Die gegen­wär­ti­ge Kri­se der Euro­päi­schen Uni­on ist so tief­grei­fend, dass man einer­seits Lust hat, den gan­zen Laden in die Luft zu spren­gen, ande­rer­seits drängt sich einem dann doch wie­der der Aus­weg auf, nun erst recht ein ver­ein­tes Euro­pa zu schaf­fen, das dann wenigs­tens eini­ger­ma­ßen kon­sis­tent agie­ren und die gewal­ti­gen Struk­tur­re­for­men ange­hen könn­te, die für eine lang­fris­ti­ge Ret­tung der gemein­sa­men Wäh­rung und die Gewähr­leis­tung einer gemein­sa­men Außen­po­li­tik nötig wären.

Aber bevor man sich wil­den Blü­ten­träu­men hin­gibt, soll­te man viel­leicht doch noch mal kurz ein wenig nach­den­ken. Wie wür­de wohl ein sol­cher euro­päi­scher Super­staat aus­se­hen? Gott sei Dank gibt es das Pro­ject for Demo­cra­tic Uni­on, einen in Mün­chen und Lon­don ansäs­si­gen »Think Tank«, der sich bereits vie­ler­lei Gedan­ken zu die­ser Fra­ge gemacht hat. Dahin­ter steht der iri­sche, in Cam­bridge täti­ge Geschichts­pro­fes­sor Bren­dan Simms (angeb­lich von Schäub­le ver­ehrt), der die Zukunft der Uni­on lang­fris­tig in den »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa« sieht. Am Ende wür­de Groß­bri­tan­ni­en sei­ner Mei­nung nach wohl nicht dazu­ge­hö­ren, aber den Bre­x­it fin­det er ver­früht. Erst sol­le die Euro-Zone einen Bun­des­staat grün­den, dann kön­ne das Ver­ei­nig­te König­reich aus­tre­ten, ohne dass es zu grö­ße­ren Ver­wer­fun­gen käme.

Wie dem auch sei – das neue Euro­pa soll die­ser Visi­on nach einen direkt gewähl­ten Prä­si­den­ten sowie ein Zwei­kam­mer­par­la­ment mit Abge­ord­ne­ten­haus und Senat nach US-Vor­bild bekom­men. Aus­wär­ti­ge Ange­le­gen­hei­ten, Ban­ken­auf­sicht und Wäh­rung wären für­der­hin eine rei­ne Uni­ons­an­ge­le­gen­heit, eben­so wie das Kom­man­do über eine ein­heit­li­che euro­päi­sche Armee, deren aus­schließ­li­che Dienst­spra­che – eben­so wie die ein­zig zuläs­si­ge Ver­wal­tungs­spra­che – Eng­lisch wäre. Das fran­zö­si­sche Nukle­ar­ar­se­nal wür­de in die Hän­de der VSE, Ver­zei­hung, USE über­ge­hen, deren jun­ge Bür­ger alle ver­pflich­tet wären, ein Jahr Bür­ger- oder Wehr­dienst zu leis­ten. Außer­dem wären alle natio­na­len Staats­schul­den in euro­päi­sche Schuld­ver­schrei­bun­gen zu über­füh­ren. Frei­han­del wäre nur mit »ech­ten Demo­kra­tien« erlaubt.

Na ja. Wenn ich ehr­lich bin, gefällt mir davon nur der Teil mit dem all­ge­mei­nen Bür­ger­dienst. Nicht, dass ich Angst hät­te, in einer sol­chen Welt nicht bestehen zu kön­nen – ich habe Anglis­tik stu­diert und arbei­te neben der Schrift­stel­le­rei seit Jah­ren in einer län­der­über­grei­fend täti­gen Bran­che, die täg­lich die Kom­mu­ni­ka­ti­on auf Eng­lisch mit Kol­le­gen und Geschäfts­part­nern auf der gan­zen Welt erfor­dert. Ich könn­te pro­blem­los ein eng­lisch­spra­chi­ges Behör­den­for­mu­lar ver­ste­hen und aus­fül­len, und falls mich in den neu­en Armed For­ces of Euro­pe noch mal jemand zu einer Reser­vis­ten­übung ein­zie­hen soll­te, wür­de ich sogar wis­sen, dass ein laut­hals gebrüll­tes Etwas, das wie »ten-hut« klingt, in Wirk­lich­keit »Still­ge­stan­den« bedeutet.

