Eine Zeit zwi­schen den Zei­ten. Die Topo­gra­fie der Vor­kriegs­jah­re ist ver­schwun­den, eine neue gibt es noch nicht. Längst sind nicht alle Kriegs­trüm­mer bei­sei­te geräumt, noch ist die baye­ri­sche Haupt­stadt wie das gan­ze Land vol­ler Flücht­lin­ge und Ent­wur­zel­ter, noch hun­gern die Men­schen, noch blüht der Schwarz­markt und noch hof­fen vie­le dar­auf, dass aus den vier Besat­zungs­zo­nen ein neu­es, geein­tes Deutsch­land ent­ste­hen wird. Aber uner­müd­lich fah­ren die Trüm­mer­bah­nen, im Nor­den und Süden der Stadt türmt sich der Schutt der zer­stör­ten Häu­ser zu neu­en Hügeln und Höhen, die in der wei­ten Schot­ter­ebe­ne ihres­glei­chen suchen, und es erhe­ben sich ers­te Stim­men, die einen Wie­der­auf­bau von „Isar-Athen” planen.

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By Kame­ra­mann des Spe­cial Film Pro­ject 186 der United Sta­tes Army Air For­ces (USAAF) [Public domain], via Wiki­me­dia Commons

Zwei Her­ren hat die Stadt: die US Army und den Hun­ger. Die Monats­ra­ti­on eines Erwach­se­nen ohne Son­der­zu­la­gen im April 1948 beträgt 8000 g Brot, 1350 g Nähr­mit­tel, 425 g Fleisch, 265 g Fett, 62,5 g Käse, 1 1/3 l Mager­milch, 1500 g Zucker, 9000 g Kar­tof­feln, 125 g Kaf­fee-Ersatz. Die Monats­ra­ti­on, wohl­ge­merkt. Die gut genähr­ten ame­ri­ka­ni­schen Besat­zer wir­ken in die­ser Mena­ge­rie des Man­gels wie Abge­sand­te des Pla­ne­ten Schla­raf­fia, die kau­gum­mikau­end und Lucky Strike rau­chend von der Über­le­gen­heit des west­li­chen Wer­te­sys­tems kün­den. Die Mili­tär­re­gie­rung hat oben in Gie­sing, an der Tegern­seer Land­stra­ße ihren Sitz, und noch ste­hen theo­re­tisch alle Insti­tu­tio­nen unter ihrer Kon­trol­le, die die Deut­schen in den letz­ten drei Jah­ren auf­ge­baut haben: Poli­zei, Jus­tiz, Ver­wal­tung, die Pres­se. In prak­ti­scher Hin­sicht kön­nen die Ame­ri­ka­ner nicht über­all zugleich sein, und die direk­te Auf­sicht wird schon seit 1946 nicht mehr aus­ge­übt. Aber über­all gibt es noch die Liai­son and Secu­ri­ty Offices, bei denen die Besat­zer den Besetz­ten auf die Fin­ger sehen.

Die von den Alli­ier­ten ange­streb­te Ent­na­zi­fi­zie­rung hat sich mehr oder weni­ger als Far­ce ent­puppt, selbst ein­ge­fleisch­te Nazis wur­den als „Mit­läu­fer“ ein­ge­stuft und sind der Straf­ver­fol­gung ent­gan­gen. In Nürn­berg lau­fen immer noch die Pro­zes­se gegen die Haupt­kriegs­schul­di­gen, gera­de geht der gegen Krupp zu Ende, aber im all­ge­mei­nen Bewusst­sein sind die Ver­bre­chen der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit bereits weit­ge­hend ver­drängt wor­den. Dafür dro­hen ange­sichts der Strei­tig­kei­ten zwi­schen West­mäch­ten und UdSSR um Ber­lin und der ame­ri­ka­ni­schen Atom­tests im Süd­pa­zi­fik bereits die Gespens­ter des Kal­ten Krie­ges. Im Juni wird die Sowjet­uni­on die Zugangs­we­ge nach Ber­lin blo­ckie­ren und für eine ers­te Eska­la­ti­on sorgen.

Muenchen_Siegestor_1945

By US Army Signal Corps (Libera­ry of Con­gress, Washing­ton, D.C.) [Public domain], via Wiki­me­dia Commons

Die Men­schen bevöl­kern die Trüm­mer­land­schaft wie ver­irr­te Phan­to­me. Noch vor ein paar Jah­ren haben sie davon geträumt, Gau­lei­ter von Inger­mann­land oder „Wehr­bau­ern“ in der Ukrai­ne zu wer­den, jetzt het­zen sie in schä­bi­gen Anzü­gen durch die Rui­nen, um auf dem Schwarz­markt ihr Fami­li­en­sil­ber und Groß­va­ters Stand­uhr zu ver­scher­beln. Neue Wör­ter wie „Koh­len­klau­ben“ und „Orga­ni­sie­ren“ berei­chern den deut­schen Wort­schatz. Selbst die CDU for­dert im Ahle­ner Pro­gramm eine teil­wei­se Ver­ge­sell­schaf­tung der Groß­in­dus­trie, und man soll­te mei­nen, dass wenigs­tens für ein paar Jah­re jede Art von Natio­nal­stolz zur uner­träg­li­chen Obs­zö­ni­tät wür­de, aber schon tau­chen auf Demons­tra­tio­nen Schil­der auf, die ankla­gend rufen: „Wir sind kein Kolonialvolk!“

