Neulich fragten die Kinder, wie eigentlich Verschwörungstheorien entstehen. Auch in unserem verträumten kleinen Dorf kein ungewöhnliches Thema, denn es gibt wohl nichts, von dem unsere Zeit so besessen wäre, wie die Vorstellung, irgendwelche finsteren Mächte würden im Hintergrund die Fäden ziehen. Auch unter den Alterskameraden unseres Nachwuchses haben sich schon gewisse Zweifel an Neil Armstrongs Mondspaziergang oder der Ungefährlichkeit von Kondensstreifen breitgemacht, und spätere Historiker werden unsere Epoche sicher als »Konspirative« bezeichnen.
Nun hätte ich einfach antworten können, dass es eben manchmal Verschwörungen gibt – Watergate, Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen oder die Rolle der CIA bei der Förderung der abstrakten Kunst. Und bei den üblicherweise als »Theorie« bezeichneten Verschwörungen wisse man es nur noch nicht so genau. Aber gemeint waren natürlich Gedankenkonstrukte, die so weit jenseits der Plausibilität angesiedelt sind, dass andere Faktoren im Spiel sein müssen: außerirdische Reptiloide, Area 51, Prieuré de Sion und dergleichen. Ich kramte also zusammen, was mir so einfiel: die menschliche Neigung zur Reduktion komplexer Zusammenhänge auf »Gut gegen Böse«, die unbewusste Projektion der eigenen schlechten Eigenschaften auf andere (C. G. Jungs »Schatten«), die Selbststilisierung der Verschwörungsgläubigen zu Teilhabern von elitärem »Geheimwissen« und die Neigung, in Stresssituationen Kausalitäten zu sehen, wo keine sind. So richtig zufrieden war ich damit allerdings selbst nicht.
Bis dann einige Tage später im Lokalteil unserer Zeitung eine Meldung ins Haus flatterte, die mir eine unverhoffte Erleuchtung verschaffte. Dazu muss ich erläutern, dass der Teil Norddeutschlands, in dem wir leben, in den letzten zwanzig Jahren mit nicht unerheblichen Mengen von Windrädern vollgestellt worden ist, deren Strom nun dorthin transportiert werden soll, wo er gebraucht wird – also in der Regel ein paar hundert Kilometer weiter südlich. Wenn man Strom an Orten erzeugt, wo vorher kein Strom erzeugt wurde, ist es nur logisch, dass man neue Stromtrassen und Umspannwerke bauen muss, beides ist beispielsweise in der Nähe unseres verträumten kleinen Dorfes geplant. Ich selbst bin absolut dagegen und habe auch keine moralischen Bauchschmerzen deswegen – es ist nichts verkehrt an dem Wunsch, die Stromproduktion auf erneuerbare Quellen umzustellen, aber solange es keine technisch zuverlässigen, kostengünstigen Speichermöglichkeiten und keine wirklich tragfähige Neukonzeption des Stromnetzes gibt, ist das alles nur plan- und kopfloser Aktionismus, der verträumte kleine Dörfer in einen riesigen, trostlosen Industriepark verwandelt.
Ähnlicher Ansicht, so verriet es mir jedenfalls das Lokalblatt, scheint ein Ratsmitglied in einer nahen Kleinstadt zu sein, an der ebenfalls eine der neu geplanten Stromtrassen vorbeiführen soll. Die Gewährsperson (nähere Angaben spare ich mir) hat sogar eine Online-Petition gestartet, in der das Bundesumweltministerium aufgefordert wird, den Hochspannungs-Trassenbau umgehend zu stoppen. Etwas verwirrend ist allerdings, dass es sich dabei um das Mitglied einer Partei handelt, die in ihrem Namen die Farbe frischen Grases führt und eben jenes »Erneuerbare-Energien-Gesetz« mit auf den Weg gebracht hat, dem wir das metastasenartige Wachstum von Windparks und neuen Leitungen überhaupt zu verdanken haben. Noch verwirrender: Das besagte Ratsmitglied sitzt sogar im Vorstand einer örtlichen Genossenschaft, deren Zweck die »Errichtung und Unterhaltung von Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energien, insbesondere Solaranlagen und Windkraftanlagen« ist.