Ich wür­de mir aller­dings hoch­gra­dig däm­lich dabei vor­kom­men. Und über­haupt, was machen die Leu­te, die nicht Anglis­tik stu­diert haben? Machen wir uns nichts vor – die allei­ni­ge Ver­wen­dung von Eng­lisch als Ver­wal­tungs­spra­che wäre zwar prak­tisch, weil der gan­ze teu­re Über­set­ze­r­ap­pa­rat weg­fie­le, aber kurz- und mit­tel­fris­tig wür­den dadurch gro­ße Tei­le der euro­päi­schen Bevöl­ke­rung von der Betei­li­gung am öffent­li­chen und poli­ti­schen Leben aus­ge­schlos­sen, lang­fris­tig bedeu­te­te es das Absin­ken der euro­päi­schen Kul­tur­spra­chen (außer Eng­lisch natür­lich) auf den Sta­tus von rus­ti­ka­len Dialekten.

Für jeman­den, der Bücher in einer die­ser Spra­chen schreibt, sind das kei­ne son­der­lich attrak­ti­ven Per­spek­ti­ven. »Die Spra­che ist das Haus des Seins«, hat mal so ein knor­ri­ger Typ aus dem Schwarz­wald geschrie­ben – in die­ser Hin­sicht ist mir das Eng­li­sche ein sehr beque­mes Rei­se­zelt, aber es wird nie­mals mein Zuhau­se sein. Und der Mensch ist nun ein­mal ein Gemein­schafts­tier: In ein paar Genera­tio­nen wür­den wahr­schein­lich die meis­ten Euro­pä­er die offi­zi­el­le Spra­che der Uni­on so gut spre­chen, dass sie am öffent­li­chen Leben teil­ha­ben könn­ten, aber im Gegen­zug wären ihnen die Wer­ke Alfred Döblins oder Dario Fos (um mal nicht die übli­chen Ver­däch­ti­gen zu nen­nen) irgend­wann so fremd wie uns Nord­deut­schen heu­te Reyn­ke de vos, der auch mal Welt­li­te­ra­tur war und heu­te nur noch von ein paar beson­ders aus­ge­bil­de­ten Phi­lo­lo­gen gele­sen wird.

Nicht schlimm? Doch, sehr schlimm. Spra­chen sind nicht aus­tausch­bar, jede zwingt dem Spre­cher eine spe­zi­el­le Welt­sicht, eine spe­zi­el­le Denk­wei­se, ein spe­zi­el­les Flair auf; wenn sie ster­ben, ist all das unwi­der­ruf­lich ver­lo­ren. Und das ist noch nicht alles: Mei­ne Mut­ter­spra­che ist so wenig aus­tausch­bar wie mein typi­sches Beneh­men oder mei­ne Ant­wort auf die Fra­ge: Mögen Sie Fuß­ball? Wer mei­ne Spra­che angreift, greift mich selbst an. (Ich lek­to­rie­re ziem­lich viel und habe bei die­ser Tätig­keit sehr schnell begrif­fen, dass man die sprach­li­chen Fähig­kei­ten ande­rer Men­schen nur sehr vor­sich­tig kri­ti­sie­ren darf, weil man damit gleich­zei­tig ihre Per­sön­lich­keit in Fra­ge stellt.)

Im Grun­de läuft natür­lich alles auf den wohl­be­kann­ten Kampf »Uni­ver­sa­lis­mus der Auf­klä­rung gegen gewach­se­ne Kul­tur« hin­aus. Wir haben im Stu­di­um mal eine mode­rier­te Auf­füh­rung des Films Kol­berg gese­hen, der 1943/44 gedreht wur­de, um den Durch­hal­te­wil­len der Deut­schen gegen Kriegs­en­de zu stär­ken. Das ist natür­lich ein ganz schreck­li­cher Nazi-Pro­pa­gan­da-Schin­ken, die damit inten­dier­te Gleich­set­zung des aggres­si­ven hit­ler­schen Raub­kriegs mit dem Ver­tei­di­gungs­krieg der Preu­ßen gegen Napo­le­on aber­wit­zig und der Mate­ri­al­ver­schleiß für die Dreh­ar­bei­ten ange­sichts der dama­li­gen Nöte der Bevöl­ke­rung schlicht obszön.

