Autorenblog

Kategorie: Geschichte (Seite 2 von 6)

Tage und Zeichen (3)

Am letz­ten Wochen­en­de nach län­ge­rer Zeit mal wie­der ein paar Stun­den auf der Auto­bahn ver­bracht. Ich glau­be nicht, dass es in den letz­ten hun­dert Jah­ren eine Zeit gege­ben hat, in der der­art häss­li­che Autos gebaut wurden.

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Eine Fra­ge, die ich mir in letz­ter Zeit häu­fi­ger stel­le: Wie kommt es eigent­lich, dass alle Welt immer so schnell eine Mei­nung hat …?

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Dazu Zen-Meis­ter Eck­hart: »Gott ist immer in uns, wir sind nur so sel­ten zu Hause.«

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Inter­es­san­tes Kon­zept des mit­tel­al­ter­li­chen ara­bi­schen His­to­ri­kers Ibn Chal­dun: Asa­bi­y­ya ist das Maß an inne­rer sozia­ler Kohä­renz und Loya­li­tät, das es einem Gemein­we­sen erlaubt, har­te Zei­ten durch­zu­ste­hen, Opfer für das gemein­sa­me Wohl­erge­hen zu brin­gen und sich gegen Fein­de durch­zu­set­zen. In Gesell­schaf­ten mit hoher Asa­bi­y­ya herrscht hohes gegen­sei­ti­ges Ver­trau­en, die Men­schen schlie­ßen sich oft zu Inter­es­sen­grup­pen zusam­men, sie sind in der Lage, auch grö­ße­re Insti­tu­tio­nen zu grün­den und auf­recht­zu­er­hal­ten, und sie sind auch eher bereit, etwas für Mit­bür­ger zu tun, die vom Glück nicht so ver­wöhnt sind. Gesell­schaf­ten mit gerin­ger Asa­bi­y­ya hin­ge­gen ken­nen kaum Soli­da­ri­tät über den Kreis der eige­nen Fami­lie hin­aus, und ihre Mit­glie­der betrach­ten alle Arten von über­grei­fen­den Orga­ni­sa­tio­nen (ob staat­lich oder nicht-staat­lich) eher als zu bekämp­fen­de Fein­de denn als gemein­sa­me »öffent­li­che Sache«. Man kann im Lau­fe der Zeit einen hohen Grad an Asa­bi­y­ya auch wie­der ver­lie­ren, wie etwa das Bei­spiel Süd­ita­li­en zeigt, das von einem Kern­ge­biet des Römi­schen Reichs (maxi­ma­le Asa­bi­y­ya) nach des­sen Zusam­men­bruch zum Schwar­zen Loch wur­de, in dem seit Jahr­hun­der­ten jede Art von über­fa­mi­liä­rer Soli­da­ri­tät spur­los ver­schwin­det. Das Ergeb­nis: eine Fremd­herr­schaft nach der ande­ren, die Schat­ten­welt der kri­mi­nel­len Fami­li­en­clans, ein hohes Maß an inner­ge­sell­schaft­li­cher Gewalt, eine All­tags­kul­tur des Trick­sens und Täuschens.

Wo ste­hen wir in die­ser Hin­sicht? Der rus­sisch-ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ker Peter Tur­chin, dem ich die­se Ein­sich­ten ver­dan­ke, bil­ligt den Deut­schen in sei­nem Buch War and Peace and War eine tra­di­tio­nell sehr hohe Asa­bi­y­ya zu, und noch vor eini­gen Jah­ren hät­te ich den Gedan­ken, das Mut­ter­land des Ver­eins­we­sens und der frei­wil­li­gen Feu­er­wehr wür­de irgend­wann in Rich­tung Sizi­li­en umkip­pen, als absurd abge­tan. Mitt­ler­wei­le bin ich mir da nicht mehr so sicher.

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Beten, bitte!

