Es gibt der­zeit lei­der auf Deutsch kei­ne zusam­men­hän­gen­de Dar­stel­lung des Nazi-Völ­ker­mords auf dem Gebiet der heu­ti­gen Ukrai­ne für das all­ge­mei­ne Publi­kum. Im Bewusst­sein der Öffent­lich­keit sind vor allem die Mas­sa­ker von Babyn Jar und Kamen­ez-Podol­sk geblie­ben, die­se stel­len aber nur die Spit­ze eines enor­men Eis­bergs dar: Schät­zun­gen spre­chen von meh­re­ren Hun­dert­tau­send Juden und Roma, die damals in die­sem Gebiet ermor­det wur­den, aller­dings weni­ger in den Gas­kam­mern der wei­ter west­lich im Gene­ral­gou­ver­ne­ment gele­ge­nen Ver­nich­tungs­la­ger als viel­mehr durch Aus­hun­ge­rung und vor allem durch Erschie­ßun­gen. Aus die­sem Grund ist es wohl ange­bracht, die grö­ße­ren Ent­wick­lun­gen, vor deren Hin­ter­grund ein Teil von Wolfs­stadt spielt, kurz zu skizzieren.

Die dama­li­ge Ukrai­ni­sche Sozia­lis­ti­sche Sowjet­re­pu­blik (USSR) geriet nach Beginn des Über­falls auf die Sowjet­uni­on im Juni 1941 rela­tiv schnell unter deut­sche Besat­zung. Nach der Kes­sel­schlacht von Kiew im Sep­tem­ber waren der Wes­ten und die Mit­te des Gebiets für die SU ver­lo­ren, für den Ost­teil der USSR jen­seits von Char­kiw und Donezk war dies im Früh­jahr 1942 der Fall. Im Sep­tem­ber 1941 wur­de aus Gebie­ten, die vor­her dem Befehls­ha­ber des Rück­wär­ti­gen Hee­res­ge­biets (Berück) Süd bzw. dem Mili­tär­be­fehls­ha­ber im Gene­ral­gou­ver­ne­ment unter­stellt waren, das Reichs­kom­mis­sa­ri­at Ukrai­ne gebil­det, das bis zum Jahr 1943 bestand, als die Rote Armee die­se Gebie­te all­mäh­lich wie­der zurückeroberte.

Im Gefolge der Panzer

Kiev_Jew_Killings_in_Ivangorod_(1942)

By Unknown (Some­ti­mes mista­ken­ly attri­bu­t­ed to Jer­zy Tomas­zew­ski who dis­co­ve­r­ed it.) [Public domain or Public domain], via Wiki­me­dia Com­mons>

In die­sen bei­den Jah­ren spiel­te sich die Ermor­dung der ukrai­ni­schen Juden und Roma ab, bei der zwei Wel­len unter­schie­den wer­den kön­nen. Die ers­te Wel­le erfolg­te unmit­tel­bar im Anschluss auf die Erobe­rung durch die Wehr­macht und wur­de von den so genann­ten Ein­satz­grup­pen aus­ge­führt. Die­se Son­der­ver­bän­de bestan­den zum Groß­teil aus SS-Män­nern, aber auch aus Gesta­po-Beam­ten, Kri­mi­nal­po­li­zis­ten, SD-Leu­ten und Ange­hö­ri­gen der soge­nann­ten Ord­nungs­po­li­zei, die in ihrer „nor­ma­len“ Funk­ti­on in etwa der heu­ti­gen Schutz- und Bereit­schafts­po­li­zei ent­sprach, aller­dings wie alle Poli­zei­trup­pen des Rei­ches der SS unter­stellt war. Die­se Ein­hei­ten hat­ten zunächst die Auf­ga­be, die erober­ten Gebie­te zu sichern und für die wirt­schaft­li­che Aus­beu­tung vor­zu­be­rei­ten, aller­dings führ­ten sie von Anfang an auch Exe­ku­tio­nen von „jüdi­schen Bol­sche­wis­ten“ durch, die sich im Lau­fe der Zeit zu Mas­sen­er­schie­ßun­gen aus­wei­te­ten, bei denen auch Frau­en und Kin­der getö­tet wurden.