Aber manch­mal wach­sen eben auch auf einem Mist­hau­fen Blu­men. In einer Sze­ne des Films stößt der Bau­ern­sohn Claus, der in Straß­burg stu­diert hat und sich als »Welt­bür­ger« ver­steht, unter »Vive l’empereur«-Rufen mit den fran­zö­si­schen Sol­da­ten an, die den Hof sei­nes Vaters besetzt haben. Dem gefällt das natür­lich gar nicht, und zwangs­läu­fig wird der arme Jun­ge spä­ter der Pro­pa­gan­dadra­ma­tur­gie zum Opfer gebracht, weil ihm sei­ne alber­ne Gei­ge wich­ti­ger ist als die Ver­tei­di­gung der Hei­mat­stadt. Geschenkt – ent­schei­dend ist, dass sei­ne Hal­tung den Grund­wi­der­spruch der Epo­che wider­spie­gelt: Alle Men­schen wer­den Brü­der, aber nur, wenn sie im Gegen­zug ihre Iden­ti­tät auf­ge­ben. Einer­seits ist das natür­lich ver­ständ­lich, schließ­lich ver­kör­pert Napo­le­on die Wer­te der Auf­klä­rung, den Code civil und die Bau­ern­be­frei­ung, wäh­rend der König von Preu­ßen für Got­tes­gna­den­tum, Patri­mo­ni­al­ge­rich­te und das Macht­stre­ben um der Macht Wil­len steht. Ande­rer­seits ist der revo­lu­tio­nä­re Uni­ver­sa­lis­mus die­ser Zeit eben nicht wirk­lich uni­ver­sell; er spricht fran­zö­sisch, er denkt fran­zö­sisch – am Ende ist er bloß eine Ver­klei­dung, hin­ter der sich das aller­ge­wöhn­lichs­te Cäsa­ren­tum ver­birgt. Und die Welt­bür­ger sind nur impe­ria­le Unter­ta­nen in spe.

Ich schau­de­re ein wenig bei dem Gedan­ken an Gele­gen­hei­ten in der Ver­gan­gen­heit, bei denen die Geschich­te auch einen ande­ren Ver­lauf hät­te neh­men kön­nen. Die Gegend, in der ich lebe, war mal für ein paar Jah­re, wäh­rend der Kon­ti­nen­tal­blo­cka­de, Teil des fran­zö­si­schen Kai­ser­reichs, das Dépar­te­ment des Bou­ches-du-Weser. Wie schon in Frank­reich nach der Revo­lu­ti­on hat­te man sich einen Teu­fel um die his­to­risch gewach­se­nen Gren­zen geküm­mert und am Kar­ten­tisch die am gleich­mä­ßigs­ten aus­se­hen­de Unter­tei­lung vor­ge­nom­men (so in etwa wie im Nahen Osten nach dem Ende des Osma­ni­schen Rei­ches, fällt mir da ein), und wenn es dabei geblie­ben wäre, wären wir hier jetzt ver­mut­lich alle glü­hen­de Citoy­ens, die noch drei Bro­cken Platt­deutsch beherrsch­ten und ansons­ten der fran­zö­si­schen Natio­nal­mann­schaft zuju­bel­ten. Wäre das bes­ser, wäre das schlech­ter? Ich weiß nicht, in jedem Fall wäre es fremd.

Ich lie­be übri­gens, damit man mich hier nicht miss­ver­steht, die fran­zö­si­sche Spra­che eben­so wie die fran­zö­si­sche Küche und die klas­si­sche fran­zö­si­sche Kul­tur, nur eben nicht das uni­ver­sel­le Impe­ri­um im fran­zö­si­schen Gewand. Wie man an dem Hype um Amé­lie vor ein paar Jah­ren, dem Erfolg des Nou­vel­le Chan­son oder gleich zwei jüngst erfolg­ten Neu­ver­fil­mun­gen von La Guer­re des bou­tons sieht, ist inzwi­schen auch vie­len Fran­zo­sen bewusst, dass sie im Begriff ste­hen, etwas zu ver­lie­ren, das nicht wie­der­kom­men wird, und ich hof­fe mit ihnen, dass es nicht soweit kom­men wird.