Die Dür­re hält uns Nord­deut­sche jetzt schon seit Mona­ten in den Kral­len.  Lang­sam macht es wirk­lich kei­nen Spaß mehr, sich jeden Tag in den Gar­ten zu schlep­pen und den Was­ser­schlauch auf die neur­al­gi­schen Punk­te zu rich­ten. Und die Schaf­wei­de sieht aus wie die Sahel­zo­ne … Was also tun? Wie man das in frü­he­ren Zeit­al­tern regel­te, zeigt uns exem­pla­risch Con­rad Lud­wig Lam­precht, von 1765 bis 1786 der hie­si­ge Dorf­pfar­rer. Das Wet­ter war wohl vergleichbar:

Anno 1783 und 1784
War den Som­mer über eine so gro­ße Dür­re, daß das Som­mer­korn nicht zum Lau­fen kom­men konn­te, wir hat­ten des­falls eine sehr gerin­ge Ern­te an Heu und Korn. Zum Beweis füh­re an, da die Pfar­re von dem Brei­ten Lan­de sonst wohl 7 bis 8 Fuder Heu ein­ern­tet, so erhielt nur ½ Fuder, und statt 700 Schock auch noch nicht 275 Schock eingeerntet.

Dage­gen ist der dies­jäh­ri­ge Ern­te­aus­fall gera­de­zu lächer­lich … Und was mach­te man damals in so einem Fall? Genau! Und hat’s funk­tio­niert? Na klar:

Der Höchs­te gab im Herbst frucht­ba­re Wit­te­rung, daß die Wie­sen ein dem hie­si­gen Gebrauch zum 2ten mal gemäht, und das Vieh bis nahe dem Win­ter sein Fut­ter in Wie­sen und Fel­dern suchen könn­te. Wäre nicht noch sol­che frucht­ba­re Zeit gekom­men, so hät­te viel Vieh ver­schmach­ten müßen.

Es wäre also wohl an der Zeit, ent­spre­chen­de Maß­nah­men ein­zu­lei­ten! Für Nicht-Chris­ten tut’s viel­leicht auch die nie­der­säch­si­sche Elfen­be­auf­trag­te

Ideale und was daraus werden kann

Ges­tern mit den Kin­dern Iron Sky geschaut. Ihnen hat er durch­aus gefal­len, ich hin­ge­gen fin­de wei­ter­hin, dass Götz Otto nicht gera­de ein gro­ßer Schau­spie­ler ist, den Wit­zen Timing und Tem­po fehlt, und die Leu­te unpas­sen­der­wei­se alle Eng­lisch reden wie in einem ame­ri­ka­ni­schen College-Wohnheim.

Sei’s drum. Wenn Regis­seur Timo Vuo­ren­so­la auch nicht gera­de der nächs­te Bil­ly Wil­der oder David Zucker ist, so hat er doch eine Sze­ne ins Dreh­buch geschrie­ben, die einem mehr über den his­to­ri­schen Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­rät als so man­che lang­at­mi­ge Geschichts-Doku. Es han­delt sich um Rena­te Rich­ters nai­ve klei­ne Anspra­che im Büro der US-Prä­si­den­tin, in der sie die Idea­le der Mond-Nazis vorstellt.

Die Wor­te sind ein biss­chen unbe­hol­fen (wie der gan­ze Film), aber es lohnt sich durch­aus, sie hier wiederzugeben:

It’s very simp­le: the world is sick – but we are the doc­tors. The world is ana­emic – but we are the vit­amins. The world is wea­ry – but we are the strength. We are here to make the world healt­hy once again. With hard work. With hones­ty. With cla­ri­ty. With decen­cy. We are the pro­duct of loving mothers and bra­ve fathers. We are the embo­di­ment of love and bra­very. We are the gift of both God and sci­ence. We are the ans­wer to the ques­ti­on. We are the pro­mi­se deli­ve­r­ed to all mankind.