Und am verwirrendsten ist schließlich die Begründung für die Online-Petion. Dort wird nämlich behauptet, dass zwei von drei der neuen Trassen dem Transport von Kohlestrom dienten.
Ich muss gestehen, dass ich mehrmals hinschauen musste, um zu glauben, was ich da lese. Ernsthaft – Kohlestrom …? Aber dann kam die besagte Erleuchtung. Das betreffende Grünen-Mitglied leidet logischerweise unter einem nicht lösbaren Zielkonflikt: Einerseits will man heldenhaft die Welt vor dem Klimatod retten und unterstützt dafür vehement bestimmte technische Maßnahmen, die aber andererseits weitere technische Maßnahmen nach sich ziehen, die man ebenso vehement ablehnt – ob nun wegen Elektrosmog oder aus Gründen des Natur- bzw. Landschaftschutzes. Man findet dann für diesen Zielkonflikt eine Lösung auf symbolischer Ebene, indem man sich einredet, dass beide technische Maßnahmen nichts miteinander zu tun hätten und die zweite Maßnahme – also die Hochspannungsleitung – entgegen aller Behauptungen des Netzbetreibers dem Bösen dient, also dem Transport von Kohlestrom. So kann man weiterhin für das Eine, aber gleichzeitig gegen das Andere sein, ohne überhaupt einen Widerspruch zu sehen. Und wer wäre nicht gegen das Böse …?
Das passt haargenau zu einer noch weitergehenden Verschwörungstheorie, die man immer wieder hört, wenn man mit überzeugten Grünen-Anhängern über die Probleme der »Energiewende« diskutiert. Eigentlich gäbe es nämlich solche Probleme gar nicht, die mannigfaltigen Schwierigkeiten seien vielmehr dem verderblichen Einfluss der Energiewirtschaft zuzuschreiben, die aus ihren »längst abgeschriebenen Kohlekraftwerken« noch das letzte bisschen Profit quetschen wollte und deshalb durch ihre Machenschaften verhinderte, dass bereits entwickelte kostengünstige Batterien auf den Markt kämen, die das Speicherproblem lösen und das goldene Zeitalter der Elektromobilität einläuten würden. Nun handelt es sich bei den neuen Wundertechnologien in der Regel um Schreibtischprojekte, die noch weit entfernt von irgendeiner technischen Realisierbarkeit sind, und auch bei »abgeschriebenen« technischen Großanlagen pflegen hohe Wartungs‑, Personal- und Versicherungskosten anzufallen, die auch dann zu zahlen sind, wenn das Kraftwerk nur auf Standby ist, weil Strom aus erneuerbaren Quellen laut EEG Vorrang zu gewähren ist. Konsequenterweise hat etwa E.ON seine fossilen Kraftwerke bereits in eine »Bad Energy Bank« namens Uniper ausgegliedert, damit der Mutterkonzern sich von Altlasten unbeschwert auf das momentan lukrativere Geschäft mit erneuerbaren Quellen stürzen kann.
Aber um solcherlei Abwägungen geht es wohl gar nicht – es geht darum, dass die Welt nicht so funktioniert, wie man sie sich vorstellt, und irgendjemand muss ja Schuld daran haben. Natürlich könnte man sich auch eingestehen, dass es von vornherein die Vorstellung war, die falsch ist, aber wenn jemand sehr stark an etwas glaubt und sich entsprechend mit einer bestimmten Heldenrolle identifiziert, ist es offenbar einfacher, stattdessen einen Bösewicht zu erfinden.
