Es ist immer ein biss­chen gefähr­lich, nach so lan­ger Zeit an einen Ort zurück­zu­keh­ren, der im eige­nen Leben eine, sagen wir mal, nicht ganz unbe­deu­ten­de Rol­le gespielt hat. Der ers­te Anfall von sau­da­de erfasst mich beim Blick aus dem Fens­ter der Unter­kunft, der vom Gra­ça-Hügel nach Süd­os­ten hin­un­ter zum Fluss geht. Ist da am Ufer nicht irgend­wo San­ta Apolô­nia, wo ich als jun­ger Spund mit einem alten Bun­des­wehr­ruck­sack auf dem Rücken aus dem Zug von Madrid gestol­pert bin und zum ers­ten Mal die Luft am West­rand Euro­pas geschnup­pert habe? Und ist hier in Gra­ça nicht irgend­wo das muf­fi­ge Sechs­bett­zim­mer, in das mich die zahn­lo­se Alte geschleppt hat, der ich vor dem Bahn­hof in die Fän­ge gelau­fen war? Das Leben vor dem Inter­net war weni­ger orga­ni­siert, dafür in der Regel spannender …

Spä­ter gehen wir zum nächst­ge­le­ge­nen Mira­dou­ro, und es kommt noch schlim­mer. Da hin­ten links die Gegend, in der mir mei­ne zukünf­ti­ge Ex-Frau gezeigt hat, was »um café e um baga­ço« bedeu­tet. Wei­ter rechts, in der Unter­stadt, die Alt­bau­woh­nung von José, dem schwu­len Rechts­an­walt, der mir (zu Recht) pro­phe­zei­te, dass ich mich irgend­wann wie­der mit mei­nen Eltern aus­söh­nen wür­de. Noch wei­ter rechts, schon oben im Chia­do, die Pra­ça Camões, war da nicht die Vor­stel­lung der Zir­kus­schu­le, mit der Pau­la und Fer­nan­da irgend­wie zu tun hat­ten? Spuck­te da nicht irgend­wer Feu­er? Fing nicht mein Freund Chris­ti­an sel­bi­ges für eine der Lusi­ta­nie­rin­nen, als sie uns spä­ter in Deutsch­land besuchten?

Gleich dane­ben das »Pal­pi­ta-me«, in dem João Osó­rio (der Name muss mal an die Öffent­lich­keit) mir einen der pein­lichs­ten Momen­te mei­nes Lebens ver­schaff­te. João war der Ex-Freund mei­ner zukünf­ti­gen Ex-Frau (klingt kom­pli­ziert – war kom­pli­ziert) und außer­dem ein Erz-Lüg­ner und Hoch­stap­ler vor dem Herrn, der uns in Augs­burg vor­ge­macht hat­te, er wäre For­mel-1-Motor­rad­renn­fah­rer, obwohl er nur bei Fuch­si im »Brü­cken­wirt« Geschirr spül­te und mei­ner zukünf­ti­gen Ex-Frau auf der Tasche lag. Als Rita (nicht die zukünf­ti­ge Ex-Frau, es war wie gesagt kom­pli­ziert) und ich nach Lis­sa­bon kamen, lud er uns mit gro­ßem Aplomb in die genann­te Mit­sing-Knei­pe im Bair­ro Alto ein, die damals sein zwei­tes Zuhau­se war. Irgend­wann drück­te mir jemand unge­be­ten eine Gitar­re in die Hand, und ich wur­de durch all­ge­mei­nes Geklat­sche und Gejoh­le dazu auf­ge­for­dert, ein Lied zum Bes­ten zu geben, was ich wegen einer mit­tel­schwe­ren Erkäl­tung nur mit äußers­ter Anstren­gung hin­ter mich brin­gen konn­te. Der Applaus fiel dann auch eher ver­hal­ten aus, und am nächs­ten Tag erfuhr ich, dass João mich, um vor sei­nen Kum­pels zu renom­mie­ren, als »größ­ten Star der deut­schen Pop­mu­sik« ange­kün­digt hat­te, sodass die Erwar­tungs­hal­tung des Publi­kums natur­ge­mäß nicht mit mei­ner eher kläg­li­chen kör­per­li­chen Ver­fas­sung in Ein­klang zu brin­gen war. Ganz davon abge­se­hen, dass ich ja weder ein Star, noch über­haupt Pop­mu­si­ker bin.

Ich könn­te jetzt noch stun­den­lang wei­ter­erzäh­len, aber melan­cho­lisch-ver­son­ne­ne Erin­ne­run­gen waren nicht die ein­zi­ge Emp­fin­dung, die ich wäh­rend unse­res jet­zi­gen Lis­sa­bon-Besuchs ver­spür­te; es zeig­te sich auch eine gewis­se Irri­ta­ti­on. Ich bin in den letz­ten Jah­ren nur wenig geflo­gen, von daher wur­de mir hier zum ers­ten Mal bewusst, wel­che Rol­le easy­jet und Ryan­air für die Revo­lu­ti­on des euro­päi­schen Wochen­end­aus­flugs gespielt haben. Jeden­falls kann ich die Mas­sen von älte­ren und jün­ge­ren Deut­schen, die am ver­län­ger­ten Wochen­en­de des 3. Okto­ber erkenn­bar kin­der­los das Cas­te­lo de São Jor­ge über­schwemm­ten, schlech­ter­dings nicht mit den nie­der­säch­si­schen Herbst­fe­ri­en in Ver­bin­dung brin­gen, die uns selbst nach Por­tu­gal gebracht hat­ten. Der Anblick der fet­ten Kreuz­fahrt­damp­fer unten am Ter­rei­ro do Paço war auch ein biss­chen unge­wohnt. Ganz zu schwei­gen von den schwä­beln­den jun­gen Damen im Stu­den­tin­nen-Alter, die am Sams­tag­abend in Kampf­be­ma­lung über den Lar­go da Gra­ça schwärm­ten, offen­bar zu jedem Amü­se­ment bereit, das ihnen die Stadt bie­ten würde.

