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Kategorie: Tage und Zeichen

Tage und Zeichen (3)

Am letz­ten Wochen­en­de nach län­ge­rer Zeit mal wie­der ein paar Stun­den auf der Auto­bahn ver­bracht. Ich glau­be nicht, dass es in den letz­ten hun­dert Jah­ren eine Zeit gege­ben hat, in der der­art häss­li­che Autos gebaut wurden.

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Eine Fra­ge, die ich mir in letz­ter Zeit häu­fi­ger stel­le: Wie kommt es eigent­lich, dass alle Welt immer so schnell eine Mei­nung hat …?

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Dazu Zen-Meis­ter Eck­hart: »Gott ist immer in uns, wir sind nur so sel­ten zu Hause.«

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Inter­es­san­tes Kon­zept des mit­tel­al­ter­li­chen ara­bi­schen His­to­ri­kers Ibn Chal­dun: Asa­bi­y­ya ist das Maß an inne­rer sozia­ler Kohä­renz und Loya­li­tät, das es einem Gemein­we­sen erlaubt, har­te Zei­ten durch­zu­ste­hen, Opfer für das gemein­sa­me Wohl­erge­hen zu brin­gen und sich gegen Fein­de durch­zu­set­zen. In Gesell­schaf­ten mit hoher Asa­bi­y­ya herrscht hohes gegen­sei­ti­ges Ver­trau­en, die Men­schen schlie­ßen sich oft zu Inter­es­sen­grup­pen zusam­men, sie sind in der Lage, auch grö­ße­re Insti­tu­tio­nen zu grün­den und auf­recht­zu­er­hal­ten, und sie sind auch eher bereit, etwas für Mit­bür­ger zu tun, die vom Glück nicht so ver­wöhnt sind. Gesell­schaf­ten mit gerin­ger Asa­bi­y­ya hin­ge­gen ken­nen kaum Soli­da­ri­tät über den Kreis der eige­nen Fami­lie hin­aus, und ihre Mit­glie­der betrach­ten alle Arten von über­grei­fen­den Orga­ni­sa­tio­nen (ob staat­lich oder nicht-staat­lich) eher als zu bekämp­fen­de Fein­de denn als gemein­sa­me »öffent­li­che Sache«. Man kann im Lau­fe der Zeit einen hohen Grad an Asa­bi­y­ya auch wie­der ver­lie­ren, wie etwa das Bei­spiel Süd­ita­li­en zeigt, das von einem Kern­ge­biet des Römi­schen Reichs (maxi­ma­le Asa­bi­y­ya) nach des­sen Zusam­men­bruch zum Schwar­zen Loch wur­de, in dem seit Jahr­hun­der­ten jede Art von über­fa­mi­liä­rer Soli­da­ri­tät spur­los ver­schwin­det. Das Ergeb­nis: eine Fremd­herr­schaft nach der ande­ren, die Schat­ten­welt der kri­mi­nel­len Fami­li­en­clans, ein hohes Maß an inner­ge­sell­schaft­li­cher Gewalt, eine All­tags­kul­tur des Trick­sens und Täuschens.

Wo ste­hen wir in die­ser Hin­sicht? Der rus­sisch-ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ker Peter Tur­chin, dem ich die­se Ein­sich­ten ver­dan­ke, bil­ligt den Deut­schen in sei­nem Buch War and Peace and War eine tra­di­tio­nell sehr hohe Asa­bi­y­ya zu, und noch vor eini­gen Jah­ren hät­te ich den Gedan­ken, das Mut­ter­land des Ver­eins­we­sens und der frei­wil­li­gen Feu­er­wehr wür­de irgend­wann in Rich­tung Sizi­li­en umkip­pen, als absurd abge­tan. Mitt­ler­wei­le bin ich mir da nicht mehr so sicher.

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Tage und Zeichen (2)

Ein paar Stun­den im Netz und man hat den Ein­druck, drau­ßen wür­den para­mi­li­tä­ri­sche Kampf­for­ma­tio­nen in Braun­hem­den durch die Stra­ßen mar­schie­ren und die Macht­über­nah­me des rech­ten Mobs wäre nur noch eine Fra­ge von Tagen. Sie­ben Jahr­zehn­te Faschis­mus­for­schung sind offen­bar ohne jeden Wert und umstands­los der absur­den Annah­me gewi­chen, allein ver­ant­wort­lich für Hit­ler und Ausch­witz wäre ein amorph wabern­der, von kon­kre­ten his­to­ri­schen und psy­cho­lo­gi­schen Bedin­gun­gen los­ge­lös­ter »Hass«, der nun zurück­ge­kehrt ist und sich wie ein Nebel des Bösen auf »Dun­kel­deutsch­land« gelegt hat. Wozu Geschich­te stu­die­ren, wenn im Ernst­fall doch nur wie­der der­sel­be alte Manichäis­mus wie eh und je von den Men­schen Besitz ergreift?

