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Kategorie: Geschichte (Seite 3 von 6)

Damals unter den Taliban (3)

Über­zeug­te Nord­lich­ter sehen ja ger­ne auf die Bewoh­ner gewis­ser Land­stri­che wei­ter im Süden her­ab, bei denen angeb­lich der Pfar­rer den Leu­ten erzäh­le, was sie denn bit­te­schön zu wäh­len hät­ten. Und die doo­fen Katho­len würden’s dann auch noch machen. Ich hal­te das aller­dings eher für eine gesamt­deut­sche und kon­fes­si­ons­über­grei­fen­de Tra­di­ti­on, jeden­falls hielt unser Dorf­schul­leh­rer im Janu­ar 1919 ein paar Tage vor den Wah­len zur ver­fas­sung­ge­ben­den Ver­samm­lung in Wei­mar in sei­ner Schul­chro­nik Fol­gen­des fest:

16. Janu­ar: Ren­ne­kamp, Ver­den, rede­te abends bei Lüt­jens über die Deutsch-Han­no­ver­sche Par­tei. Am Schlus­se der Ver­samm­lung for­der­te Pas­tor XYZ alle aus dem Fel­de zurück­ge­kehr­ten anwe­sen­den Sol­da­ten auf, den etwa aus dem Fel­de mit­ge­brach­ten Groll nicht der Hei­mat ent­gel­ten las­sen zu wol­len, indem sie etwa demo­kra­tisch wäh­len woll­ten, und emp­fahl die Deutsch-Han­no­ver­sche Partei.

Mit »Demo­kra­ten«, das muss man wis­sen, war die SPD gemeint, bei der es sich sei­ner­zeit noch um eine wich­ti­ge, ernst­zu­neh­men­de Par­tei han­del­te. In der »Deutsch-Han­no­ver­schen Par­tei« hin­ge­gen sam­mel­ten sich Mon­ar­chis­ten und erz­kon­ser­va­ti­ve Land­leu­te, die im Kai­ser­reich eine Rück­kehr der Wel­fen auf den han­no­ver­schen Thron for­der­ten und in der Wei­ma­rer Repu­blik (ver­geb­lich) für eine Abspal­tung von Preu­ßen und die Schaf­fung eines Lan­des »Han­no­ver« ein­tra­ten. Auf dem Dach­bo­den von so man­chem alten Nie­der­sach­sen­haus modert noch in irgend­ei­ner Ecke eine ver­bli­che­ne gelb-wei­ße Flag­ge vor sich hin und war­tet dar­auf, dass Ernst-August und Caro­li­ne end­lich das ihnen von alters her zuste­hen­de Lei­ne­schloss beziehen.

Ach so, die Wahl­er­geb­nis­se hier im Dorf am 19. Janu­ar 1919: Deutsch-Han­no­ver­sche Par­tei 46 %, Deut­sche Volks­par­tei 15,7 %, Deut­sche Demo­kra­ti­sche Par­tei 14 %, Sozi­al-Demo­kra­ti­sche Par­tei 12,1 %, Deutsch-Natio­na­le Volks­par­tei 11,7 % der Stim­men. Die CSU in ihren bes­ten Tagen konn­te es bes­ser, aber immerhin …

Damals unter den Taliban (2)

Ange­sichts der Sor­gen, die sich die ges­tern erwähn­ten »Haus­vä­ter und Herr­schaf­ten« um das See­len­heil ihrer Knech­te und Mäg­de mach­ten, muss man sich natür­lich fra­gen, was wohl pas­sier­te, wenn das unver­schäm­te Per­so­nal dann doch mal frech über die Strän­ge schlug. Die Fra­gen kann beant­wor­tet wer­den – in unse­rem klei­nen ver­träum­ten Dorf gab es frü­her eine ein­klas­si­ge Volks­schu­le, deren Leh­rer die wich­tigs­ten Ereig­nis­se in einer klei­nen Chro­nik fest­hielt. Am 23. Febru­ar 1923 ver­merkt er:

Voll­mei­er Wil­helm M. schoß abends dem Schnei­der­ge­sel­len Hein­rich T., der mit M.s Dienst­magd auf dem M.’schen Hofe ein »Stell­dich­ein« hat­te, eine Ladung Schrot­kör­ner ins Knie. T. muß­te ärzt­li­che Hül­fe in Anspruch neh­men. Glück­li­cher­wei­se ist das Knie gut geheilt.