Aber mitt­ler­wei­le ist der Uni­ver­sa­lis­mus ohne­hin nicht mehr west­lich des Rheins behei­ma­tet, statt­des­sen summt er ein Lied von John Len­non, hat ein Jahr in Stan­ford stu­diert und arbei­tet bei einer Bank in Lon­don. Das Impe­ri­um von heu­te ist ein amor­pher Nexus von Geld und Macht, der sich von den Ivy-League-Unis über Cor­po­ra­te Board­rooms und mul­ti­na­tio­na­le Big­law-Kanz­lei­en bis hin­ein in die kleins­te Expat Com­mu­ni­ty in der Drit­ten Welt ver­äs­telt – aber immer spricht es Eng­lisch. Eine inter­na­tio­na­le Klas­se ent­steht, die irgend­wann mehr Soli­da­ri­tät unter­ein­an­der zei­gen wird als zu dem »Pack«, das die unte­ren gesell­schaft­li­chen Rän­ge des jewei­li­gen Her­kunfts­lands bevöl­kert. Pro­fes­sor Simms macht uns da ein ver­lo­cken­des Ange­bot: Frie­de und Pro­spe­ri­tät, das Ende der läs­ti­gen »Deut­schen Fra­ge«, die Teil­ha­be zumin­dest unse­rer Eli­ten an die­ser anglo­ame­ri­ka­ni­schen Welt­zi­vi­li­sa­ti­on. Alles was wir tun müs­sen, ist … na ja, Sie wis­sen schon.

So halb hän­gen wir ja sowie­so schon drin. Unse­re Uni-Abschlüs­se hei­ßen Bät­sche­ler und Mahs­ter, so man­che inter­na­tio­nal täti­ge deut­sche Fir­ma lässt ihre Wer­be­kam­pa­gnen mitt­ler­wei­le auf Eng­lisch kon­zi­pie­ren und dann ins Deut­sche »tran­s­kre­ieren« (Ach­tung, neu­es Wort fürs Bull­shit-Bin­go!), und die Dozen­ten an den Unis rade­bre­chen gele­gent­lich in einer Spra­che, die von fer­ne an Gün­ther Oettin­gers Lek­tio­nen in »Bad Inter­na­tio­nal Eng­lish« erin­nert. In Ber­lin kann man mitt­ler­wei­le pri­ma leben, ohne viel Deutsch ler­nen zu müs­sen, und in den ein­schlä­gi­gen Mit­te-Loca­ti­ons lie­fen einem schon in den 00er Jah­ren jun­ge Damen über den Weg, die aus Idar-Ober­stein stamm­ten, aber trotz­dem so taten, als könn­ten sie nur genä­sel­tes Oxbridge-Eng­lisch von sich geben.

Trü­be Aus­sich­ten also? Para­do­xer­wei­se sind es gera­de die Bri­ten, die uns durch ihre stu­re Hal­tung bezüg­lich der Auf­ga­be natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­täts­rech­te bis jetzt vor dem Schlimms­ten bewahrt haben. Solan­ge die in der EU sind, wird es weder eine euro­päi­sche Armee noch einen euro­päi­schen Prä­si­den­ten geben, von dem übri­gen Schnick­schnack ganz zu schwei­gen. Mit ande­ren Wor­ten: Bit­te drin­blei­ben, Leu­te! Kein Bre­x­it! We love limey! Euro­pa ohne euch wäre unerträglich …

(Gera­de lese ich aller­dings, das die Brüs­se­ler Erz­gau­ner mir in die Exis­tenz­grund­la­gen hin­ein­pfu­schen wol­len, indem sie Deutsch­land zwin­gen, den Rechts­sta­tus des Frei­be­ruf­lers abzu­schaf­fen. Viel­leicht also doch lie­ber in die Luft sprengen …?)