Kohlekraftwerk Mehrum

Neu­lich frag­ten die Kin­der, wie eigent­lich Ver­schwö­rungs­theo­rien ent­ste­hen. Auch in unse­rem ver­träum­ten klei­nen Dorf kein unge­wöhn­li­ches The­ma, denn es gibt wohl nichts, von dem unse­re Zeit so beses­sen wäre, wie die Vor­stel­lung, irgend­wel­che fins­te­ren Mäch­te wür­den im Hin­ter­grund die Fäden zie­hen. Auch unter den Alters­ka­me­ra­den unse­res Nach­wuch­ses haben sich schon gewis­se Zwei­fel an Neil Arm­strongs Mond­spa­zier­gang oder der Unge­fähr­lich­keit von Kon­dens­strei­fen breit­ge­macht, und spä­te­re His­to­ri­ker wer­den unse­re Epo­che sicher als »Kon­spi­ra­ti­ve« bezeichnen.

Nun hät­te ich ein­fach ant­wor­ten kön­nen, dass es eben manch­mal Ver­schwö­run­gen gibt – Water­ga­te, Sad­dam Hus­seins angeb­li­che Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen oder die Rol­le der CIA bei der För­de­rung der abs­trak­ten Kunst. Und bei den übli­cher­wei­se als »Theo­rie« bezeich­ne­ten Ver­schwö­run­gen wis­se man es nur noch nicht so genau. Aber gemeint waren natür­lich Gedan­ken­kon­struk­te, die so weit jen­seits der Plau­si­bi­li­tät ange­sie­delt sind, dass ande­re Fak­to­ren im Spiel sein müs­sen: außer­ir­di­sche Rep­ti­lo­ide, Area 51, Prieu­ré de Sion und der­glei­chen. Ich kram­te also zusam­men, was mir so ein­fiel: die mensch­li­che Nei­gung zur Reduk­ti­on kom­ple­xer Zusam­men­hän­ge auf »Gut gegen Böse«, die unbe­wuss­te Pro­jek­ti­on der eige­nen schlech­ten Eigen­schaf­ten auf ande­re (C. G. Jungs »Schat­ten«), die Selbst­sti­li­sie­rung der Ver­schwö­rungs­gläu­bi­gen zu Teil­ha­bern von eli­tä­rem »Geheim­wis­sen« und die Nei­gung, in Stress­si­tua­tio­nen Kau­sa­li­tä­ten zu sehen, wo kei­ne sind. So rich­tig zufrie­den war ich damit aller­dings selbst nicht.

Bis dann eini­ge Tage spä­ter im Lokal­teil unse­rer Zei­tung eine Mel­dung ins Haus flat­ter­te, die mir eine unver­hoff­te Erleuch­tung ver­schaff­te. Dazu muss ich erläu­tern, dass der Teil Nord­deutsch­lands, in dem wir leben, in den letz­ten zwan­zig Jah­ren mit nicht uner­heb­li­chen Men­gen von Wind­rä­dern voll­ge­stellt wor­den ist, deren Strom nun dort­hin trans­por­tiert wer­den soll, wo er gebraucht wird – also in der Regel ein paar hun­dert Kilo­me­ter wei­ter süd­lich. Wenn man Strom an Orten erzeugt, wo vor­her kein Strom erzeugt wur­de, ist es nur logisch, dass man neue Strom­tras­sen und Umspann­wer­ke bau­en muss, bei­des ist bei­spiels­wei­se in der Nähe unse­res ver­träum­ten klei­nen Dor­fes geplant. Ich selbst bin abso­lut dage­gen und habe auch kei­ne mora­li­schen Bauch­schmer­zen des­we­gen – es ist nichts ver­kehrt an dem Wunsch, die Strom­pro­duk­ti­on auf erneu­er­ba­re Quel­len umzu­stel­len, aber solan­ge es kei­ne tech­nisch zuver­läs­si­gen, kos­ten­güns­ti­gen Spei­cher­mög­lich­kei­ten und kei­ne wirk­lich trag­fä­hi­ge Neu­kon­zep­ti­on des Strom­net­zes gibt, ist das alles nur plan- und kopf­lo­ser Aktio­nis­mus, der ver­träum­te klei­ne Dör­fer in einen rie­si­gen, trost­lo­sen Indus­trie­park verwandelt.