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Neil Young wird mir wie­der sym­pa­thisch. 1989 sagt er in einem Interview:

I don’t have a view, I have an opi­ni­on that chan­ges becau­se ever­y­day is a dif­fe­rent day. I’m not a libe­ral or a con­ser­va­ti­ve. I’m not like that. With Rea­gan, some things he did were ter­ri­ble, some things he did were gre­at. Most peop­le tend to take a pre­si­dent and say you hate… he does one thing you real­ly don’t like. Like he builds exces­si­ve amounts of war­heads or some­thing. So you wri­te him off com­ple­te­ly. Which I think is com­ple­te­ly stu­pid. And I think, is very nar­row min­ded. (http://www.thrasherswheat.org/ptma/reagan.htm)

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Gera­de haben die Kir­chen­glo­cken geläu­tet. Um die­se Zeit, kurz vor dem Mit­tag, zei­gen sie immer an, dass jemand gestor­ben ist. Sie haben für mei­ne Eltern geläu­tet, mei­ne Groß­el­tern – ver­mut­lich für alle mei­ne Vor­fah­ren hier im Ort, die ich bis 1535 zurück­ver­fol­gen kann. Es ist ein etwas mul­mi­ges Gefühl zu wis­sen, dass man als Nächs­tes selbst an die Rei­he kom­men wird, aber wie sag­te Samu­el John­son? »When a man knows he is to be hanged…it con­cen­tra­tes his mind wonderfully.«

Tage und Zeichen (1)

Eines der Kin­der berich­tet aus der Schu­le: Eini­ge Mus­li­me im »Wer­te und Normen«-Unterricht sagen, dass sie nicht an die Evo­lu­ti­ons­theo­rie »glau­ben«. Die Welt habe nun mal Allah geschaf­fen. Die Leh­re­rin ver­passt die Gele­gen­heit, einen klei­nen Exkurs über die Mög­lich­keit von Erkennt­nis über­haupt, die Rol­le von Daten und Hypo­the­sen sowie Pop­pers Fal­si­fi­zier­bar­keits­prin­zip zu star­ten. Statt­des­sen nickt sie nur freund­lich und schweigt. In der nächs­ten Stun­de ver­tritt eine Mit­schü­le­rin die Mei­nung, dass auch Pflan­zen Men­schen­rech­te hät­ten. Sie wol­le sich aber nicht dafür ein­set­zen, denn das habe ja ohne­hin alles kei­nen Sinn. Wie­der nickt die Leh­re­rin freund­lich, geht aber nicht auf die Aus­sa­ge ein. Wenn jemand einen län­ge­ren Text vor­trägt, ani­miert sie die Klas­se, Bei­fall zu klat­schen. Egal, was gesagt wurde.

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Flash­back: Irgend­wann 1985 oder 1986 in Frank­reich. Ich ste­he mit ein paar ande­ren Tram­pern an der Aus­fahrt einer Auto­bahn-Rast­stät­te. Da nie­mand anhält, kom­me ich mit einem der ande­ren ins Gespräch; wie sich her­aus­stellt, stammt er aus einer Fami­lie von Exil-Rus­sen. Ich erzäh­le ihm von mei­ner Erwar­tung, dass sich die Natio­nen Euro­pas irgend­wann auf­lö­sen und in einem neu­en Gro­ßen Gan­zen auf­ge­hen wer­den. Er lacht mich aus. Irgend­wann wür­de der Kal­te Krieg auch wie­der vor­bei sein, und dann wür­den selbst­ver­ständ­lich hin­ter dem ver­schwun­de­nen ideo­lo­gi­schen Gegen­satz die alten Völ­ker wie­der ins Licht der Geschich­te tre­ten. Einen Natio­nal­cha­rak­ter kön­ne man nun mal nicht ändern. Ich schüt­te­le freund­lich lächelnd mei­nen Kopf und bin mir mei­ner Sache sehr sicher. Er schüt­telt sei­nen genau­so freund­lich lächelnd.

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Wir kau­fen viel im Inter­net ein, von daher ken­nen uns die ein­schlä­gi­gen Lie­fer­diens­te mitt­ler­wei­le ganz gut. Bei dem, der nach einem grie­chi­schen Gott benannt ist, kam immer eine net­te Dame mitt­le­ren Alters aus der nächs­ten Klein­stadt, die sich anfangs nicht auf den Hof trau­te, weil sie Angst vor unse­rem Hund hat­te. Irgend­wann begriff sie dann aber, dass sie nur ein paar Lecker­li ein­ste­cken brauch­te, um die gefähr­lich knur­ren­de Bes­tie in einen freu­dig schwanz­we­deln­den Freund zu ver­wan­deln. Aus irgend­ei­nem Grund hat sie den Job vor eini­ger Zeit auf­ge­ge­ben, seit­dem kommt ein Mann, der nur ein paar Bro­cken Eng­lisch und noch weni­ger Deutsch rade­bre­chen kann und sicher nicht aus der nächs­ten Klein­stadt stammt. Die Rege­lung, Pake­te bei Nicht­an­we­sen­heit in die Gara­ge zu stel­len, haben wir mit Hän­den und Füßen aus­ge­han­delt. Den Hund mag er nicht und geht ihm wo weit wie mög­lich aus dem Weg. Ich ertap­pe mich bei der Fra­ge, wie er das mit der Gara­ge wohl mit mei­nen Eltern hin­ge­kriegt hätte.

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Kon­rad Lorenz: »Das feh­len­de Glied zwi­schen Mensch und Affe sind wir selbst.«

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