Gleich dane­ben for­dern ande­re Demons­tran­ten die „Todes­stra­fe für Groß­schie­ber und Schwarz­händ­ler!“ – eine unge­heu­er­li­che Pro­vo­ka­ti­on, denn vie­le der Händ­ler sind jüdi­sche Dis­pla­ced Per­sons, die man in der Bogen­hau­ser Möhl­stra­ße fin­det, wo sich Deutsch­lands größ­ter und wich­tigs­ter Schwarz­markt aus­brei­tet. Die Bret­ter­bu­den­stadt hat sich um das Ame­ri­can Jewish Joint Dis­tri­bu­ti­on Com­mit­tee her­um gebil­det, das in Himm­lers ehe­ma­li­ger Dienst­vil­la die Ver­tei­lung von pri­va­ten ame­ri­ka­ni­schen Hilfs­spen­den an die Über­le­ben­den des NS-Ter­rors orga­ni­siert. Fast 100.000 davon sind in den Süden der ame­ri­ka­ni­schen Besat­zungs­zo­nen gekom­men, sie haben Ghet­tos, Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und die erneu­te Ver­fol­gung nach dem Krieg über­lebt, und jetzt war­ten sie dar­auf, dass sie end­lich das Land der Täter ver­las­sen kön­nen, um nach Kana­da, in die USA oder nach Paläs­ti­na aus­zu­wan­dern, wo in die­sen Tagen der Staat Isra­el gegrün­det wird. Die Dis­pla­ced Per­sons oder kurz „DPs“ ste­hen unter ame­ri­ka­ni­scher Gerichts­bar­keit und sche­ren sich natur­ge­mäß wenig um deut­sche Vor­schrif­ten, ihre Essen­mar­ken rei­chen für 2000 Kalo­rien statt der 1200 für „Otto Nor­mal­ver­brau­cher“, der gera­de von Gert Frö­be in dem Spiel­film „Ber­li­ner Bal­la­de“ ver­kör­pert wur­de, und statt Reue ange­sichts der eige­nen Ver­bre­chen reagie­ren die Deut­schen mit Neid und Tötungs­phan­ta­sien. In den Zei­tun­gen spricht man abfäl­lig vom „Möhl­stra­ßen-Ring“, von der „Bazar­stadt“.

Schwarzmarkt, Jugendliche handeln mit Zigaretten

Bun­des­ar­chiv, Bild 183-R79014 / CC-BY-SA [CC-BY-SA‑3.0‑de], via Wiki­me­dia Commons

Feu­er­waf­fen sind weit ver­brei­tet in der Stadt, und die Mord­ra­te ist hoch. Stän­dig gibt es Schuss­wech­sel zwi­schen ver­fein­de­ten Ban­den, auch ukrai­ni­sche oder bal­ti­sche DPs haben sich orga­ni­siert, und jedes Jahr hat die deut­sche Poli­zei, die ihre Auto­ri­tät nur sehr lang­sam wie­der durch­set­zen kann, meh­re­re Toten unter ihren Beam­ten zu bekla­gen. Natür­lich herrscht auch an ein­hei­mi­schen Kri­mi­nel­len kein Man­gel: Trick­be­trü­ger, Schwind­ler und Hoch­stap­ler machen sich die all­ge­mei­ne Unsi­cher­heit zunut­ze und zie­hen von Tür zu Tür auf der Suche nach Opfern. Die Zahl der Rausch­süch­ti­gen ist im Ver­gleich zur Vor­kriegs­zeit um das Fünf­fa­che gestie­gen, der Schwarz­markt bie­tet Mor­phi­um und Auf­putsch­mit­tel in jeder gewünsch­ten Menge.

Vie­le Frau­en und jun­ge Mäd­chen ver­din­gen sich auf dem Stra­ßen­strich zwi­schen Sta­chus und Haupt­bahn­hof oder suchen sich einen ame­ri­ka­ni­schen Freund. Die GIs nen­nen sie „Vero­ni­ka Dan­ke­schöns“, weil das die­sel­be Abkür­zung ergibt wie Vene­real Dise­a­se. Sie sind erstaunt, dass sie hier „nor­ma­le“ Frau­en ken­nen­ler­nen kön­nen, denn aus den ver­bün­de­ten Län­dern Frank­reich und Groß­bri­tan­ni­en ken­nen sie nur den Umgang mit Pro­sti­tu­ier­ten. Das anfäng­lich auf­ge­stell­te Fra­ter­ni­sie­rungs­ver­bot wur­de schon 1947 auf­ge­ho­ben, aber es hat sich ohne­hin kaum jemand dar­um geschert.