Ener­gie­wen­de am Spätnachmittag

Ähn­li­cher Ansicht, so ver­riet es mir jeden­falls das Lokal­blatt, scheint ein Rats­mit­glied in einer nahen Klein­stadt zu sein, an der eben­falls eine der neu geplan­ten Strom­tras­sen vor­bei­füh­ren soll. Die Gewährs­per­son (nähe­re Anga­ben spa­re ich mir) hat sogar eine Online-Peti­ti­on gestar­tet, in der das Bun­des­um­welt­mi­nis­te­ri­um auf­ge­for­dert wird, den Hoch­span­nungs-Tras­sen­bau umge­hend zu stop­pen. Etwas ver­wir­rend ist aller­dings, dass es sich dabei um das Mit­glied einer Par­tei han­delt, die in ihrem Namen die Far­be fri­schen Gra­ses führt und eben jenes »Erneu­er­ba­re-Ener­gien-Gesetz« mit auf den Weg gebracht hat, dem wir das meta­sta­sen­ar­ti­ge Wachs­tum von Wind­parks und neu­en Lei­tun­gen über­haupt zu ver­dan­ken haben. Noch ver­wir­ren­der: Das besag­te Rats­mit­glied sitzt sogar im Vor­stand einer ört­li­chen Genos­sen­schaft, deren Zweck die »Errich­tung und Unter­hal­tung von Anla­gen zur Erzeu­gung rege­ne­ra­ti­ver Ener­gien, ins­be­son­de­re Solar­an­la­gen und Wind­kraft­an­la­gen« ist.

Und am ver­wir­rends­ten ist schließ­lich die Begrün­dung für die Online-Peti­on. Dort wird näm­lich behaup­tet, dass zwei von drei der neu­en Tras­sen dem Trans­port von Koh­le­strom dien­ten.

Ich muss geste­hen, dass ich mehr­mals hin­schau­en muss­te, um zu glau­ben, was ich da lese. Ernst­haft – Koh­le­strom …? Aber dann kam die besag­te Erleuch­tung. Das betref­fen­de Grü­nen-Mit­glied lei­det logi­scher­wei­se unter einem nicht lös­ba­ren Ziel­kon­flikt: Einer­seits will man hel­den­haft die Welt vor dem Kli­ma­tod ret­ten und unter­stützt dafür vehe­ment bestimm­te tech­ni­sche Maß­nah­men, die aber ande­rer­seits wei­te­re tech­ni­sche Maß­nah­men nach sich zie­hen, die man eben­so vehe­ment ablehnt – ob nun wegen Elek­tro­smog oder aus Grün­den des Natur- bzw. Land­schaft­schut­zes. Man fin­det dann für die­sen Ziel­kon­flikt eine Lösung auf sym­bo­li­scher Ebe­ne, indem man sich ein­re­det, dass bei­de tech­ni­sche Maß­nah­men nichts mit­ein­an­der zu tun hät­ten und die zwei­te Maß­nah­me – also die Hoch­span­nungs­lei­tung – ent­ge­gen aller Behaup­tun­gen des Netz­be­trei­bers dem Bösen dient, also dem Trans­port von Koh­le­strom. So kann man wei­ter­hin für das Eine, aber gleich­zei­tig gegen das Ande­re sein, ohne über­haupt einen Wider­spruch zu sehen. Und wer wäre nicht gegen das Böse …?