Dies ist der Punkt, an dem ich es wagen kann, eine Hypothese aufstellen:
Verschwörungstheorien entstehen immer dann, wenn ein tiefsitzender Glaube, der Teil der eigenen Identität ist, in einen nicht auflösbaren Konflikt mit der Realität gerät.
Eine Hypothese lädt natürlich dazu ein, sie zu überprüfen. Machen wir also ein paar Proben aufs Exempel:
Freimaurer und Illuminaten. Sollen ja klassischerweise angeblich für die Französische Revolution und den Zusammenbruch der gottgewollten Weltordnung verantwortlich sein. Das ist ein einfacher Fall – der tiefsitzende Glaube ist eben jene Auslegung der Bibel, die Fürsten und Könige zu von Gott eingesetzten Herrschern erklärte; der Zusammenprall mit der Realität ergibt sich notwendigerweise aus dem jämmerlichen Zustand dieses Ancien Régime am Ende des 18. Jahrhunderts. Auch die Rolle des Bösewichts ist schnell besetzt, schließlich waren die Anhänger der Aufklärung ja tatsächlich gezwungen, sich in Geheimbünden zu organisieren, um der allgegenwärtigen kirchlichen und staatlichen Überwachung zu entgehen.
Die Weisen von Zion. Im Grunde eine Erweiterung der vorherigen Verschwörungstheorie, bei der Liberalismus, Demokratie und Wissenschaft nur Vehikel sind, um die gottgewollte Macht des Adels zu brechen und in dem daraufhin entstehenden Chaos die Weltherrschaft einer geheimen Clique jüdischer Rabbis zu ermöglichen. Auch der tiefsitzende Glaube ist teilweise derselbe, aber ich meine, dass hier noch ein weiteres Moment zum Tragen kommt (das übrigens, ähem, schon in Wolfsstadt auf Seite 199 von Fritz Lehmann angedacht wird): Antisemitismus rückt bei einer Verschwörungstheorie immer dann in den Vordergrund, wenn der Verschwörungstheoriker glaubt, einer Gruppe von göttlich Auserwählten anzugehören, die aber aus irgendeinem Grund daran gehindert wird (wieder der Konflikt mit der Realität!), ihrem heiligen Auftrag nachzukommen, der in der Regel aus der Herrschaft über den Rest der Welt besteht.
Der Bösewicht ergibt sich dann praktisch wie von selbst. Dem objektiven Versagen, die Rolle des Auserwählten einzunehmen, entspringt die Projektion aller denkbaren schlechten Eigenschaften (und insbesondere der eigenen Weltherrschaftspläne) auf die Juden, also das Volk, das den Urheberrechtsanspruch auf solche Auserwähltheit hat. Dieser Mechanismus wirkte erkennbar bei vielen Bürgern des Deutschen Reiches zwischen ca. 1850 und 1945, aber auch bei den Franzosen nach der demütigenden Niederlage gegen Deutschland 1870/71 (siehe Dreyfus-Affäre) oder die Führungsschicht des russischen Zarenreichs (Selbstbild: »Das Dritte Rom«) in den letzten Jahrzehnten von dessen Bestehen. Er gilt wohl ebenfalls für das absonderliche Phänomen des »Antisemitismus ohne Juden« in Ostasien, wo Bücher über die angebliche jüdische Weltverschwörung regelmäßig auf den Bestsellerlisten auftauchen. Er gilt allerdings nicht beispielsweise für Großbritannien zur Hochzeit des Empire oder die heutigen USA, deren durchaus vorhandener Auserwähltheitsfimmel ja anders als etwa bei Deutschland mit ihrer realen Stellung in der Welt korrelierte bzw. korreliert; konsequenterweise war in London ein Premierminister Disraeli ebenso möglich wie in Washington ein Außenminister Kissinger.