Die deut­sche Syn­chro­ni­sa­ti­on scheint mir nicht sehr prä­zi­se, von daher rasch eine eige­ne Übersetzung:

Es ist sehr ein­fach. Die Welt ist krank – aber wir sind die Hei­ler. Die Welt ist blut­leer – aber wir sind der Vit­am­in­stoß. Die Welt ist müde – aber wir sind die Kraft. Wir sind gekom­men, um die Welt wie­der gesund zu machen. Mit har­ter Arbeit. Mit Auf­rich­tig­keit. Mit Klar­heit. Mit Anstand. Wir sind das Pro­dukt lie­be­vol­ler Müt­ter und tap­fe­rer Väter. Wir sind die Ver­kör­pe­rung von Lie­be und Tap­fer­keit. Wir sind die Gabe sowohl Got­tes als auch der Wis­sen­schaft. Wir sind die Ant­wort auf die Fra­ge. Wir sind das Ver­spre­chen, dass der gesam­ten Mensch­heit gege­ben wurde.

Im Film wird die Rede dann als genia­le PR-Idee ver­kauft, mit der die (Sarah Palin nach­ge­bil­de­te) US-Prä­si­den­tin ihre Wie­der­wahl sichern will. Eine umju­bel­te Wahl­kampf­ver­an­stal­tung wird gezeigt. Das poli­ti­sche Sys­tem und die Öffent­lich­keit der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, das will der Film uns damit sagen, sind anfäl­lig für die Über­nah­me faschis­ti­scher Ideale.

Ange­sichts der bes­tia­li­schen his­to­ri­schen Rea­li­tä­ten erschei­nen Rena­tes vor Opti­mis­mus sprü­hen­de Wor­te natür­lich (was wohl beab­sich­tigt ist) als kom­plett gaga. Aber ich glau­be, sie ent­hal­ten eine tie­fe­re Wahr­heit: Wir sind es mitt­ler­wei­le gewohnt, »Nazis« in Film und Lite­ra­tur als sadis­ti­sche Unmen­schen prä­sen­tiert zu bekom­men, deren ein­zi­ge Moti­va­ti­on dar­in zu bestehen scheint, ande­ren Men­schen lust­voll Böses anzu­tun. In der Regel han­delt es sich um sinist­re Typen mit Schmiss auf der Wan­ge und Leder­hand­schu­hen, die ger­ne mal die Pis­to­le zücken und irgend­wen aus einem Impuls her­aus erschie­ßen. Dum­me Skla­ven ihrer eige­nen Macht­geil­heit. Und wenn sie intel­li­gent sind, sind es intel­li­gen­te, char­man­te Sadis­ten wie Chris­toph Waltz’ SS-Stan­dar­ten­füh­rer Landa.

Es soll­te einem klar sein, dass die his­to­ri­schen Nazis sich in die­sem Bild nicht im gerings­ten wie­der­fin­den wür­den. Aus eige­ner Sicht waren sie statt­des­sen auf­op­fe­rungs­be­rei­te Idea­lis­ten, die einen Wan­del zum Bes­se­ren her­bei­füh­ren woll­ten und deren Vor­stel­lun­gen durch­aus zu jenen pas­sen, die Rena­te in ihrer Rede prä­sen­tiert. Die Nazis haben die Sho­ah nicht in Gang gesetzt, weil sie unheil­ba­re Sadis­ten oder von nebu­lö­sem »Hass« beherrscht waren, son­dern weil sie die Juden als »Krank­heit« betrach­tet haben, die aus­ge­merzt wer­den muss­te, um die Welt zu hei­len. Sie haben sich eben­so wie die Anhän­ger von »Mond­füh­rer Kort­z­fleisch« als Ant­wort auf die müde Deka­denz des Bür­ger­tums gese­hen. Auch der Ver­such des Faschis­mus, den Kreis aus archai­schem reli­giö­sen Den­ken und tech­ni­scher Moder­ne ins Qua­drat zu brin­gen, ist in der Phra­se von der »Gabe sowohl Got­tes als auch der Wis­sen­schaft« prä­gnant zusam­men­ge­fasst. Wenn man die­sen Idea­lis­mus nicht ver­steht, ver­steht man weder Himm­lers berüch­tig­te Pose­ner Rede noch den bizar­ren Umstand, dass jah­re­lang Res­sour­cen in einen mili­tä­risch völ­lig sinn­lo­sen Ver­nich­tungs­ap­pa­rat gesteckt wur­den, obwohl die Wehr­macht an allen Fron­ten in der Defen­si­ve war. Es muss­ten eben Opfer gebracht wer­den – und wenn es das eige­ne Volk war.