Das passt haar­ge­nau zu einer noch wei­ter­ge­hen­den Ver­schwö­rungs­theo­rie, die man immer wie­der hört, wenn man mit über­zeug­ten Grü­nen-Anhän­gern über die Pro­ble­me der »Ener­gie­wen­de« dis­ku­tiert. Eigent­lich gäbe es näm­lich sol­che Pro­ble­me gar nicht, die man­nig­fal­ti­gen Schwie­rig­kei­ten sei­en viel­mehr dem ver­derb­li­chen Ein­fluss der Ener­gie­wirt­schaft zuzu­schrei­ben, die aus ihren »längst abge­schrie­be­nen Koh­le­kraft­wer­ken« noch das letz­te biss­chen Pro­fit quet­schen woll­te und des­halb durch ihre Machen­schaf­ten ver­hin­der­te, dass bereits ent­wi­ckel­te kos­ten­güns­ti­ge Bat­te­rien auf den Markt kämen, die das Spei­cher­pro­blem lösen und das gol­de­ne Zeit­al­ter der Elek­tro­mo­bi­li­tät ein­läu­ten wür­den. Nun han­delt es sich bei den neu­en Wun­der­tech­no­lo­gien in der Regel um Schreib­tisch­pro­jek­te, die noch weit ent­fernt von irgend­ei­ner tech­ni­schen Rea­li­sier­bar­keit sind, und auch bei »abge­schrie­be­nen« tech­ni­schen Groß­an­la­gen pfle­gen hohe Wartungs‑, Per­so­nal- und Ver­si­che­rungs­kos­ten anzu­fal­len, die auch dann zu zah­len sind, wenn das Kraft­werk nur auf Stand­by ist, weil Strom aus erneu­er­ba­ren Quel­len laut EEG Vor­rang zu gewäh­ren ist. Kon­se­quen­ter­wei­se hat etwa E.ON sei­ne fos­si­len Kraft­wer­ke bereits in eine »Bad Ener­gy Bank« namens Uni­per aus­ge­glie­dert, damit der Mut­ter­kon­zern sich von Alt­las­ten unbe­schwert auf das momen­tan lukra­ti­ve­re Geschäft mit erneu­er­ba­ren Quel­len stür­zen kann.

Aber um sol­cher­lei Abwä­gun­gen geht es wohl gar nicht – es geht dar­um, dass die Welt nicht so funk­tio­niert, wie man sie sich vor­stellt, und irgend­je­mand muss ja Schuld dar­an haben. Natür­lich könn­te man sich auch ein­ge­ste­hen, dass es von vorn­her­ein die Vor­stel­lung war, die falsch ist, aber wenn jemand sehr stark an etwas glaubt und sich ent­spre­chend mit einer bestimm­ten Hel­den­rol­le iden­ti­fi­ziert, ist es offen­bar ein­fa­cher, statt­des­sen einen Böse­wicht zu erfinden.

Dies ist der Punkt, an dem ich es wagen kann, eine Hypo­the­se aufstellen:

Ver­schwö­rungs­theo­rien ent­ste­hen immer dann, wenn ein tief­sit­zen­der Glau­be, der Teil der eige­nen Iden­ti­tät ist, in einen nicht auf­lös­ba­ren Kon­flikt mit der Rea­li­tät gerät.

Eine Hypo­the­se lädt natür­lich dazu ein, sie zu über­prü­fen. Machen wir also ein paar Pro­ben aufs Exempel:

Frei­mau­rer und Illu­mi­na­ten. Sol­len ja klas­si­scher­wei­se angeb­lich für die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on und den Zusam­men­bruch der gott­ge­woll­ten Welt­ord­nung ver­ant­wort­lich sein. Das ist ein ein­fa­cher Fall – der tief­sit­zen­de Glau­be ist eben jene Aus­le­gung der Bibel, die Fürs­ten und Köni­ge zu von Gott ein­ge­setz­ten Herr­schern erklär­te; der Zusam­men­prall mit der Rea­li­tät ergibt sich not­wen­di­ger­wei­se aus dem jäm­mer­li­chen Zustand die­ses Anci­en Régime am Ende des 18. Jahr­hun­derts. Auch die Rol­le des Böse­wichts ist schnell besetzt, schließ­lich waren die Anhän­ger der Auf­klä­rung ja tat­säch­lich gezwun­gen, sich in Geheim­bün­den zu orga­ni­sie­ren, um der all­ge­gen­wär­ti­gen kirch­li­chen und staat­li­chen Über­wa­chung zu entgehen.