Was schlimmstenfalls folgt, ist der Wunsch, das Volk der ursprünglich Auserwählten möglichst aus dem Weg zu räumen, um endlich an seine Stelle treten zu können. Ist das eine Ursache für den Holocaust? Ich denke schon. Man mag es für albern halten, irgendwelche Sprüche aus dem Alten Testament heute noch für wörtlich zu nehmen, aber das Unbewusste hat nun mal seine eigenen Wahrheiten.
Die getürkte Mondlandung. Ein nicht ganz so düsterer Fall, aber dafür umso rätselhafter. Warum um alles in der Welt sollte die US-Regierung nicht weniger als sechs bemannte Missionen zum Mond im Fernsehstudio nachgestellt haben und dann auch noch glauben, sie würden das vor den Augen der gesamten Welt unbemerkt durchziehen können …? Ich habe das nie so ganz verstanden, aber wenn ich das obige Schema anlege, komme ich zu einem Glauben, dem ich selbst einmal anhing, als ich ungefähr dreizehn oder vierzehn war und einen Science-Fiction-Roman nach dem anderen verschlang: dem an die kosmische Zukunft der Menschheit. Hatte man uns nicht jahrzehntelange eine Welt versprochen, in der wir mit schnellen Raumschiffen durch das Sonnensystem sausen und schließlich durch den Hyperraum zu anderen Sternen hüpfen würden? Das Apollo-Programm schien nur der erste, heldenhafte Schritt auf dem Weg in diese aufregende, abenteuerliche und spirituell erhebende Zukunft zu sein.
Der Zusammenprall mit der Realität trat dann um 1980 ein, als eine Marsmission in immer weitere Ferne rückte und die Bilder der Voyager-Sonden faszinierende, aber lebensfeindliche Welten zeigten, auf die wohl niemals ein Mensch seinen Fuß setzen wird. Als dann später auch noch die Challenger explodierte und die Columbia beim Wiedereintritt in die Atmosphäre auseinanderbrach, war der Glaube an die Zukunft der Raumfahrt endgültig dahin, und konsequenterweise begann eben zu dieser Zeit der Moon Hoax von einer bizarren Randerscheinung zum popkulturellen Phänomen zu werden. Dass die Eroberung des Weltalls ausblieb, konnte eben nur daran liegen, dass die Technik damals in Wirklichkeit noch gar nicht so weit war! Die Rolle des Bösewichts spielte natürlich niemand anderes als die US-Regierung, aber im Weltbild vieler Verschwörungsgläubiger ist die ja ohnehin für sämtliche Scheußlichkeiten der Welt verantwortlich (und bietet durch die bezeugten Aktivitäten ihrer Geheimdienste auch genügend reale Anknüpfungspunkte für solche Phantasien).
Die Kennedy-Ermordung. Da wage ich mich jetzt aufs Eis hinaus, denn natürlich gibt es hier noch genügend ungeklärte Punkte, die tatsächlich auf irgendeine Verwicklung von Mafia oder Geheimdiensten hindeuten könnten. Die zugehörige Flut von Verschwörungstheorien, die in Oliver Stones JFK ihren Höhepunkt fand und bis heute nicht wirklich abgeklungen ist, weist allerdings Dimensionen auf, die weit über einigermaßen realistische Hypothesen hinausgehen. Ich kann das hier nur skizzieren, aber ich meine, dass es auch hier um einen Glauben geht, nämlich um den, dass die Vereinigten Staaten von Amerika das beste, moralischste und gerechteste Land auf Gottes weiter Erde sind. Hunderttausende junge Amerikaner, denen diese ewige Wahrheit in der Schule mit Flaggeneid und dem Absingen der Nationhymne eingebläut worden waren, fanden sich Ende der 1960er im Morast von Vietnam wieder, und statt ihren staatsreligiösen Kinderglauben an America the Beautiful aufzugeben, erkoren sie sich den getöteten Präsidenten zum edlen Helden, der diesen unmoralischen Krieg verhindert hätte, wenn er denn nicht in Dallas zum Opfer des bösen »militärisch-industriellen Komplexes« geworden wäre.