Unbe­kannt ist bis­her, wie der Dorf­po­li­zist reagierte …

Damals unter den Taliban

Ich mecke­re ja immer ganz ger­ne über die­ses und jenes und fin­de an der moder­nen Welt viel Anlass zu Kri­tik. Ande­rer­seits bin ich aber heil­froh, dass ich nicht im Jahr 1898 gelebt habe, als der hie­si­ge Kir­chen­vor­stand fol­gen­den klei­nen Antrag auf der Bezirks-Syn­ode einbrachte:

Syn­ode wol­le der über­hand­neh­men­den Zucht­lo­sig­keit der Dienst­bo­ten bei­der­lei Geschlechts, wel­che sich nament­lich dar­in zeigt, dass die­sel­ben des Abends ohne Erlaub­nis der Herr­schaf­ten den herr­schaft­li­chen Hof ver­las­sen, sich auf den Stra­ßen umher­trei­ben und an bestimm­ten Plät­zen sich zusam­men­scha­ren, um mit scham­lo­sen Redens­ar­ten und nur zu leicht fol­gen­den Schlech­tig­kei­ten sich die Zeit zu ver­trei­ben und ihr See­len­heil zu ver­scher­zen, dadurch zu weh­ren suchen, dass sie nicht bloß die Kir­chen­vor­stän­de, son­dern alle Haus­vä­ter und Herr­schaf­ten der gan­zen Inspec­tion ernst­lich ver­mahnt, gegen die­ses Unwe­sen, gegen das ein Ein­zel­ner und auch eine ein­zel­ne Gemein­de nichts aus­zu­rich­ten ver­mag, weil in sol­chem Fal­le die Dienst­bo­ten sofort kün­di­gen wür­den, gemein­sam vor­zu­ge­hen und mit aller Stren­ge durch­füh­ren, dass kein Dienst­bo­te abends ohne Erlaub­nis den herr­schaft­li­chen Hof ver­las­sen darf, kei­ner die Erlaub­nis bekommt, sich zu sol­chen abend­li­chen Umher­schwei­fen zu betei­li­gen, fre­che Zuwi­der­hand­lun­gen aber min­des­tens im Dienst­buch ver­merkt wer­den, und wegen sol­cher Zuwi­der­hand­lun­gen etwa ent­las­se­ne Dienst­bo­ten nicht von andern Herr­schaf­ten wie­der in Dienst genom­men werden.

Der Kir­chen­vor­stand von …

Was neben dem Wet­ter wohl die zwei­te Ursa­che ist, war­um hier­zu­lan­de auch im Som­mer nicht gera­de süd­län­disch-fro­hes Trei­ben auf den Dorf­stra­ßen herrscht…

Der Kohlestrom des Bösen

Kohlekraftwerk Mehrum

Neu­lich frag­ten die Kin­der, wie eigent­lich Ver­schwö­rungs­theo­rien ent­ste­hen. Auch in unse­rem ver­träum­ten klei­nen Dorf kein unge­wöhn­li­ches The­ma, denn es gibt wohl nichts, von dem unse­re Zeit so beses­sen wäre, wie die Vor­stel­lung, irgend­wel­che fins­te­ren Mäch­te wür­den im Hin­ter­grund die Fäden zie­hen. Auch unter den Alters­ka­me­ra­den unse­res Nach­wuch­ses haben sich schon gewis­se Zwei­fel an Neil Arm­strongs Mond­spa­zier­gang oder der Unge­fähr­lich­keit von Kon­dens­strei­fen breit­ge­macht, und spä­te­re His­to­ri­ker wer­den unse­re Epo­che sicher als »Kon­spi­ra­ti­ve« bezeichnen.