Das heißt natür­lich um Got­tes Wil­len nicht, dass die­se Idea­le auch nur beden­kens­wür­dig wären (was man in Zei­ten des »Vogel­schiss« wohl beto­nen muss), aber es soll­te – darf ich »idea­ler­wei­se« schrei­ben? – zu einem gewis­sen Miss­trau­en füh­ren. Es glaubt ja jeder, der mit hei­ßem Her­zen ein Ide­al ver­folgt, dass er höhe­ren Wahr­hei­ten ver­pflich­tet ist, mit dem Her­zen immer nur das Rich­ti­ge sieht und Wider­stän­de aus­schließ­lich der Dumm­heit der ver­blen­de­ten Mit­men­schen zu ver­dan­ken sind. Könn­te sein. Könn­te aber auch sein, dass man sich genau­so irrt wie damals die brau­ne Ban­de und genau wie bei die­ser irgend­wer hin­ter­her die Trüm­mer weg­räu­men muss …

Che und ich

Immer die­se Kin­der­fra­gen … Jetzt woll­te mein Sohn wis­sen, war­um jun­ge Leu­te eigent­lich meis­tens »links« sind. Ich muss­te natür­lich sofort an den wahl­wei­se Win­s­ton Chur­chill oder Bert­rand Rus­sell zuge­schrie­be­nen Spruch den­ken, nach dem man kein Herz hat, wenn man mit zwan­zig kein Sozia­list ist, aber kei­nen Ver­stand, wenn man die­ser Welt­an­schau­ung mit vier­zig immer noch anhängt. Mei­ne Frau hin­ge­gen erin­ner­te mich süf­fi­sant grin­send an mein altes Che-Gue­va­ra-T-Shirt, das ich vor etli­chen Jah­ren bei den Bau­ar­bei­ten hier auf­ge­tra­gen habe. Tat­säch­lich kann ich nicht völ­lig leug­nen, in mei­ner Jugend bis zu einem gewis­sen Grad dem damals weit ver­brei­te­ten Aber­glau­ben ange­han­gen zu sein, man müs­se das, was hin­ter dem Eiser­nen Vor­hang so kra­chend und offen­sicht­lich geschei­tert war, unter dem Vor­zei­chen von Öko­lo­gie, Anti-Dog­ma­tis­mus und Jimi Hen­drix noch­mal ganz neu in Angriff nehmen.

Aber war­um? Bezie­hungs­wei­se, war­um glau­be ich das jetzt nicht mehr …? Viel­leicht spielt ja jugend­li­cher Über­mut eine Rol­le, revo­lu­tio­nä­re Begeis­te­rung, die Hor­mo­ne und so wei­ter. Die ver­strahl­ten Typen, die letz­ten Som­mer beim G20-Gip­fel in Ham­burg Bar­ri­ka­den­kampf gespielt haben, schie­nen voll davon zu sein. Aber das sind bestimmt auch »Hoo­li­gans gegen Sala­fis­mus« oder »Sala­fis­ten gegen ungläu­bi­ge Hun­de«. Das gan­ze zwan­zigs­te Jahr­hun­dert war ja eigent­lich eine ein­zi­ge Geis­ter­bahn, in der hin­ter jeder Kur­ve eine neue, wüten­de Jugend­be­we­gung her­vor­ge­sprun­gen kam, egal unter wel­cher Flag­ge. Hor­mo­ne sind, wie mir scheint, welt­an­schau­ungs­mä­ßig flexibel.