Die Wei­sen von Zion. Im Grun­de eine Erwei­te­rung der vor­he­ri­gen Ver­schwö­rungs­theo­rie, bei der Libe­ra­lis­mus, Demo­kra­tie und Wis­sen­schaft nur Vehi­kel sind, um die gott­ge­woll­te Macht des Adels zu bre­chen und in dem dar­auf­hin ent­ste­hen­den Cha­os die Welt­herr­schaft einer gehei­men Cli­que jüdi­scher Rab­bis zu ermög­li­chen. Auch der tief­sit­zen­de Glau­be ist teil­wei­se der­sel­be, aber ich mei­ne, dass hier noch ein wei­te­res Moment zum Tra­gen kommt (das übri­gens, ähem, schon in Wolfs­stadt auf Sei­te 199 von Fritz Leh­mann ange­dacht wird): Anti­se­mi­tis­mus rückt bei einer Ver­schwö­rungs­theo­rie immer dann in den Vor­der­grund, wenn der Ver­schwö­rungs­theo­ri­ker glaubt, einer Grup­pe von gött­lich Aus­er­wähl­ten anzu­ge­hö­ren, die aber aus irgend­ei­nem Grund dar­an gehin­dert wird (wie­der der Kon­flikt mit der Rea­li­tät!), ihrem hei­li­gen Auf­trag nach­zu­kom­men, der in der Regel aus der Herr­schaft über den Rest der Welt besteht.

Der Böse­wicht ergibt sich dann prak­tisch wie von selbst. Dem objek­ti­ven Ver­sa­gen, die Rol­le des Aus­er­wähl­ten ein­zu­neh­men, ent­springt die Pro­jek­ti­on aller denk­ba­ren schlech­ten Eigen­schaf­ten (und ins­be­son­de­re der eige­nen Welt­herr­schafts­plä­ne) auf die Juden, also das Volk, das den Urhe­ber­rechts­an­spruch auf sol­che Aus­er­wählt­heit hat. Die­ser Mecha­nis­mus wirk­te erkenn­bar bei vie­len Bür­gern des Deut­schen Rei­ches zwi­schen ca. 1850 und 1945, aber auch bei den Fran­zo­sen nach der demü­ti­gen­den Nie­der­la­ge gegen Deutsch­land 1870/71 (sie­he Drey­fus-Affä­re) oder die Füh­rungs­schicht des rus­si­schen Zaren­reichs (Selbst­bild: »Das Drit­te Rom«) in den letz­ten Jahr­zehn­ten von des­sen Bestehen. Er gilt wohl eben­falls für das abson­der­li­che Phä­no­men des »Anti­se­mi­tis­mus ohne Juden« in Ost­asi­en, wo Bücher über die angeb­li­che jüdi­sche Welt­ver­schwö­rung regel­mä­ßig auf den Best­sel­ler­lis­ten auf­tau­chen. Er gilt aller­dings nicht bei­spiels­wei­se für Groß­bri­tan­ni­en zur Hoch­zeit des Empi­re oder die heu­ti­gen USA, deren durch­aus vor­han­de­ner Aus­er­wählt­heits­fim­mel ja anders als etwa bei Deutsch­land mit ihrer rea­len Stel­lung in der Welt kor­re­lier­te bzw. kor­re­liert; kon­se­quen­ter­wei­se war in Lon­don ein Pre­mier­mi­nis­ter Dis­rae­li eben­so mög­lich wie in Washing­ton ein Außen­mi­nis­ter Kissinger.

Protocols KL08

Top-The­ma in Malaysia

Was schlimms­ten­falls folgt, ist der Wunsch, das Volk der ursprüng­lich Aus­er­wähl­ten mög­lichst aus dem Weg zu räu­men, um end­lich an sei­ne Stel­le tre­ten zu kön­nen. Ist das eine Ursa­che für den Holo­caust? Ich den­ke schon. Man mag es für albern hal­ten, irgend­wel­che Sprü­che aus dem Alten Tes­ta­ment heu­te noch für wört­lich zu neh­men, aber das Unbe­wuss­te hat nun mal sei­ne eige­nen Wahrheiten.