Diese Hoffnung ist zumindest unrealistisch – zum Zeitpunkt des Attentats waren bereits 16.000 amerikanische »Militärberater« und mehrere Hundert US-Helikopter in Südvietnam stationiert, und über Kennedys eisernen Antikommunismus dürfte angesichts seiner Haltung während der Kubakrise kaum Diskussionsbedarf bestehen. Aber er konnte die allzu optimistischen Wunschphantasien seiner Bewunderer leider nicht mehr zurechtrücken. Der Glaube an die Verschwörung von Regierung und Geheimdiensten gegen das eigene Volk erlaubt es seinen Anhängern jedenfalls, das Vertrauen in die moralische Ausnahmestellung der USA aufrecht zu halten, ohne eine Realität berücksichtigen zu müssen, in der auch dieses Land das typische machtpolitische Gebaren zeigt, das Imperien nun mal eigen ist.
Das RAF-Phantom. Hier muss ich zunächst bekennen, mich schuldig gemacht zu haben. Ich denke auch weiterhin, dass da irgendwelche Geheimdienste und nicht-staatlichen Akteure ihre Finger mit im Spiel hatten, aber die Hauptthese des »RAF-Phantoms«, dass die gesamte »Dritte Generation« der RAF nur eine geheimdienstliche Inszenierung gewesen wäre, halte ich mittlerweile für Quatsch mit Soße. Und wenn ich wiederum meine obige Hypothese heranziehe, erklärt sich alles wie von selbst: Der tiefsitzende Glaube ist die bei vielen jüngeren Linken in den 1970ern und 1980ern verbreitete Vorstellung, mitten in der finalen Krise des Kapitalismus zu stehen, die – wie von Marx vorhergesagt – nun endlich zum Aufstand des Proletariats (oder zumindest seines neumodischen Ersatzes, der »Völker der Dritten Welt«) und zum Sieg des Sozialismus führen würde. Dieser Glaube bedingte in der Regel ein großes Maß an Solidarität mit »Andreas« und »Ulrike«, auch wenn man deren Methoden möglicherweise für den falschen Weg hielt.
Der Konflikt mit der Realität ergibt sich aus der sinnlosen Brutalität der Anschläge in den 1980ern, die selbst für wohlwollende Linke nicht mehr zu rechtfertigen war, und dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90, nach dem eigentlich niemand mehr glauben konnte, dass demnächst die Weltrevolution stattfinden würde. An diesem Punkt hätte man nun einsehen können, dass die marxistische Geschichtstheorie schlicht und ergreifend falsch ist und die RAF in den 1980ern ein sektenartiger Haufen von armen Irren war, die aus ihrer Phantasiewelt nicht mehr herausfanden. Einfacher war es aber wohl, weiter am Glauben an die Aufrechten von Stammheim festzuhalten und die verwirrten Desperados um Hogefeld und Grams zur Inszenierung zu erklären, mit deren Hilfe die gegenrevolutionären Kräfte des Kapitalismus ein weiteres Mal die Errichtung einer besseren Welt verhindert hätten.
Chemtrails. Hier wollte ich eigentlich passen und zugeben, dass mir nichts einfällt. Aber dann zeigte ich eine erste Version dieses Artikels meiner Tochter, die besser informiert war als ich: Sie hatte gelesen, dass die angeblich so gefährlichen Flugzeug-Kondensstreifen vor allem zur Erklärung von »rätselhaften« Gesundheitsproblemen und Gehirnstörungen herangezogen werden. Könnte es also sein, dass der tief verwurzelte Glaube hier in einer pathologischen Selbstüberschätzung hinsichtlich der Robustheit des eigenen Körpers und der geistigen Leistungsfähigkeit besteht? Die bei jeder unerklärlichen Migräne oder nicht bestandenen Prüfung mit der Realität kollidiert? In dieser Hinsicht wären die Chemtrails die perfekte Verschwörungstheorie für unser Zeitalter des ungezügelten Narzissmus. Dazu greifen wahrscheinlich auch noch die anderen Erklärungsversuche, und man projiziert irgendetwas Unbewusstes in den Himmel hinein, so wie die Altvorderen, die dort Engel oder Wodans Wilde Jagd herumfliegen sahen.