Es ist his­to­risch nicht völ­lig geklärt, wie es zu die­ser Eska­la­ti­on kom­men konn­te, für die kein zen­tra­ler Befehl nach­weis­bar ist, aber die Ent­de­ckung von Mas­sen­mor­den, die der sowje­ti­sche Geheim­dienst NKVD in den Gefäng­nis­sen der West­ukrai­ne an poli­ti­schen Gefan­ge­nen began­gen hat­te, der anti­se­mi­ti­sche Ver­nich­tungs­wunsch der NS-Funk­ti­ons­trä­ger vor Ort und die Unter­stüt­zung durch die ein­hei­mi­sche Bevöl­ke­rung, die eben­falls ten­den­zi­ell eher juden­feind­lich ein­ge­stellt war, dürf­ten wesent­lich dazu bei­getra­gen haben. Zudem hat­ten vie­le gali­zi­sche Juden die Okto­ber­re­vo­lu­ti­on als Befrei­ung begrüßt und dien­ten der Sowjet­uni­on, in der sie zum ers­ten Mal in ihrer Geschich­te gleich­be­rech­tig­te Bür­ger waren, tat­säch­lich über­pro­por­tio­nal häu­fig als Funk­tio­nä­re und Verwaltungsbeamte.

Die Ein­satz­grup­pen folg­ten nun der vor­rü­cken­den Wehr­macht nach Osten, trie­ben Juden und Roma eines bestimm­ten Ortes zusam­men und erschos­sen sie vor Gru­ben fern­ab der Sied­lun­gen im Wald, die die Mord­op­fer vor­her selbst gra­ben muss­ten. Noch über 60 Jah­re spä­ter berich­te­ten ukrai­ni­sche Augen­zeu­gen dem fran­zö­si­schen Pfar­rer Patrick Des­bo­is davon, dass der Boden sich über den halb­to­ten Opfern noch tage­lang bewegt habe. Debo­is macht sich seit 2002 um die Auf­de­ckung die­ser Ver­bre­chen ver­dient, er hat dazu die Orga­ni­sa­ti­on Yahad – In Unum gegrün­det, die es sich unter ande­rem zur Auf­ga­be gemacht hat, die exak­te Posi­ti­on der Mas­sen­mor­de zu loka­li­sie­ren, um den Toten eine wür­di­ge letz­te Ruhe zu ermöglichen.

Ukraine, ermordete Familie

Bun­des­ar­chiv, Bild 183-A0706-0018–030 / CC-BY-SA [CC-BY-SA‑3.0‑de], via Wiki­me­dia Commons

Zu grö­ße­ren Mas­sa­kern kam es in Lem­berg (über 3000 Opfer), Luck (über 1000), Kamen­ez-Podol­sk (über 23.000), Shi­to­mir (über 3000), Ber­di­chev (über 18.000), Babyn Jar (über 33.000), Char­kiv (12–15.000), Vin­ny­c­ja (ca. 10.000), Dnje­pro­pe­trowsk (ca. 15.000). Ein­ge­setzt waren hier die Ein­satz­grup­pen C und D, durch beson­de­re Grau­sam­keit zeich­ne­te sich u. a. das Son­der­kom­man­do 4a unter SS-Stan­dar­ten­füh­rer Paul Blo­bel aus, der nach dem Krieg bei den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen zum Tod durch den Strang ver­ur­teilt wur­de. Aber auch Ord­nungs­po­li­zei­ba­tail­lo­ne, die gar nicht den Ein­satz­grup­pen unter­stellt waren, führ­ten zu die­sem Zeit­punkt Erschie­ßun­gen durch.

Völkermord im Reichskommissariat

Mit der Bil­dung des Reichs­kom­mis­sa­ri­ats ende­te die­se ers­te Wel­le der Ver­nich­tung, der bis zu die­sem Zeit­punkt ca. 300.000 Juden und Roma zum Opfer gefal­len waren. Danach kam es zu einer Zeit rela­ti­ver Ruhe, in der in Ber­lin u. a. dis­ku­tiert wur­de, ob man nicht zur „End­lö­sung der Juden­fra­ge“ ein „Juden­re­ser­vat“ im Grenz­be­reich von Ukrai­ne und Weiß­russ­land ein­rich­ten soll­te. Nach Ver­wer­fung die­ser Idee begann im Mai 1942 die zwei­te Wel­le der Ver­nich­tung, die jetzt von der Zivil­ver­wal­tung initi­iert wur­de und vor allem die Zen­tral­ukrai­ne betraf, in der min­des­tens noch wei­te­re 300.000 Juden leb­ten, vor allem im Gebiet Wol­hy­ni­en-Podo­li­en-Shi­to­mir, das von der ers­ten Wel­le nicht oder nur teil­wei­se erfasst wor­den war.