Die getürk­te Mond­lan­dung. Ein nicht ganz so düs­te­rer Fall, aber dafür umso rät­sel­haf­ter. War­um um alles in der Welt soll­te die US-Regie­rung nicht weni­ger als sechs bemann­te Mis­sio­nen zum Mond im Fern­seh­stu­dio nach­ge­stellt haben und dann auch noch glau­ben, sie wür­den das vor den Augen der gesam­ten Welt unbe­merkt durch­zie­hen kön­nen …? Ich habe das nie so ganz ver­stan­den, aber wenn ich das obi­ge Sche­ma anle­ge, kom­me ich zu einem Glau­ben, dem ich selbst ein­mal anhing, als ich unge­fähr drei­zehn oder vier­zehn war und einen Sci­ence-Fic­tion-Roman nach dem ande­ren ver­schlang: dem an die kos­mi­sche Zukunft der Mensch­heit. Hat­te man uns nicht jahr­zehn­te­lan­ge eine Welt ver­spro­chen, in der wir mit schnel­len Raum­schif­fen durch das Son­nen­sys­tem sau­sen und schließ­lich durch den Hyper­raum zu ande­ren Ster­nen hüp­fen wür­den? Das Apol­lo-Pro­gramm schien nur der ers­te, hel­den­haf­te Schritt auf dem Weg in die­se auf­re­gen­de, aben­teu­er­li­che und spi­ri­tu­ell erhe­ben­de Zukunft zu sein.

AldrinFlag-animation

Eppur non si muove

Der Zusam­men­prall mit der Rea­li­tät trat dann um 1980 ein, als eine Mars­mis­si­on in immer wei­te­re Fer­ne rück­te und die Bil­der der Voya­ger-Son­den fas­zi­nie­ren­de, aber lebens­feind­li­che Wel­ten zeig­ten, auf die wohl nie­mals ein Mensch sei­nen Fuß set­zen wird. Als dann spä­ter auch noch die Chal­len­ger explo­dier­te und die Colum­bia beim Wie­der­ein­tritt in die Atmo­sphä­re aus­ein­an­der­brach, war der Glau­be an die Zukunft der Raum­fahrt end­gül­tig dahin, und kon­se­quen­ter­wei­se begann eben zu die­ser Zeit der Moon Hoax von einer bizar­ren Rand­er­schei­nung zum pop­kul­tu­rel­len Phä­no­men zu wer­den. Dass die Erobe­rung des Welt­alls aus­blieb, konn­te eben nur dar­an lie­gen, dass die Tech­nik damals in Wirk­lich­keit noch gar nicht so weit war! Die Rol­le des Böse­wichts spiel­te natür­lich nie­mand ande­res als die US-Regie­rung, aber im Welt­bild vie­ler Ver­schwö­rungs­gläu­bi­ger ist die ja ohne­hin für sämt­li­che Scheuß­lich­kei­ten der Welt ver­ant­wort­lich (und bie­tet durch die bezeug­ten Akti­vi­tä­ten ihrer Geheim­diens­te auch genü­gend rea­le Anknüp­fungs­punk­te für sol­che Phantasien).

