­el Gold­ha­gen, Ganz nor­ma­le Män­ner und Hit­lers wil­li­ge Voll­stre­cker. Wäh­rend die meis­ten His­to­ri­ker und Sozio­lo­gen die Fra­ge nach den Ursa­chen des Holo­caust auf einer recht abs­trak­ten Ebe­ne behan­deln („Aus­wuchs der Moder­ne“, „kumu­la­ti­ve Radi­ka­li­sie­rung“, „Ver­wal­tungs­mord“ usw.) und damit für die Beant­wor­tung der Fra­ge mei­nes Freun­des Luis wenig Erhel­len­des bei­zu­tra­gen haben, gehen Brow­ning und Gold­ha­gen – wie auch inzwi­schen eini­ge wei­te­re His­to­ri­ker – direkt auf die Ebe­ne der Täter, in bei­den Fäl­len das Reser­ve-Poli­zei­ba­tail­lon 101 und des­sen Mord­ak­tio­nen im pol­ni­schen Gene­ral­gou­ver­ne­ment im Som­mer 1942. Wäh­rend Brow­ning Grup­pen­zwän­ge und eine Kul­tur des mili­tä­ri­schen Gehor­sams am Werk sieht und durch Her­an­zie­hung des Mil­gram-Expe­ri­ments nahe­legt, dass unter den dar­ge­stell­ten Bedin­gun­gen so gut wie jeder zum Mör­der wer­den könn­te, meint Gold­ha­gen einen „eli­mi­na­to­ri­schen Anti­se­mi­tis­mus“ zu erken­nen, der seit dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert das Den­ken fast der gesam­ten deut­schen Bevöl­ke­rung beherrscht habe und nun im Rah­men der Sho­ah in die Tat umge­setzt wor­den sei.

Hier ist nicht der Ort, um den His­to­ri­ker­streit der spä­ten 1990er nach­zu­zeich­nen, der sich im Anschluss an die Ver­öf­fent­li­chung von Gold­ha­gens Buch ent­spann. Sagen wir ein­fach, dass mich weder die eine noch die ande­re Posi­ti­on völ­lig über­zeu­gen konn­te. Natür­lich, Grup­pen­zwän­ge und in der mili­tä­ri­schen Aus­bil­dung ein­ge­üb­ter Gehor­sam müs­sen eine Rol­le gespielt haben, das weiß jeder, der selbst bei den Sol­da­ten war, und sei es nur die Mischung aus Pfad­fin­der­la­ger und Irren­haus, die ich selbst Mit­te der 1980er bei der Bun­des­wehr ken­nen­ler­nen durf­te. Und an Juden­feind­schaft herrsch­te in Deutsch­land his­to­risch gese­hen nun wahr­lich kein Man­gel, vom Bau­ern, der dem jüdi­schen Vieh­händ­ler sei­nen Geschäfts­sinn nei­de­te, über den Pfar­rer, der den Juden ihren „fei­gen Mord“ an Jesus Chris­tus nicht ver­ge­ben konn­te, bis hin zum Medi­zi­ner, der ras­sen­bio­lo­gi­schen Phan­tas­te­rei­en anhing. Aber reicht das schon? Die meis­ten Poli­zis­ten mor­de­ten selbst dann, wenn ihre Vor­ge­setz­ten ihnen die Teil­nah­me an den Erschie­ßun­gen frei­ge­stellt hat­ten. Das scheint gegen Brow­ning und für Gold­ha­gen zu spre­chen. Aber ver­birgt sich hin­ter jeder Ableh­nung von Min­der­hei­ten auch gleich der unbe­ding­te Wunsch, deren Ange­hö­ri­ge aus­zu­rot­ten? Wie hät­te ein der­art tief­sit­zen­der Hass sich nicht längst Bahn gebro­chen oder wenigs­tens im All­tags­le­ben durch Juden­po­gro­me schon in den Jahr­zehn­ten zuvor geäu­ßert, gera­de in der Kri­sen­zeit der Wei­ma­rer Republik?

Irgend­et­was fehl­te, ich wuss­te nur nicht was. Ich wuss­te aber, dass ich die Fra­ge nicht auf dem Weg einer his­to­ri­schen Stu­die beant­wor­ten konn­te. Die Geschichts­wis­sen­schaft tut sich – aus gutem Grund – schwer mit der Ana­ly­se von psy­cho­lo­gi­schen Tat­be­stän­den in der Ver­gan­gen­heit, schließ­lich kann man Ver­stor­be­ne nicht auf die Couch legen, um ihre unbe­wuss­ten Regun­gen zu erfor­schen. Aber ohne irgend­ei­ne Art von Ein­blick in den Geist der Men­schen, die da am Werk waren, kommt man in die­sem Fall über All­ge­mein­plät­ze und Abs­trak­tio­nen nicht hin­aus. Einen sol­chen Ein­blick kann viel­leicht eine fik­ti­ve Erzäh­lung bieten.

Ich leb­te damals in Mün­chen und war mit einem Film­pro­jekt beschäf­tigt, bei dem es um ver­schwö­re­ri­sche Dun­kel­män­ner im Ter­ro­ris­mus- und Geheim­dienst­mi­lieu der 1980er geht. Aus heu­ti­ger Sicht, ich muss es mal zuge­ben, ein ziem­li­cher Schmar­ren, aber im Ver­lauf der Recher­che woll­te ich die Glaub­wür­dig­keit einer Quel­le über­prü­fen und stieß dabei zufäl­lig auf einen Mord, der im Früh­jahr 1948 in Mün­chen gesche­hen war, aber nie auf­ge­klärt wur­de: Eine stark ver­stüm­mel­te Frau­en­lei­che in einem Bag­ger­see neben der Auto­bahn. Ver­däch­ti­ge aus den Krei­sen der Dis­pla­ced Per­sons, jüdi­scher Über­le­ben­der der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, die damals zu zehn­tau­sen­den in Süd­bay­ern leb­ten. Ein Poli­zei­korps, das sich zu wesent­li­chen Tei­len aus „Alten Kame­ra­den“ zusam­men­setz­te. Die wil­de Gesetz­lo­sig­keit der Trüm­mer­zeit, gleich­zei­tig inmit­ten der Rui­nen die ers­ten zar­ten Regun­gen der klein­bür­ger­li­chen Spie­ß­er­welt West­deutsch­lands, die über all die­se Fra­gen für die nächs­ten Jahr­zehn­te einen dich­ten Man­tel des Schwei­gens legen würde.

Das war die Geburts­stun­de von Fritz Leh­mann und „Wolfs­stadt“.

 

 

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Die Shoah in der Ukraine
München, Frühjahr 1948