Vor Jahr und Tag schrieb die ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ke­rin Bar­ba­ra Tuch­man einen die­ser »popu­lär-his­to­ri­schen« Best­sel­ler, die in den letz­ten Jahr­zehn­ten haupt­säch­lich in der angel­säch­si­schen Welt ent­stan­den sind. Die Tor­heit der Regie­run­gen – von Tro­ja bis Viet­nam heißt das nach wie vor unein­ge­schränkt zu emp­feh­len­de Werk, und falls der Ver­lag mal eine Fort­set­zung pla­nen soll­te, müs­sen die Ereig­nis­se der letz­ten Tage dar­in unbe­dingt einen Ehren­platz fin­den. So lang­sam mischen sich ja die ers­ten Stim­men der Ver­nunft in das auf­ge­reg­te Hin- und Her­ge­flat­ter der öffent­li­chen Mei­nung (ich emp­feh­le etwa die­se exzel­len­te Ana­ly­se von Tho­mas Spahn), und es zeich­net sich immer deut­li­cher ab, dass wir es in Wirk­lich­keit mit einer gran­di­os schief­ge­lau­fe­nen Palast­re­vol­te Boris John­sons zu tun haben, der wahr­schein­lich mit einem knap­pen »Remain« gerech­net hat, um dann hin­ter­her mit die­sem Ergeb­nis im Rücken sei­nen Intim­feind Came­ron aus dem Amt zu jagen und in Brüs­sel neue Son­der­kon­di­tio­nen her­aus­schla­gen zu kön­nen. Und nu hat­ter den Salat.

Ob Groß­bri­tan­ni­en wirk­lich in den nächs­ten Jah­ren aus der EU aus­tre­ten wird, muss sich erst zei­gen. Viel­leicht fin­den die tau­meln­den Töl­pel doch noch irgend­ei­nen Weg, um sich bei wenigs­tens teil­wei­ser Gesichts­wah­rung aus der Affä­re zu zie­hen – die Sou­ve­rä­ni­tät des Par­la­ments, die Nicht­ein­be­zie­hung der Aus­lands­bri­ten, das doch ins­ge­samt sehr knap­pe Ergeb­nis, ein neu­es Refe­ren­dum wegen des zu erwar­ten­den Wirt­schafts­cha­os, was auch immer. Dadurch wür­de aller­dings nicht die tie­fe­re Ursa­che für das bla­ma­ble Wahl­er­geb­nis besei­tigt, die glei­cher­ma­ßen den Grund für John­sons epo­cha­le Fehl­ein­schät­zung dar­stel­len dürf­te: der Ver­rat an den ein­fa­chen Leuten.

Der bri­ti­sche Rei­se­schrift­stel­ler Mike Car­ter ist vor kur­zem den Weg nach­ge­gan­gen, den sein Vater 1981 in der Hoch­pha­se des Kamp­fes gegen den That­che­ris­mus von Liver­pool nach Lon­don bei einem »Marsch gegen die Arbeits­lo­sig­keit« zurück­ge­legt hat­te. Er fand dabei von Gott und der Welt ver­las­se­ne Orte, an deren Haupt­stra­ßen sich Wett­bü­ros mit Pfand­lei­hen abwech­seln, mit Sperr­holz ver­ram­mel­te Pubs und ver­ein­zel­te Laden­ge­schäf­te mit Stahl­tü­ren und ver­git­ter­ten Fens­tern. Nicht gera­de das Eng­land, in das man in den Urlaub fährt. Bei einem der Airbnb-Gast­ge­ber Car­ters gaben sich Besu­cher aus dem Groß­raum Lon­don die Klin­ke in die Hand, die das Haus kau­fen woll­ten, um es spä­ter zu ver­mie­ten – dem Mak­ler zufol­ge gera­de der abso­lu­te Trend in der Gegend und in einem Land, das eine der­art star­ke Aver­si­on gegen das Zur-Mie­te-Woh­nen hat wie Groß­bri­tan­ni­en, eine schie­re Demü­ti­gung. Wun­dert sich jemand, dass die­se Leu­te am liebs­ten in die Welt ihrer Groß­el­tern zurück möchten?

