Das Schö­ne an der Zeit vor dem Inter­net war, dass man noch von Weg abkom­men konn­te. Neh­men wir bei­spiels­wei­se Pfings­ten 1987 – ich hat­te aus irgend­ei­nem Grund, der mir ent­fal­len ist, in Mün­chen ein Phy­sik­stu­di­um auf­ge­nom­men, und muss­te nun eine grö­ße­re Zahl von Ver­suchs­pro­to­kol­len aus­ar­bei­ten, um für die zuge­hö­ri­ge  Lehr­ver­an­stal­tung einen Schein zu bekom­men. Ich glau­be, bereits vor­han­de­ne Pro­to­kol­le aus den vor­an­ge­gan­ge­nen Semes­tern spiel­ten dabei eine nicht uner­heb­li­che Rol­le (schum­meln konn­te man auch ohne Goog­le), aber dar­auf woll­te ich jetzt eigent­lich nicht hinaus.

Ent­schei­dend ist, dass ich für ein paar Tage nach Ita­li­en her­un­ter­tramp­te, um die läs­ti­ge Auf­ga­be wenigs­tens in ange­neh­mer Umge­bung hin­ter mich zu brin­gen. Dabei spiel­te auch eine gewis­se Kath­rin eine Rol­le – ich glau­be, sie stu­dier­te Son­der­päd­ago­gik –, die mit einer Freun­din gera­de süd­lich der Alpen unter­wegs war und über die Fei­er­ta­ge eine Jugend­her­ber­ge süd­lich von La Spe­zia ansteu­ern woll­te. Ich rech­ne­te mir einen gewis­sen Über­rum­pe­lungs­ef­fekt aus, wenn ich nun unan­ge­kün­digt in die­ser Jugend­her­ber­ge auf­tau­chen wür­de, um mei­ne Chan­cen bei der jun­gen Dame zu erhö­hen, und ach­te­te beim Tram­pen dar­auf, dass die Mit­fahr­ge­le­gen­hei­ten in die rich­ti­ge Rich­tung gingen.

Lei­der hat­te ich ver­ges­sen, wie der Ort genau hieß, in dem sich das Ziel­ob­jekt befand. Heu­te wäre das natür­lich kein Pro­blem – man geht auf die Web­site des inter­na­tio­na­len Jugend­her­bergs­ver­bands und guckt kurz nach. Oder man steu­ert La Spe­zia in der Kar­ten-App an und schaut, ob man süd­lich davon einen ent­spre­chen­den Ort fin­det. (Es han­del­te sich übri­gens um Mari­na di Mas­sa.) Aber 1987? Hät­te ich viel­leicht extra zu Hugen­du­bel fah­ren sol­len, um im Regal mit den Rei­se­füh­rern die Adres­se zu fin­den? Teu­res Geld für eine Kar­te aus­ge­ben? Ach was, ein­fach mal drauf­los, in La Spe­zia wis­sen sie schon Bescheid …

Wuss­ten sie lei­der nicht. Die Dame im dor­ti­gen Tou­ris­mus-Büro offen­bar­te beim The­ma »ostel­li del­la gio­ven­tù« eine boden­los tie­fe Wis­sens­lü­cke und konn­te sich nur düs­ter erin­nern, irgend­wann mal etwas von einer ent­spre­chen­den Ein­rich­tung in Leri­ci gehört zu haben, einem alten Fischer­nest am Süd­ende des Gol­fes von La Spe­zia, dort soll­te ich mich doch am bes­ten selbst umschau­en. Immer­hin konn­te sie mir sagen, wel­che Bus­li­nie ich dafür neh­men muss­te, also mach­te ich mich auf den Weg.

Und dann – na ja, mei­ne ers­ten Ein­drü­cke habe ich spä­ter so beschrieben:

Gott, er lieb­te das…! Der Bus don­ner­te im Kami­ka­ze-Tem­po die engen Ser­pen­ti­nen zum Meer hin­un­ter, und wenn man dabei die Ori­en­tie­rung behielt, konn­te man die­ses unglaub­li­che Blau zwi­schen den Bäu­men hin­durch­schim­mern sehen: Tür­kis, Him­mels­far­ben, Aqua­ma­rin, tie­fes Dun­kel wie Samt, ver­mischt mit dem Umbra der Fel­sen und dem Ocker der Sand­bän­ke, unter­bro­chen vom schat­ti­gen Grün der Zypres­sen und Pini­en, oran­ge­nen, gel­ben und roten Fle­cken; Mau­er­stü­cke, Zie­gel. Ein rich­ti­ges Postkartenglück.

Das Städt­chen hieß Leri­ci und lag recht male­risch um eine klei­ne Bucht am Süd­ende der ita­lie­ni­schen Rivie­ra her­um ver­teilt. Einer von die­sen bei­den eng­li­schen Hel­den der Roman­tik, war es Byron oder Shel­ley, soll­te hier vor Urzei­ten beim Baden im Meer ertrun­ken sein, also war es nicht beson­ders über­ra­schend, dass jedes zwei­te Hotel Shel­ley, Pal­ma di Byron oder Byron di Shel­ley hieß, ganz abge­se­hen von den Mas­sen ält­li­cher Eng­län­de­rin­nen, die anschei­nend einen guten Teil ihrer Bil­dungs­rei­se durch das Land, wo die Zitro­nen blüh­ten, damit ver­brach­ten, hier die Ufer­pro­me­na­de auf- und abzu­lau­fen. Wahr­schein­lich hoff­ten sie dar­auf, auf mys­ti­sche Wei­se einen Hauch der See­le des ver­stor­be­nen Dich­ters auf­zu­schnap­pen; die­se aber schweb­te gelang­weilt über den Was­sern und igno­rier­te sie.