Die Ken­ne­dy-Ermor­dung. Da wage ich mich jetzt aufs Eis hin­aus, denn natür­lich gibt es hier noch genü­gend unge­klär­te Punk­te, die tat­säch­lich auf irgend­ei­ne Ver­wick­lung von Mafia oder Geheim­diens­ten hin­deu­ten könn­ten. Die zuge­hö­ri­ge Flut von Ver­schwö­rungs­theo­rien, die in Oli­ver Stones JFK ihren Höhe­punkt fand und bis heu­te nicht wirk­lich abge­klun­gen ist, weist aller­dings Dimen­sio­nen auf, die weit über eini­ger­ma­ßen rea­lis­ti­sche Hypo­the­sen hin­aus­ge­hen. Ich kann das hier nur skiz­zie­ren, aber ich mei­ne, dass es auch hier um einen Glau­ben geht, näm­lich um den, dass die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka das bes­te, mora­lischs­te und gerech­tes­te Land auf Got­tes wei­ter Erde sind. Hun­dert­tau­sen­de jun­ge Ame­ri­ka­ner, denen die­se ewi­ge Wahr­heit in der Schu­le mit Flag­gen­eid und dem Absin­gen der Nati­onhym­ne ein­ge­bläut wor­den waren, fan­den sich Ende der 1960er im Morast von Viet­nam wie­der, und statt ihren staats­re­li­giö­sen Kin­der­glau­ben an Ame­ri­ca the Beau­ti­ful auf­zu­ge­ben, erko­ren sie sich den getö­te­ten Prä­si­den­ten zum edlen Hel­den, der die­sen unmo­ra­li­schen Krieg ver­hin­dert hät­te, wenn er denn nicht in Dal­las zum Opfer des bösen »mili­tä­risch-indus­tri­el­len Kom­ple­xes« gewor­den wäre.

Die­se Hoff­nung ist zumin­dest unrea­lis­tisch – zum Zeit­punkt des Atten­tats waren bereits 16.000 ame­ri­ka­ni­sche »Mili­tär­be­ra­ter« und meh­re­re Hun­dert US-Heli­ko­pter in Süd­viet­nam sta­tio­niert, und über Ken­ne­dys eiser­nen Anti­kom­mu­nis­mus dürf­te ange­sichts sei­ner Hal­tung wäh­rend der Kuba­kri­se kaum Dis­kus­si­ons­be­darf bestehen. Aber er konn­te die all­zu opti­mis­ti­schen Wunsch­phan­ta­sien sei­ner Bewun­de­rer lei­der nicht mehr zurecht­rü­cken. Der Glau­be an die Ver­schwö­rung von Regie­rung und Geheim­diens­ten gegen das eige­ne Volk erlaubt es sei­nen Anhän­gern jeden­falls, das Ver­trau­en in die mora­li­sche Aus­nah­me­stel­lung der USA auf­recht zu hal­ten, ohne eine Rea­li­tät berück­sich­ti­gen zu müs­sen, in der auch die­ses Land das typi­sche macht­po­li­ti­sche Geba­ren zeigt, das Impe­ri­en nun mal eigen ist.

Das RAF-Phan­tom. Hier muss ich zunächst beken­nen, mich schul­dig gemacht zu haben. Ich den­ke auch wei­ter­hin, dass da irgend­wel­che Geheim­diens­te und nicht-staat­li­chen Akteu­re ihre Fin­ger mit im Spiel hat­ten, aber die Haupt­the­se des »RAF-Phan­toms«, dass die gesam­te »Drit­te Genera­ti­on« der RAF nur eine geheim­dienst­li­che Insze­nie­rung gewe­sen wäre, hal­te ich mitt­ler­wei­le für Quatsch mit Soße. Und wenn ich wie­der­um mei­ne obi­ge Hypo­the­se her­an­zie­he, erklärt sich alles wie von selbst: Der tief­sit­zen­de Glau­be ist die bei vie­len jün­ge­ren Lin­ken in den 1970ern und 1980ern ver­brei­te­te Vor­stel­lung, mit­ten in der fina­len Kri­se des Kapi­ta­lis­mus zu ste­hen, die – wie von Marx vor­her­ge­sagt – nun end­lich zum Auf­stand des Pro­le­ta­ri­ats (oder zumin­dest sei­nes neu­mo­di­schen Ersat­zes, der »Völ­ker der Drit­ten Welt«) und zum Sieg des Sozia­lis­mus füh­ren wür­de. Die­ser Glau­be beding­te in der Regel ein gro­ßes Maß an Soli­da­ri­tät mit »Andre­as« und »Ulri­ke«, auch wenn man deren Metho­den mög­li­cher­wei­se für den fal­schen Weg hielt.