Viel eher geht es um die Kraft des rei­nen Her­zens. Als zwan­zig­jäh­ri­ger Stu­dent kann man in der Regel auf vol­le zwei Jahr­zehn­te zurück­bli­cken, in denen der eige­ne Bei­trag zum Lebens­un­ter­halt eben­so beschei­den aus­ge­fal­len ist wie die per­sön­li­che Mit­wir­kung an der Steue­rung des Gemein­we­sens, zu dem man gehört. Das ver­führt dann bei­spiels­wei­se dazu, »Reich­tum« als etwas zu betrach­ten, das irgend­wie auf über­na­tür­li­che Wei­se von selbst da sei und nur »gerecht ver­teilt« wer­den müs­se – so wie die Geschwis­ter­schar die gerech­te Ver­tei­lung des Taschen­gelds von den Eltern ein­for­dert. Und die Poli­tik gerät zum Kas­per­le­thea­ter, in dem das böse, gie­ri­ge Kro­ko­dil besiegt wer­den muss, das – als Poli­ti­ker, Ban­ker oder Arbeit­ge­ber­prä­si­dent getarnt – der gerech­ten Ver­tei­lung im Wege steht.

Etwas pom­pö­ser aus­ge­drückt: Man sieht die Welt vor allem im Ide­al gespie­gelt. Und sind Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit nicht wun­der­ba­re Idea­le? Ganz zu schwei­gen von Ver­nunft, Huma­ni­tät und Gerech­tig­keit …! Wenn man jung ist, liebt man Idea­le. Sie erlau­ben es einem, in die Hel­den­rol­le zu schlüp­fen, in der man sich in die­sem Lebens­al­ter ger­ne sieht – nicht zuletzt wegen der, ähem, vor­teil­haf­ten Wir­kung auf das ande­re Geschlecht natür­lich. Man stürmt in die Welt hin­ein im Voll­ge­fühl der eige­nen Recht­schaf­fen­heit und sucht über­all nach Dra­chen, die man besie­gen kann. Und selbst­ver­ständ­lich kämpft man nicht aus Ego­is­mus, son­dern dafür, arme, unter­drück­te Proletarier/Drittweltbewohner/Minderheiten, die aus irgend­wel­chen geheim­nis­vol­len Grün­den nicht in der Lage sind, selbst für ihre Inter­es­sen ein­zu­tre­ten, aus den Klau­en der Bes­tie zu befreien …

Wenn man Glück hat, nimmt einen das Leben spä­ter sanft bei der Hand und zeigt einem anhand aus­ge­wähl­ter Bei­spie­le, dass vor dem Reich­tum meis­tens ein Rie­sen­hau­fen Arbeit steht, statt eines glän­zen­den Sie­ges häu­fig nur das klei­ne­re Übel zur Wahl steht und das Gegen­teil einer schlech­ten Idee meist eine noch schlech­te­re ist. Wenn man Pech hat, haben ein oder zwei grö­ße­re per­sön­li­che Kata­stro­phen exakt die glei­che Wir­kung. Das Ergeb­nis ist – hof­fent­lich – eine gewis­se Nüch­tern­heit und Skep­sis sowie die Erkennt­nis, dass ande­re Leu­te ihre Bedürf­nis­se meist ganz gut selbst arti­ku­lie­ren kön­nen und jedes Ide­al, das man bis in die letz­te Kon­se­quenz zu ver­wirk­li­chen sucht, mit ziem­li­cher Sicher­heit gera­de­wegs in die tota­li­tä­re Höl­le führt. Gleich­heit etwa ist eine tol­le Sache, wenn es dar­um geht, dass vor dem Gesetz nie­mand bevor­zugt wird. Wenn man aller­dings wei­ter­geht und for­dert, dass jeder Mensch tat­säch­lich gleich sein soll (obwohl doch jeder von uns eine eige­ne Welt ist), endet man aller Erfah­rung nach in der Gleich­heit des sibi­ri­schen Arbeitslagers.