Die Sze­ne­rie war so, wie man sich’s wünsch­te. An den bei­den Ecken der Bucht stan­den ein paar burg­ar­ti­ge Über­res­te von alten, genue­si­schen Fes­tungs­an­la­gen, im Hafen schau­kel­ten fried­lich diver­se Yach­ten und Segel­boo­te vor sich hin, die Häu­ser hat­ten alle so einen leicht ange­gilb­ten, süd­li­chen Charme, gleich dahin­ter stie­gen die dicht­be­wach­se­nen Fel­sen auf – und über­haupt, wenn er je im Leben von Ita­li­en geträumt hat­te, muss­te das genau­so aus­ge­se­hen haben wie Lerici.

Mit ande­ren Wor­ten: Es war Lie­be auf den ers­ten Blick. Wie ich spä­ter her­aus­fand, hat­te die Jugend­her­ber­ge in der alten Burg bereits Ende der 1960er zuge­macht, jetzt befand sich ein Muse­um für Palä­on­to­lo­gie in dem Gemäu­er. Aber das war mir egal. Ich such­te mir ein Hotel­zim­mer, das ich mir gera­de noch so leis­ten konn­te, und schweb­te durch die Gas­sen wie von Elfen ver­zau­bert. Die­se Far­ben! Die­ser Duft! Die­se Men­schen! Sogar Kath­rin ver­gaß ich umge­hend und lern­te dafür Gian­na ken­nen, mit der ich ein paar­mal die Mole auf- und ablief, immer zwi­schen dem Blick auf das wei­te Meer und dem in ihre reh­brau­nen Augen hin und her­pen­delnd. Lei­der beherrsch­te ich die Lan­des­spra­che nicht und sie nur die­se, sodass wir nur non­ver­bal kom­mu­ni­zie­ren konn­ten. Aber wird Spra­che nicht ohne­hin überbewertet …?

Leri­ci in den frü­hen 1960ern

Wie man sich den­ken kann, war ich spä­ter noch öfter in dem klei­nen Städt­chen, das außer bei eng­li­schen Shel­ley-Fans nie den Sta­tus des Geheim­tipps ver­lo­ren hat. Die typi­schen deut­schen Tou­ris­ten wan­dern lie­ber auf der ande­ren Sei­te des »Gol­fo dei Poei­ti« in den Cin­que Terre, weil man sich da so hübsch an der uri­gen Armut der Oli­ven­bau­ern wei­den kann, und wer ligu­ri­sche Fischer­dorfro­man­tik pur will, fährt eben nach Portofino.

Ich nicht. Im Lau­fe der Jah­re erfuhr ich, dass die bewuss­te Jugend­her­ber­ge eigent­lich ein Künst­ler­treff gewe­sen war, in dem sich in den 1950ern Heming­way und ande­re Grö­ßen die Klin­ke in die Hand gege­ben hat­ten. Die Kas­tel­lanin und Her­bergs­mut­ter Mad­da­le­na Di Car­lo, eine etwas exzen­tri­sche alte Dame, war bekannt dafür, nachts die Kat­zen von Leri­ci mit den Spa­get­ti­res­ten des Abend­essens zu füt­tern, ihr Zim­mer war ein Sam­mel­su­ri­um von Kunst­wer­ken und Kit­sch­ob­jek­ten, die ihr Gäs­te aus aller Welt geschickt hat­ten, sie stieg sogar gele­gent­lich auf den Berg­fried und bete­te zu den Wind­göt­tern. Alle Welt nann­te sie »Regi­na dei vag­abo­ni«, die Köni­gin der Vaga­bun­den. Viel­leicht kann­te sie Rudolf Jacobs, einen aus Bre­men stam­men­den Archi­tek­ten, der im 2. Welt­krieg als Offi­zier für die Fes­tungs­bau­ten im Golf von La Spe­zia zustän­dig war und in Leri­ci wohn­te. Als er die Gräu­el­ta­ten von SS und Mus­so­li­nis Schwarz­hem­den nicht mehr ertrug, lief er zu den ita­lie­ni­schen Par­ti­sa­nen über und kam bei einer Akti­on im nahen Sarzana ums Leben. Noch heu­te ver­eh­ren ihn die Ita­lie­ner als Helden.

Ansons­ten gibt es gar nicht so viel berich­ten aus die­ser Ecke der Welt. Der Hafen war vor lan­ger Zeit im Mit­tel­al­ter von einer gewis­sen Bedeu­tung, weil sich hier die Genue­sen mit den Pisanern strit­ten und die hin­ter den Ber­gen lie­gen­de Luni­gia­na einen Zugang zum Meer brauch­te. Dan­te hat die Burg mal irgend­wo erwähnt, Arnold Böck­lin leb­te für kur­ze Zeit in der Gegend, genau­so D.H. Law­rence und Emma Orc­zy. In der Lite­ra­tur spielt der Ort kei­ne gro­ße Rolle.

Ich fand, es war mal Zeit, das zu ändern …