Puh …
Ich breche dann mal ab, es gibt einfach zu viele Verschwörungstheorien, um auch nur einen Bruchteil davon hier zu behandeln. Immerhin kann ich feststellen, dass meine Hypothese nach einer ersten Überprüfungsrunde ganz gut dasteht. Sie würde auch erklären, warum es mehr oder weniger sinnlos ist, Verschwörungsgläubige mit Fakten zu konfrontieren, die ihren Theorien widersprechen – in der Moderne mit ihren stets prekären und wandelbaren Sinn- und Sozialzusammenhängen ist die eigene Identität der letzte Fels, an den man sich noch klammern kann, das einzige, dessen man sich sicher glaubt. Notwendigerweise wird folglich unbewusst alle verfügbare psychische Energie aufgewendet, um die Unterminierung eines einmal angenommenen Glaubens, der zum Bestandteil der Persönlichkeit geworden ist, zu verhindern, und sei es um den Preis des Ignorierens von offensichtlichen Tatsachen. Und jeder, der einen mit Argumenten überzeugen will, ist kein akzeptierter Teilnehmer an einer rationalen Diskussion, sondern eine existenzielle Bedrohung.
Die Hypothese ist auch nützlich, um den befremdlichen Umstand zu erhellen, dass man Bücher wie Geheimgesellschaften und ihre Macht im zwanzigsten Jahrhundert gerne bei Leuten im Regal findet, die ansonsten an die Macht der Kristalle und die segensreiche Wirkung der Chakren-Öffnung glauben. Das liegt zum einen sicher an der oben erwähnten »Teilhabe an elitärem Geheimwissen«, die in beiden Subkulturen verbreitet ist. Auch die penetrante Besserwisser-Pose Uneingeweihten gegenüber und das wissende Fallenlassen von rätselhaften Andeutungen gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Aber viel wichtiger ist wohl auch hier der ewige Zusammenprall mit der Realität, dem man als Esoteriker auf Dauer nicht entkommen kann. Wie ich erfreut feststellen konnte, sind auch die Schweizer Soziologinnen Chantal Magnin und Marianne Rychner schon auf diesen Gedanken gekommen:
Das – vermutlich eher häufige – Versagen esoterischer Praktiken im Alltag bei gleichzeitiger Weiterexistenz der für esoterisches Denken typischen Logik bildet so die Grundlage der Akzeptanz von Verschwörungstheorien: Irgend jemand wird ja wohl dahinterstecken, wenn es einem im täglichen Leben nicht gelingt, die kosmischen Kräfte endlich zu beherrschen, wenn das Schicksal nicht zur Chance werden will.
Bleibt am Ende die Frage, wie man damit umgehen soll. Wenn man einen Verschwörungsglauben durch Fakten nicht widerlegen kann, weil es in Wirklichkeit um die Identität des Gläubigen geht – wie ändert man eine Identität? Oder neutralisiert zumindest die schädlichen Einflüsse, die davon ausgehen? Die oben genannte Ratsperson, um zum Anfang zurückzukehren, engagiert sich natürlich nicht nur für Windkraft und gegen Hochspannungsleitungen. Sie kämpft gegen »Nazis in Nadelstreifen«, für Abrüstung und die friedliche Lösung von Konflikten. Der Internationale Frauentag ist ihr eine Herzensangelegenheit, und das Familieneinkommen wird in der Ökobaubranche erwirtschaftet. Vermutlich hat sie das Handbuch des Kriegers des Lichts gelesen. Wie macht man ihr klar, dass sie das Böse, dass sie bekämpft, zumindest teilweise selbst verursacht hat …?