Bad Kleinen Gleis 4

Once upon a time in Mecklenburg

Der Kon­flikt mit der Rea­li­tät ergibt sich aus der sinn­lo­sen Bru­ta­li­tät der Anschlä­ge in den 1980ern, die selbst für wohl­wol­len­de Lin­ke nicht mehr zu recht­fer­ti­gen war, und dem Zusam­men­bruch des Ost­blocks 1989/90, nach dem eigent­lich nie­mand mehr glau­ben konn­te, dass dem­nächst die Welt­re­vo­lu­ti­on statt­fin­den wür­de. An die­sem Punkt hät­te man nun ein­se­hen kön­nen, dass die mar­xis­ti­sche Geschichts­theo­rie schlicht und ergrei­fend falsch ist und die RAF in den 1980ern ein sek­ten­ar­ti­ger Hau­fen von armen Irren war, die aus ihrer Phan­ta­sie­welt nicht mehr her­aus­fan­den. Ein­fa­cher war es aber wohl, wei­ter am Glau­ben an die Auf­rech­ten von Stamm­heim fest­zu­hal­ten und die ver­wirr­ten Despe­ra­dos um Hoge­feld und Grams zur Insze­nie­rung zu erklä­ren, mit deren Hil­fe die gegen­re­vo­lu­tio­nä­ren Kräf­te des Kapi­ta­lis­mus ein wei­te­res Mal die Errich­tung einer bes­se­ren Welt ver­hin­dert hätten.

Chem­trails. Hier woll­te ich eigent­lich pas­sen und zuge­ben, dass mir nichts ein­fällt. Aber dann zeig­te ich eine ers­te Ver­si­on die­ses Arti­kels mei­ner Toch­ter, die bes­ser infor­miert war als ich: Sie hat­te gele­sen, dass die angeb­lich so gefähr­li­chen Flug­zeug-Kon­dens­strei­fen vor allem zur Erklä­rung von »rät­sel­haf­ten« Gesund­heits­pro­ble­men und Gehirn­stö­run­gen her­an­ge­zo­gen wer­den. Könn­te es also sein, dass der tief ver­wur­zel­te Glau­be hier in einer patho­lo­gi­schen Selbst­über­schät­zung hin­sicht­lich der Robust­heit des eige­nen Kör­pers und der geis­ti­gen Leis­tungs­fä­hig­keit besteht? Die bei jeder uner­klär­li­chen Migrä­ne oder nicht bestan­de­nen Prü­fung mit der Rea­li­tät kol­li­diert? In die­ser Hin­sicht wären die Chem­trails die per­fek­te Ver­schwö­rungs­theo­rie für unser Zeit­al­ter des unge­zü­gel­ten Nar­ziss­mus. Dazu grei­fen wahr­schein­lich auch noch die ande­ren Erklä­rungs­ver­su­che, und man pro­ji­ziert irgend­et­was Unbe­wuss­tes in den Him­mel hin­ein, so wie die Alt­vor­de­ren, die dort Engel oder Wodans Wil­de Jagd her­um­flie­gen sahen.

Puh …

Ich bre­che dann mal ab, es gibt ein­fach zu vie­le Ver­schwö­rungs­theo­rien, um auch nur einen Bruch­teil davon hier zu behan­deln. Immer­hin kann ich fest­stel­len, dass mei­ne Hypo­the­se nach einer ers­ten Über­prü­fungs­run­de ganz gut dasteht. Sie wür­de auch erklä­ren, war­um es mehr oder weni­ger sinn­los ist, Ver­schwö­rungs­gläu­bi­ge mit Fak­ten zu kon­fron­tie­ren, die ihren Theo­rien wider­spre­chen – in der Moder­ne mit ihren stets pre­kä­ren und wan­del­ba­ren Sinn- und Sozi­al­zu­sam­men­hän­gen ist die eige­ne Iden­ti­tät der letz­te Fels, an den man sich noch klam­mern kann, das ein­zi­ge, des­sen man sich sicher glaubt. Not­wen­di­ger­wei­se wird folg­lich unbe­wusst alle ver­füg­ba­re psy­chi­sche Ener­gie auf­ge­wen­det, um die Unter­mi­nie­rung eines ein­mal ange­nom­me­nen Glau­bens, der zum Bestand­teil der Per­sön­lich­keit gewor­den ist, zu ver­hin­dern, und sei es um den Preis des Igno­rie­rens von offen­sicht­li­chen Tat­sa­chen. Und jeder, der einen mit Argu­men­ten über­zeu­gen will, ist kein akzep­tier­ter Teil­neh­mer an einer ratio­na­len Dis­kus­si­on, son­dern eine exis­ten­zi­el­le Bedrohung.