Nun hät­te ich ein­fach ant­wor­ten kön­nen, dass es eben manch­mal Ver­schwö­run­gen gibt – Water­ga­te, Sad­dam Hus­seins angeb­li­che Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen oder die Rol­le der CIA bei der För­de­rung der abs­trak­ten Kunst. Und bei den übli­cher­wei­se als »Theo­rie« bezeich­ne­ten Ver­schwö­run­gen wis­se man es nur noch nicht so genau. Aber gemeint waren natür­lich Gedan­ken­kon­struk­te, die so weit jen­seits der Plau­si­bi­li­tät ange­sie­delt sind, dass ande­re Fak­to­ren im Spiel sein müs­sen: außer­ir­di­sche Rep­ti­lo­ide, Area 51, Prieu­ré de Sion und der­glei­chen. Ich kram­te also zusam­men, was mir so ein­fiel: die mensch­li­che Nei­gung zur Reduk­ti­on kom­ple­xer Zusam­men­hän­ge auf »Gut gegen Böse«, die unbe­wuss­te Pro­jek­ti­on der eige­nen schlech­ten Eigen­schaf­ten auf ande­re (C. G. Jungs »Schat­ten«), die Selbst­sti­li­sie­rung der Ver­schwö­rungs­gläu­bi­gen zu Teil­ha­bern von eli­tä­rem »Geheim­wis­sen« und die Nei­gung, in Stress­si­tua­tio­nen Kau­sa­li­tä­ten zu sehen, wo kei­ne sind. So rich­tig zufrie­den war ich damit aller­dings selbst nicht.

Bis dann eini­ge Tage spä­ter im Lokal­teil unse­rer Zei­tung eine Mel­dung ins Haus flat­ter­te, die mir eine unver­hoff­te Erleuch­tung ver­schaff­te. Dazu muss ich erläu­tern, dass der Teil Nord­deutsch­lands, in dem wir leben, in den letz­ten zwan­zig Jah­ren mit nicht uner­heb­li­chen Men­gen von Wind­rä­dern voll­ge­stellt wor­den ist, deren Strom nun dort­hin trans­por­tiert wer­den soll, wo er gebraucht wird – also in der Regel ein paar hun­dert Kilo­me­ter wei­ter süd­lich. Wenn man Strom an Orten erzeugt, wo vor­her kein Strom erzeugt wur­de, ist es nur logisch, dass man neue Strom­tras­sen und Umspann­wer­ke bau­en muss, bei­des ist bei­spiels­wei­se in der Nähe unse­res ver­träum­ten klei­nen Dor­fes geplant. Ich selbst bin abso­lut dage­gen und habe auch kei­ne mora­li­schen Bauch­schmer­zen des­we­gen – es ist nichts ver­kehrt an dem Wunsch, die Strom­pro­duk­ti­on auf erneu­er­ba­re Quel­len umzu­stel­len, aber solan­ge es kei­ne tech­nisch zuver­läs­si­gen, kos­ten­güns­ti­gen Spei­cher­mög­lich­kei­ten und kei­ne wirk­lich trag­fä­hi­ge Neu­kon­zep­ti­on des Strom­net­zes gibt, ist das alles nur plan- und kopf­lo­ser Aktio­nis­mus, der ver­träum­te klei­ne Dör­fer in einen rie­si­gen, trost­lo­sen Indus­trie­park verwandelt.

Ener­gie­wen­de am Spätnachmittag

Ähn­li­cher Ansicht, so ver­riet es mir jeden­falls das Lokal­blatt, scheint ein Rats­mit­glied in einer nahen Klein­stadt zu sein, an der eben­falls eine der neu geplan­ten Strom­tras­sen vor­bei­füh­ren soll. Die Gewährs­per­son (nähe­re Anga­ben spa­re ich mir) hat sogar eine Online-Peti­ti­on gestar­tet, in der das Bun­des­um­welt­mi­nis­te­ri­um auf­ge­for­dert wird, den Hoch­span­nungs-Tras­sen­bau umge­hend zu stop­pen. Etwas ver­wir­rend ist aller­dings, dass es sich dabei um das Mit­glied einer Par­tei han­delt, die in ihrem Namen die Far­be fri­schen Gra­ses führt und eben jenes »Erneu­er­ba­re-Ener­gien-Gesetz« mit auf den Weg gebracht hat, dem wir das meta­sta­sen­ar­ti­ge Wachs­tum von Wind­parks und neu­en Lei­tun­gen über­haupt zu ver­dan­ken haben. Noch ver­wir­ren­der: Das besag­te Rats­mit­glied sitzt sogar im Vor­stand einer ört­li­chen Genos­sen­schaft, deren Zweck die »Errich­tung und Unter­hal­tung von Anla­gen zur Erzeu­gung rege­ne­ra­ti­ver Ener­gien, ins­be­son­de­re Solar­an­la­gen und Wind­kraft­an­la­gen« ist.

Und am ver­wir­rends­ten ist schließ­lich die Begrün­dung für die Online-Peti­on. Dort wird näm­lich behaup­tet, dass zwei von drei der neu­en Tras­sen dem Trans­port von Koh­le­strom dien­ten.

Wei­ter­le­sen

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