Aber das weiß man natür­lich noch nicht, wenn man sei­ne Nase zum ers­ten Mal aus der Tür der Kind­heit her­aus­steckt. Ich glau­be, ich war vier­zehn oder fünf­zehn, als ich spon­tan in der Buch­hand­lung der nächs­ten Klein­stadt ein Taschen­buch mit den Wer­ken von Marx und Engels erwarb und von vor­ne bis hin­ten durch­las – ohne groß zu begrei­fen, um was es ging, ver­steht sich. Aber es kam der Satz dar­in vor, dass Reli­gi­on das »Opi­um des Vol­kes« sei, und das gefiel mir, hat­te ich doch gera­de im Ver­lauf des Kon­fir­man­den­un­ter­richts unver­se­hens mei­nen Glau­ben ver­lo­ren. Irgend so ein alter Kna­cker mit Bart, der in den Wol­ken sitzt? Was woll­te der denn …

Womit ein wei­te­rer Fak­tor für die Beliebt­heit sozia­lis­ti­scher Vor­stel­lun­gen bei der Jugend ange­spro­chen ist. Sie glei­chen vage bestimm­ten christ­li­chen Wer­ten, ohne dass man dafür an über­na­tür­li­che Wesen glau­ben muss. Und es ist genau­so unmög­lich, sie eins zu eins in die Rea­li­tät umzu­set­zen: Rein theo­re­tisch klingt es ja abso­lut groß­ar­tig, die ande­re Wan­ge hin­zu­hal­ten und sei­nen Man­tel mit einem Bett­ler zu tei­len. Man sieht sich schon höchst­per­sön­lich selbst auf dem Pferd sit­zen und dem armen Hund da unten am Boden voll Mit­ge­fühl die hal­be Toga rei­chen … Im All­tag läuft es dann aller­dings ein biss­chen anders – wel­cher Unter­neh­mer etwa könn­te sich stets an Matth. 5, 40 hal­ten (»Und wenn jemand mit dir rech­ten will und dir dei­nen Rock neh­men, dem lass auch den Man­tel«), ohne mit­tel­fris­tig Bank­rott erklä­ren zu müs­sen? Man gibt also ab und zu ein klei­nes Stück­chen Man­tel ab und hofft, dass man dadurch das Kamel doch noch irgend­wie durchs Nadel­öhr zwängt. So, wie man für die Revo­lu­ti­on kämpft, ohne auf teu­re Zigar­ren und Rolex-Uhren zu verzichten.

Und dann gibt es natür­lich immer die Ver­lo­ckung, in die Haut des roman­ti­schen Hel­den zu schlüp­fen, der wie der Wan­de­rer über dem Nebel­meer allem Irdi­schen ent­sagt und sich ganz der Sache des Vol­kes ver­schreibt … Das letz­te Mal, als ich so rich­tig Sym­pa­thien für eine lin­ke Bewe­gung emp­fand, war in den 1990ern, als ein gewis­ser »Sub­co­man­dan­te Mar­cos« mit einer Kis­te Bücher aus Mexi­ko-Stadt in den lakan­do­ni­schen Urwald zog, um unter dem Schlacht­ruf »Alles für alle, nichts für uns!« für die Rech­te der Indi­ge­nen zu kämp­fen und »Inter­ga­lak­ti­sche Tref­fen gegen den Neo­li­be­ra­lis­mus« zu ver­an­stal­ten. Natür­lich hat­te der Mann schwer einen an der Waf­fel – aber geht’s noch poe­ti­scher …? Zur glei­chen Zeit las ich aller­dings Ches Boli­via­ni­sches Tage­buch, das mit sei­nem Exis­ten­zia­lis­mus der ver­zwei­fel­ten Iso­la­ti­on das völ­lig humor­lo­se Gegen­stück zu den drol­li­gen Aktio­nen der mexi­ka­ni­schen Zapa­tis­ten bildete.