Die Res­te des alten Bil­dungs­bür­ger­tums ver­su­chen, so gut es geht, den Kul­tur­be­trieb wie­der in Gang zu bekom­men. Im Prinz­re­gen­ten­thea­ter wer­den wie­der Opern gespielt, in den Kam­mer­spie­len Thea­ter­stü­cke, auch in der Staats­ope­ret­te, im Volks­thea­ter und bei den Phil­har­mo­ni­kern regt sich neu­es Leben, Leo­nard Bern­stein diri­giert das Baye­ri­sche Staats­or­ches­ter. Ande­rer­seits müs­sen ver­schie­de­ne Thea­ter wegen Unter­ernäh­rung der Schau­spie­ler schlie­ßen, und die berühm­te US-Schau­spie­le­rin Doro­thy Lamour schickt zusam­men mit ein paar Kol­le­gen aus Mit­leid Lebens­mit­tel­pa­ke­te nach Mün­chen. „Des Teu­fels Gene­ral“ wird oft gespielt in die­ser Zeit, vie­le Men­schen möch­ten wohl wie jener Gene­ral Harras gewe­sen sein, der sich vom „Teu­fel Hit­ler“ nicht den Schneid abkau­fen lässt, aber man­che mur­ren auch, wenn auf der Büh­ne unbe­que­me Wahr­hei­ten aus­ge­spro­chen wer­den: „Es gibt kei­ne Unter­jo­chung, die nicht Befrei­ung wäre – für unser Volk.“

München, Verkauf von Zitronen

Bun­des­ar­chiv, Bild 183-V02734‑3 / Kreit­mey­er / CC-BY-SA [CC-BY-SA‑3.0‑de], via Wiki­me­dia Commons

Gemur­re gibt es eben­so von Sei­ten der baye­ri­schen Kon­ser­va­ti­ven, die sich weder mit der Anwe­sen­heit der DPs noch mit der Aus­sicht abfin­den wol­len, auf Jah­re hin­aus hun­dert­tau­sen­de deut­sche Flücht­lin­ge aus den ver­lo­re­nen Ost­ge­bie­ten im Land dul­den zu müs­sen. Im März wird die Bay­ern­par­tei gegrün­det, die eine Eigen­staat­lich­keit Bay­erns und die „Ent­preu­ßi­fi­zie­rung“ der Ver­wal­tung for­dert. Bei der ers­ten Bun­des­tags­wahl im nächs­ten Jahr wird die Par­tei 20 Pro­zent der baye­ri­schen Stim­men errin­gen, wozu auch bei­trägt, dass das süd­lichs­te Bun­des­land nach Beginn der Ber­lin-Blo­cka­de einen Groß­teil der Fleisch­ver­sor­gung der ehe­ma­li­gen Haupt­stadt leis­ten muss.

Über­all herrscht Auf­ruhr. Stän­dig wird gestreikt, die Stu­den­ten ver­an­stal­ten Hun­ger­mär­sche, Gewerk­schaf­ten und poli­ti­sche Par­tei­en hal­ten Demons­tra­tio­nen und Kund­ge­bun­gen ab. Wohin wird das Land trei­ben? Ein ver­ein­tes Deutsch­land ist in wei­te Fer­ne gerückt. Auf der vor kur­zem in Lon­don abge­hal­te­nen Sechs­mäch­te­kon­fe­renz sind die Wei­chen für einen in Gren­zen sou­ve­rä­nen west­deut­schen Teil­staat gestellt wor­den, seit dem ver­gan­ge­nen Herbst läuft die Mar­shall­plan­hil­fe, und unter strengs­ter Geheim­hal­tung wird gera­de die Wäh­rungs­re­form für die West­zo­nen vor­be­rei­tet. Bald schon wird der Ver­fas­sungs­kon­vent in Schloss Her­ren­chiem­see tagen. Bei BMW baut man Kar­tof­fel­an­bau­ge­rä­te statt Autos, aber inmit­ten der Tris­tesse wach­sen ers­te zar­te Pflänz­chen des Wie­der­auf­baus: PanAm rich­tet einen ers­ten Lini­en­flug­halt in Mün­chen ein, Bier darf zwar nicht für den Inlands­ver­brauch gebraut wer­den, wird aber bereits wie­der in die Schweiz expor­tiert, die Läden hor­ten Waren, weil trotz aller Dis­kre­ti­on doch Gerüch­te über die Ein­füh­rung des neu­en Gel­des im Umlauf sind.

Nur noch ein klei­ner Schritt, und der Weg in das Gro­ße Ver­ges­sen der Wirt­schafts­wun­der­jah­re wird beginnen.

Da fin­den Anwoh­ner in einem Bag­ger­see am Ran­de der Auto­bahn nach Stutt­gart die grau­sam ver­stüm­mel­te Lei­che einer jun­gen Frau, und Wolfs­stadt beginnt.

 

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Die Shoah in der Ukraine
Wie kommt man denn auf so etwas?