Bun­des­ar­chiv, Bild 183-A0706-0018–029 / CC-BY-SA [CC-BY-SA‑3.0‑de], via Wiki­me­dia Commons

Aus­füh­ren­de Orga­ne der Mor­de waren bei der zwei­ten Wel­le vor allem Ein­hei­ten der Ord­nungs­po­li­zei, unter­stützt wur­den sie von Ange­hö­ri­gen der Orga­ni­sa­ti­on Todt sowie ein­hei­mi­schen Frei­wil­li­gen, den soge­nann­ten „Hiwis“ (Hilfs­wil­li­gen) oder „Traw­ni­ki“ (nach einem Ort im Gene­ral­gou­ver­ne­ment, in dem die­se Kräf­te aus­ge­bil­det wur­den). Die Hiwi-Ein­hei­ten wur­den von reichs­deut­schen Offi­zie­ren befeh­ligt, die Unter­of­fi­zie­re waren oft­mals Russlanddeutsche.

Auch bei der zwei­ten Wel­le lie­fen die Erschie­ßun­gen immer nach dem­sel­ben Sche­ma ab:

  • Zunächst wur­de die Juden und Roma eines Ortes oder aus einer Rei­he von benach­bar­ten Orten zusam­men­ge­trie­ben („kon­zen­triert“). In eini­gen Städ­ten waren Ghet­tos ein­ge­rich­tet wor­den, aber dies spiel­te im Ver­gleich zum Gene­ral­gou­ver­ne­ment und den bal­ti­schen Staa­ten eine rela­tiv gerin­ge Rol­le. Es gab in der Ukrai­ne außer der „Durch­gangs­stra­ße IV“ kei­ne grö­ße­ren Zwangs­ar­beits­pro­jek­te, und die West- und Zen­tral-Ukrai­ne waren schon damals vor allem durch Land­wirt­schaft geprägt, so dass, anders als wei­ter im Wes­ten, kein grö­ße­res Reser­voir an aus­ge­bil­de­ten Hand­wer­kern oder Tech­ni­kern vor­han­den war. Selbst bei der „Durch­gangs­stra­ße IV“ kamen haupt­säch­lich aus Ungarn und Rumä­ni­en ver­schlepp­te Juden zum Einsatz.
  • Als nächs­ter Schritt wur­den die Juden und Roma ent­we­der per Lkw zu einem Sam­mel­platz an einen abge­le­ge­nen Ort gebracht, oder sie muss­ten selbst dort­hin mar­schie­ren. An dem vor­ge­se­he­nen Exe­ku­ti­ons­ort hat­ten inzwi­schen ent­we­der zwangs­ver­pflich­te­te Anwoh­ner bereits Gru­ben aus­ge­ho­ben, oder dies muss­te von einer Grup­pe der Juden selbst erle­digt wer­den. Teil­wei­se wur­den vor­han­de­ne Sand­gru­ben oder Stein­brü­che verwendet.
  • Dann wur­den die Mord­op­fer in klei­nen Grup­pen vom Sam­mel- zum Exe­ku­ti­ons­platz gebracht. Vor­her muss­ten sie sich ihrer Klei­dung ent­le­di­gen und ihre Wert­sa­chen abge­ben. Manch­mal ging es dabei durch ein Spa­lier von Ord­nungs­po­li­zis­ten oder Traw­ni­ki, die in vie­len Fäl­len stark alko­ho­li­siert waren.
  • Zuletzt erfolg­te die eigent­li­che Erschie­ßung, bei der Armee­ka­ra­bi­ner, Maschi­nen­pis­to­len oder sogar Maschi­nen­ge­weh­re zum Ein­satz kamen. Die Opfer wur­den ent­we­der so posi­tio­niert, dass sie durch die Wucht der Kugeln nach hin­ten in die vor­be­rei­te­te Gru­be fie­len, oder sie muss­ten sich nach unten in die Gru­be stel­len und wur­den von deren Rand aus erschos­sen. Wie­der füll­ten sich die Gru­ben mit Blut, und wie­der beweg­te sich noch Tage spä­ter die Erde auf­grund der ver­zwei­fel­ten Ver­su­che der nur Ver­letz­ten, durch die Mas­se der Lei­chen nach oben zu kommen.
Nazi_Holocaust_by_bullets_-_Jewish_mass_grave_near_Zolochiv,_west_Ukraine

By Unknown Gesta­po pho­to­gra­pher (Declas­si­fied Soviet Sta­te Archi­ves) [Public domain], via Wiki­me­dia Commons