Das war wahr­schein­lich der Anfang vom Ende. Je län­ger ich die Aben­teu­er des argen­ti­ni­schen Ex-Arz­tes nach­ver­folg­te, der in völ­li­ger Ver­ken­nung der Sach­la­ge und blin­dem Aktio­nis­mus ver­such­te, mit einer Hand­voll Despe­ra­dos, die den bom­bas­ti­schen Namen »Natio­na­le Befrei­ungs­ar­mee« trug, in Boli­vi­en eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­ti­on her­bei­zu­füh­ren, des­to frem­der wur­de mir das alles. Die beson­de­ren Umstän­de, die in Kuba zum Erfolg geführt hat­ten, waren eben spe­zi­fisch kuba­nisch und hat­ten nichts mit irgend­ei­ner welt­ge­schicht­li­chen Dia­lek­tik tun, als deren Erfül­lungs­ge­hil­fen sich der Coman­dan­te und sei­ne Mit­strei­ter sahen. Der Anden­staat war statt­des­sen nichts wei­ter als die Kulis­se für einen Film, in dem sie die Haupt­rol­le spiel­ten. Ich konn­te mich immer weni­ger mit die­ser beson­ders däm­li­chen Ver­kör­pe­rung von Rous­se­aus »Volon­té gene­ra­le« iden­ti­fi­zie­ren, einer selbst ernann­ten Avant­gar­de also, die mein­te, bes­ser als das Volk zu wis­sen, was das Volk wollte.

Was wie­der­um Erin­ne­run­gen an den Zwie­spalt wach­rief, in den mich die radi­ka­le Lin­ke in gewis­ser Wei­se von Anfang an gebracht hat­te. Ich bin Arbei­ter­sohn, und die ein paar Jah­re älte­ren Arzt- und Leh­rer­kin­der, die in der Fuß­gän­ger­zo­ne der erwähn­ten Klein­stadt die Kom­mu­nis­ti­sche Volks­zei­tung ver­teil­ten und mei­nen Vater zur Revo­lu­ti­on auf­sta­cheln woll­ten, erfüll­ten mich schon als Drei­zehn­jäh­ri­gen mit einer gehö­ri­gen Por­ti­on Befremd­nis. Arbei­ter sind kei­ne Arbei­ter, weil sie von bösen Mäch­ten dazu gezwun­gen wur­den, son­dern weil das eben der Weg war, der ihnen im Leben offen­stand. Und das wis­sen die meis­ten von ihnen. Wenn ihnen jemand zu erzäh­len ver­sucht, die »Arbei­ter­klas­se« sei in Wirk­lich­keit ein Vehi­kel, mit des­sen Hil­fe »die Geschich­te« vor­ha­be, den kom­mu­nis­ti­schen Him­mel auf Erden zu errich­ten, wer­den sie schnell miss­trau­isch und rie­chen den Bra­ten. Der in der Regel dar­aus besteht, dass ein paar ver­krach­te Bohe­mi­ens auf ihrem Rücken ver­su­chen, die Macht im Staat an sich zu rei­ßen. So ganz habe ich das – bei allen Sym­pa­thien für den Kampf gegen Aus­beu­tung und Unter­drü­ckung – nie vergessen.