Die Hypo­the­se ist auch nütz­lich, um den befremd­li­chen Umstand zu erhel­len, dass man Bücher wie Geheim­ge­sell­schaf­ten und ihre Macht im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert ger­ne bei Leu­ten im Regal fin­det, die ansons­ten an die Macht der Kris­tal­le und die segens­rei­che Wir­kung der Cha­k­ren-Öff­nung glau­ben. Das liegt zum einen sicher an der oben erwähn­ten »Teil­ha­be an eli­tä­rem Geheim­wis­sen«, die in bei­den Sub­kul­tu­ren ver­brei­tet ist. Auch die pene­tran­te Bes­ser­wis­ser-Pose Unein­ge­weih­ten gegen­über und das wis­sen­de Fal­len­las­sen von rät­sel­haf­ten Andeu­tun­gen glei­chen sich wie ein Ei dem ande­ren. Aber viel wich­ti­ger ist wohl auch hier der ewi­ge Zusam­men­prall mit der Rea­li­tät, dem man als Eso­te­ri­ker auf Dau­er nicht ent­kom­men kann. Wie ich erfreut fest­stel­len konn­te, sind auch die Schwei­zer Sozio­lo­gin­nen Chan­tal Magnin und Mari­an­ne Rych­ner schon auf die­sen Gedan­ken gekom­men:

Das – ver­mut­lich eher häu­fi­ge – Ver­sa­gen eso­te­ri­scher Prak­ti­ken im All­tag bei gleich­zei­ti­ger Wei­ter­exis­tenz der für eso­te­ri­sches Den­ken typi­schen Logik bil­det so die Grund­la­ge der Akzep­tanz von Ver­schwö­rungs­theo­rien: Irgend jemand wird ja wohl dahin­ter­ste­cken, wenn es einem im täg­li­chen Leben nicht gelingt, die kos­mi­schen Kräf­te end­lich zu beherr­schen, wenn das Schick­sal nicht zur Chan­ce wer­den will. 

Bleibt am Ende die Fra­ge, wie man damit umge­hen soll. Wenn man einen Ver­schwö­rungs­glau­ben durch Fak­ten nicht wider­le­gen kann, weil es in Wirk­lich­keit um die Iden­ti­tät des Gläu­bi­gen geht – wie ändert man eine Iden­ti­tät? Oder neu­tra­li­siert zumin­dest die schäd­li­chen Ein­flüs­se, die davon aus­ge­hen? Die oben genann­te Rats­per­son, um zum Anfang zurück­zu­keh­ren, enga­giert sich natür­lich nicht nur für Wind­kraft und gegen Hoch­span­nungs­lei­tun­gen. Sie kämpft gegen »Nazis in Nadel­strei­fen«, für Abrüs­tung und die fried­li­che Lösung von Kon­flik­ten. Der Inter­na­tio­na­le Frau­en­tag ist ihr eine Her­zens­an­ge­le­gen­heit, und das Fami­li­en­ein­kom­men wird in der Öko­bau­bran­che erwirt­schaf­tet. Ver­mut­lich hat sie das Hand­buch des Krie­gers des Lichts gele­sen. Wie macht man ihr klar, dass sie das Böse, dass sie bekämpft, zumin­dest teil­wei­se selbst ver­ur­sacht hat …?