Ich erwäh­ne das nicht, um mich hier mit Car­ters Federn zu schmü­cken, ich bin auch nicht wirk­lich kom­pe­tent, um die Ver­hält­nis­se jen­seits des Ärmel­ka­nals zu beur­tei­len. Mir scheint aller­dings, dass sei­ne Beob­ach­tun­gen aus dem Kern­land der ehe­ma­li­gen bri­ti­schen Indus­trie­ge­sell­schaft einen Nerv tref­fen, weil sie eben nicht nur dort gül­tig sind. That­chers Refor­men mögen ein­schnei­den­der gewe­sen sein als anders­wo, aber letzt­lich haben sich ähn­li­che Ent­wick­lun­gen auch in den ande­ren alten Indus­trie­staa­ten Euro­pas und den USA abge­spielt. Die Wirt­schaft wird dere­gu­liert, die Macht der Gewerk­schaf­ten zurück­ge­drängt, die Indus­trie wan­dert in Bil­lig­lohn­län­der ab, die Finanz­bran­che ent­wi­ckelt sich vom Ser­vice­be­trieb für die pro­du­zie­ren­de Wirt­schaft zum selbst­stän­di­gen (und in Groß­bri­tan­ni­en alles über­schat­ten­den) Macht­fak­tor, und wäh­rend Arbei­ter und Klein­bür­ger ins Pre­ka­ri­at abrut­schen, ent­steht eine neue, glo­bal aus­ge­rich­te­te Klas­se von Wis­sens­ar­bei­tern und Mana­gern, die als Pro­fi­teu­re die­ser Ent­wick­lung ihre natio­na­len Wur­zeln nach und nach able­gen und sich über die Aus­drucks­for­men der anglo­ame­ri­ka­ni­schen Pop­kul­tur eine neue, gemein­sa­me Iden­ti­tät ver­schaf­fen. Schö­ne neue Welt.

Es gibt so ein schö­nes, angeb­lich india­ni­sches Sprich­wort, dem­zu­fol­ge man erst mal drei Mon­de in den Mokas­sins eines Men­schen lau­fen soll, bevor man über ihn urteilt. In die­sem Sin­ne ist nicht gleich jeder, der die Wert­vor­stel­lun­gen die­ser Ser­vice­klas­se der Glo­ba­li­sie­rung nicht teilt, ein »Idi­ot«, eine »Dumpf­ba­cke« oder ein »Ras­sist«. Viel­leicht hat er frü­her mal stol­ze Schif­fe gebaut oder kom­pli­zier­te Maschi­nen bedient und muss heu­te sein Dasein als Paket­bo­te oder Lage­rist fris­ten, weil sein alter Job von Asia­ten oder Robo­tern erle­digt wird. Viel­leicht hat er den klei­nen Lebens­mit­tel­la­den an der Ecke geführt, der längst von den gro­ßen Ket­ten platt­ge­macht wur­de. Viel­leicht lebt er in einem der frü­he­ren »Arbei­ter­vier­tel« und muss mit anse­hen, wie jedes Jahr mehr und mehr ver­schlei­er­te Frau­en die Bür­ger­stei­ge bevöl­kern und mehr und mehr Laden­schil­der in Spra­chen ver­fasst sind, die er nicht ver­steht. Viel­leicht zieht er irgend­wo auf dem Acker sei­ne Fur­chen und schämt sich, von den Zuwen­dun­gen ande­rer Leu­te abhän­gig zu sein.

Es ist nicht nütz­lich, die­sen Leu­ten ihren Sta­tus­ver­lust auch noch vor­zu­hal­ten – das führt nur dazu, dass sie ihre Fäus­te noch mehr bal­len und enger zusam­men­rü­cken. Sie sehen ja auch, dass jun­ge gebil­de­te Mit­tel­schichts­fa­mi­li­en die »Mul­ti-Kul­ti-Vier­tel« ver­las­sen, sobald die Kin­der in die Schu­le kom­men. Sie sehen die Ver­ach­tung, die ihnen die Cham­pions der Tole­ranz in den sozia­len Medi­en ent­ge­gen­schleu­dern, wenn sie so etwas Harm­lo­ses tun wie im Sta­di­on die Natio­nal­hym­ne zu sin­gen. Sie sehen Poli­ti­ker, die sich man­cher­orts mit Ver­ve dar­um bemü­hen, die Gen­der-Dis­kri­mi­nie­rung beim Toi­let­ten­gang zu been­den, wäh­rend man in der­sel­ben Stadt nicht mal mehr sei­nen Aus­weis ver­län­gert bekommt, weil die Ämter es nicht schaf­fen, ihre Auf­ga­ben zu erfül­len. Sie sehen, dass für Migran­ten in Win­des­ei­le neue Häu­ser hoch­ge­zo­gen wer­den, wäh­rend ihre Kin­der, die zur Aus­bil­dung in eine ande­re Gegend des Lan­des zie­hen müs­sen, hän­de­rin­gend eine bezahl­ba­re Woh­nung suchen. Sie sind es, die viel­leicht ihren mit Min­dest­lohn bezahl­ten Job ver­lie­ren, falls die­sel­be Rege­lung für Asyl­be­wer­ber auf­ge­ho­ben wird. War­um soll­ten sie noch auf uns hören?