 

Verbrannte Erde

Die zwei­te Wel­le ende­te im Dezem­ber 1942, bis dahin gab es in der deutsch besetz­ten Ukrai­ne fast kei­ne Juden und Roma mehr. Ab dem Som­mer 1943 kam es ange­sichts der Wen­de im Krieg mit der Sowjet­uni­on zu hek­ti­schen Ver­su­chen, die Spu­ren der Mas­sen­mor­de zu besei­ti­gen, indem die Opfer aus­ge­gra­ben und an Ort und Stel­le ver­brannt wur­den („Ent­er­dung“). Dies gelang aller­dings nicht ein­mal ansatz­wei­se, da die Rote Armee bis Ende 1943 bereits wie­der in Kiew stand und den Rest der Ukrai­ne bis zum Früh­jahr 1944 zurück­er­obert hat­te. Die meis­ten Mas­sen­grä­ber wur­den von sowje­ti­schen Ermitt­lungs­be­hör­den auf­ge­fun­den, aller­dings gelang­ten Kennt­nis­se dar­über in den meis­ten Fäl­len bis zum Fall der Mau­er wegen des Kal­ten Krie­ges nicht in den Westen.

Die Gesamt­zahl der Toten ist schwer zu ermit­teln, da nicht für alle Erschie­ßun­gen ver­läss­li­che Zah­len­an­ga­ben vor­han­den sind. Die his­to­ri­sche For­schung geht von ca. 300.000 Opfern der ers­ten Wel­le und 350.000 Opfern der zwei­ten Wel­le aus, zu denen auch aus Ungarn und Rumä­ni­en ver­schlepp­te Juden zäh­len. Der Anteil der ukrai­ni­schen Roma an den Opfern ist noch schwie­ri­ger abzu­schät­zen, aller­dings leb­ten in den 1920er Jah­ren ca. 60.000 Roma in der USSR, 1959 waren es nur noch 28.000[1]. Vor Gericht geahn­det wur­den die wenigs­ten die­ser Ver­bre­chen, ein Groß­teil davon in der UdSSR, wo ukrai­ni­sche Täter und eini­ge ande­re Schul­di­ge bis in die 1980er Jah­re hin­ein vor Gericht gebracht wur­den. Im Wes­ten wur­den nur eini­ge höhe­re Mit­glie­der der Ein­satz­grup­pen ver­ur­teilt, Beam­te der tief in die Ver­bre­chen ver­strick­ten Zivil­ver­wal­tung hin­ge­gen kaum. Die Ord­nungs­po­li­zei wur­de in Nürn­berg völ­lig über­se­hen, erst in spä­te­ren Jahr­zehn­ten kam es zu ver­ein­zel­ten Prozessen.

 

Literatur (Auswahl)

Ain­sz­tein, Reu­ben: Jewish resis­tance in Nazi-occu­p­ied Eas­tern Euro­pe, 1974

Bau­er, Yehu­da: Sar­ny and Rokit­no in the Holo­caust. A Case Stu­dy of Two Town­ships in Wolyn. (Vol­hy­nia), in: Katz, S. (Hrsg.): The Shtetl: New Eva­lua­tions, 2007, S. 253–289.

Des­bo­is, Patrick: Der ver­ges­se­ne Holo­caust. Die Ermor­dung der ukrai­ni­schen Juden, Ber­lin 2009

Mall­mann, Klaus-Micha­el: Mensch, ich feie­re heut den tau­sends­ten Genick­schuss – Die Sicher­heits­po­li­zei und die Sho­ah in West­ga­li­zi­en. In: Ger­hard Paul: Die Täter der Sho­ah: fana­ti­sche Natio­nal­so­zia­lis­ten oder ganz nor­ma­le Deut­sche?, Göt­tin­gen 2002

Die­ter Pohl: Schau­platz Ukrai­ne. Der Mas­sen­mord an den Juden im Mili­tär­ver­wal­tungs­ge­biet und im Reichs­kom­mis­sa­ri­at 1941–1943; in: Nor­bert Frei/Sybille Stein­ba­cher, Bernd C. Wag­ner (Hrsg.): Aus­beu­tung, Ver­nich­tung, Öffent­lich­keit. Neue Stu­di­en zur natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Lager­po­li­tik, Mün­chen 2000, S. 135–173

[1] https://en.wikipedia.org/wiki/Romani_people_in_Ukraine (abge­ru­fen Dezem­ber 2014)

 

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München, Frühjahr 1948
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