Das Schlim­me war ja ohne­hin, dass die­ser Kampf nicht nur in Boli­vi­en in der Regel gera­de­wegs ins Nichts führ­te. Von den mexi­ka­ni­schen Zapa­tis­ten etwa war am Ende nur noch lee­re Sym­bo­lik zu hören. Hier eine Pres­se­kon­fe­renz, dort eine Demo, schließ­lich eine groß­ar­ti­ge Erklä­rung, die eine noch groß­ar­ti­ge­re Kon­fe­renz ankün­dig­te, und immer wie­der inter­na­tio­na­le Tref­fen, zu denen (um ein böses Wort zu zitie­ren) »trust-fund babies« aus aller Welt anreis­ten, also Berufs­söh­ne und ‑töch­ter, die nach San Cris­tó­bal de las Casas pil­ger­ten, um die total authen­ti­schen Indi­ge­nen ken­nen­zu­ler­nen, die sie von der Pla­ge eben jenes Neo­li­be­ra­lis­mus befrei­en soll­ten, dem sie ihren monat­li­chen Scheck ver­dank­ten. Eine Befrei­ungs­ar­mee, die nichts befrei­te. Eine Revo­lu­ti­on, die nichts revo­lu­tio­nier­te. Eine Wider­stands­be­we­gung, die sich dar­in erschöpf­te, die Jung­stein­zeit gegen die Moder­ne zu verteidigen.

Und so ende­te das T‑Shirt mit el Che vor­ne drauf dann als Arbeits­klei­dung auf dem Bau. Eigent­lich ein ange­mes­sen pro­le­ta­ri­scher Rah­men, fin­de ich. Mein Vater – mitt­ler­wei­le Rent­ner – ver­lor kein Wort dar­über, wäh­rend wir Sei­te an Sei­te dar­an arbei­te­ten, die Lat­ten für die Däm­mung an die Dach­bal­ken zu schrau­ben. Wahr­schein­lich wun­der­te er sich ins­ge­heim ein biss­chen, aber letzt­end­lich war das Kon­ter­fei des berühm­ten Revo­lu­tio­närs für ihn bloß ein flüch­ti­ges Bild, das gele­gent­lich über sei­nen Fern­seh­schirm gehuscht war. Der Glückliche …

Bin ich also heu­te »rechts«? Also, bit­te … In den Schoß der Kir­che bin ich nicht zurück­ge­kehrt, und Leu­te, die ihre Stel­lung ihrem Nach­na­men, ererb­ten Mil­lio­nen oder Vit­amin B ver­dan­ken, kann ich wei­ter­hin nicht ernst neh­men. Aber ich glau­be auch, dass der Mensch einen irre­du­zi­blen Kern hat, der weder durch Erzie­hung, noch durch Arbeits­la­ger oder noch so aus­ge­klü­gel­tes »Nud­ging« ver­än­dert wer­den kann. Und dass eine funk­tio­nie­ren­de, natio­nal- und sozi­al­staat­lich orga­ni­sier­te libe­ra­le Demo­kra­tie ohne impe­ria­lis­ti­sche Ambi­tio­nen eine aus­ge­spro­chen wert­vol­le his­to­ri­sche Errun­gen­schaft ist, die man nicht leicht­fer­tig uto­pi­schen Phan­tas­te­rei­en opfern darf. Wahr­schein­lich bin ich also ein »Alt-1848er«. Nicht zufäl­lig ist die erfolg­lo­se Revo­lu­ti­on damals immer noch der Teil der deut­schen Geschich­te, der mir am meis­ten Gän­se­haut verursacht.

Und die edlen Idea­le? Sol­len mei­ne Kin­der groß wer­den, ohne jemals das süße Gift der brü­der­li­chen Gemein­schaft aller Men­schen genos­sen zu haben …? Nun, die Ableh­nung eines Extrems bedeu­tet ja nicht, dass man den zugrun­de lie­gen­den Wert ins­ge­samt ablehnt – der Mensch ist eben­so wenig ganz und gar brü­der­lich, wie er aus­schließ­lich in Kon­kur­renz zuein­an­der leben kann. Wo genau der Kom­pro­miss liegt, den man zwi­schen den bei­den Extre­men fin­det, wird immer Gegen­stand des poli­ti­schen Streits blei­ben. Und mei­nen Kin­dern wün­sche ich (inso­fern ich mich da über­haupt ein­mi­sche), dass sie im Leben ein paar Umwe­ge weni­ger gehen müs­sen als ich …

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