Der ein­zi­ge, auf den sie zäh­len kön­nen, ist Bruce Springsteen. Ja genau, der. Seit über drei Jahr­zehn­ten, genau­er gesagt seit The River, singt er ihr Lied, wie­der und wie­der. Man hört da gar nicht so rich­tig zu, oder? Aber er singt es, das Lied von den ver­ra­te­nen ein­fa­chen Leu­ten, die im Stahl­werk oder auf dem Bau bei der Johns­town Com­pa­ny gear­bei­tet haben, aber late­ly the­re ain’t been much work on account of the eco­no­my, und am Ende bleibt nur Bit­ter­nis: Seven hund­red tons of metal a day, and Sir, you tell me the world’s chan­ged – once I made you rich enough, rich enough to for­get my name.

 

 

Sie wis­sen, dass sie ver­ra­ten wor­den sind. Und jetzt schla­gen sie eben zurück. Des­we­gen haben Sie in Groß­bri­tan­ni­en für den Bre­x­it gestimmt. Des­we­gen wäh­len Sie in Deutsch­land die AfD, und des­we­gen lie­ben sie in den USA Trump, obwohl er ein Mil­li­ar­där und eigent­lich ihr schlimms­ter Feind ist. Aber er wird es denen da (das sind wir) mal zei­gen …!

Und wer hat sie ver­ra­ten? Sicher nicht die Besit­zen­den, auf die konn­ten sie noch nie zäh­len. Auf die Lin­ke frü­her aller­dings schon. Womit ich nicht die ver­strahl­ten Typen mei­ne, die in den 1970ern mit dem Arbei­ter­kampf in der Hand vor den Werks­to­ren stan­den, um die unwil­li­ge Beleg­schaft zur Revo­lu­ti­on anzu­sta­cheln, son­dern zum Bei­spiel die Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands, deren bri­ti­sches Pen­dant ja nicht zufäl­lig das eng­li­sche Wort für »Arbeit« im Namen trägt. Das war mal die Inter­es­sen­ver­tre­tung der »klei­nen Leu­te«, und wenn man die blu­mi­gen Wor­te in ihrem Par­tei­pro­gramm liest, könn­te man bei­na­he der Mei­nung sein, dass dies immer noch der Fall ist. Lei­der ist Papier gedul­dig, und PDF-Datei­en sind es offen­bar noch viel mehr. Irgend­ei­nen Grund muss es jeden­falls haben, dass in einer Umfra­ge im Mai 2016 nur nur 32 Pro­zent der Befrag­ten der SPD zutrau­en, für »sozia­le Gerech­tig­keit« zu sor­gen (immer­hin ste­hen die ande­ren noch schlech­ter da), und die Par­tei in den Sonn­tags­fra­gen bei um die 20 Pro­zent herumdümpelt.

Das wäre doch mal ein Pro­jekt! Nicht mit irgend­wel­chen abs­trak­ten Kate­go­rien von glo­ba­ler Schuld und Gerech­tig­keit her­um­han­tie­ren, son­dern für kon­kre­te Men­schen kon­kre­te Din­ge tun. Einen Weg fin­den, wie die Abge­häng­ten sich wie­der einen Platz in der Gesell­schaft erar­bei­ten, den sie mit Stolz und Zufrie­den­heit ein­neh­men kön­nen. Nicht ver­ges­sen, dass sie es sind, die näher am Leben ste­hen als wir Schreib­tisch­fuz­zi­es mit unse­ren gran­dio­sen Ideen. Die Ris­se sind tie­fer gewor­den in den letz­ten Jahr­zehn­ten, viel­leicht ist jetzt die letz­te Gele­gen­heit, sie noch zu kitten.