Das letz­te Mal so vie­le Tou­ris­ten auf einem Hau­fen gese­hen hat­te ich jeden­falls irgend­wann vor Jah­ren in Vene­dig. Man hört ja von dort (oder von Bar­ce­lo­na), dass die Ein­hei­mi­schen lang­sam anfan­gen, auf die Bar­ri­ka­den zu gehen. Lis­sa­bon könn­te sich da durch­aus anschlie­ßen, aller­dings sind die Bewoh­ner der por­tu­gie­si­schen Haupt­stadt wie über­haupt ihre Lands­leu­te immer noch von die­ser umwer­fen­den Freund­lich­keit, die kein Wäs­ser­chen trü­ben kann und die schon damals dazu bei­getra­gen hat, dass ich mich stan­te pede in Stadt und Land ver­liebt habe. Neh­men wir bei­spiels­wei­se den älte­ren Herrn, den ich unge­fähr 1988 an der Bus­hal­te­stel­le von Areia Bran­ca in rade­bre­chen­dem Por­tu­gie­sisch frag­te, wo es denn hier wohl zur Jugend­her­ber­ge gin­ge. Ein Fran­zo­se hät­te mich igno­riert. Ein Ita­lie­ner mir wort­reich den Weg erklärt, den er selbst nicht gewusst hät­te. Der Por­tu­gie­se stand wort­los auf, nick­te mir zu und ging lang­sam und mit schlur­fen­den Schrit­ten vor­an, bis wir die Jugend­her­ber­ge erreicht hat­ten. Das ist mein Portugal!

Aber ich woll­te ja nicht mehr mit den alten Geschich­ten kom­men. Der Ver­gleich mit Vene­dig trifft auch des­we­gen zu, weil die Alt­stadt Lis­sa­bons das­sel­be Schick­sal zu erei­len scheint wie die blei­che Schö­ne an der Adria: Alles ver­fällt. Zwar haben die Jah­re der Expo und der bil­li­gen Zin­sen dank Euro-Ein­füh­rung das eine oder ande­re pres­ti­ge­träch­ti­ge Bau­vor­ha­ben und ein pom­pö­ses neu­es Mes­se­ge­län­de ermög­licht. Aber wenn man die Staf­fa­ge weg­reißt, brö­ckelt der Putz. In der Alfa­ma, auf dem Burg­hü­gel, in Gra­ça ste­hen zei­len­wei­se Häu­ser leer, die auf Reno­vie­rung war­ten, selbst über dem berühm­ten »Café Sui­ça« am Ros­sio gäh­nen unbe­wohn­te Fens­ter­höh­len, und als ich mich wie in alten Zei­ten durch die klei­nen Schuh­ge­schäf­te an der Pra­ça da Figuei­ra wüh­len woll­te, stand ich vor her­un­ter­ge­las­se­nen Roll­lä­den und ver­fal­len­den Häu­ser­fas­sa­den. Was dort wohl fol­gen wird – Lis­bon Down­town Shop­ping?

Ich wer­de halt älter. Ich erin­ne­re mich noch, wie es war, und mag nicht, wie es ist. Und selbst­ver­ständ­lich bin ich ein furcht­ba­rer Snob, der sau­er ist, weil man ihm sein exklu­si­ves Ver­gnü­gen genom­men hat. Damals war die por­tu­gie­si­sche Haupt­stadt noch ein Geheim­tipp, und wen es dort­hin ver­schlug, der gehör­te ent­we­der zur rei­che­ren Hälf­te der Gesell­schaft, die nach dem Casi­no von Esto­ril streb­te, oder zu den Aris­to­kra­ten der Land­stra­ße und des Inter­rail­ti­ckets, die auch eine Nacht auf dem offe­nen Feld in Süd­frank­reich oder tage­lan­ge Fahr­ten in unbe­que­men Zug­ab­tei­len nicht schre­cken konn­ten (ich gera­te schon wie­der in die alten Geschich­ten). Die Krei­se über­schnit­ten sich nicht. Jeder hat­te sein eige­nes Lis­sa­bon. Na ja. Ein Snob eben.

Und unge­recht dazu. Natür­lich gibt es die tol­le airbnb-Feri­en­woh­nung in Gra­ça (übri­gens unein­ge­schränkt wei­ter­zu­emp­feh­len) nur, weil die Bevöl­ke­rung (sagt jeden­falls Wiki­pe­dia) von 800.000 in den 1980ern auf 500.000 heu­te gefal­len ist. Natür­lich bevor­zu­gen auch die Por­tu­gie­sen Woh­nun­gen mit den übli­chen Annehm­lich­kei­ten der Neu­zeit und einem Park­platz vor der Tür, was auf den engen Hügeln der Alt­stadt aus bau­li­chen Grün­den schlicht unmög­lich ist. Natür­lich möch­te kaum jemand am Lar­go da Gra­ça woh­nen, wenn das ein­zi­ge dort ver­keh­ren­de öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel tag­aus, tag­ein bre­chend voll mit Tou­ris­ten ist, die unten am Mar­tim Moniz zwei­hun­dert Meter Schlan­ge ste­hen, um ein­mal im Leben mit der berühm­ten Elétri­co 28 zu fah­ren. Das Resul­tat sind Kolon­nen von futu­ris­ti­schen Plat­ten­bau­ten in den Vor­städ­ten – teil­wei­se noch bunt-post­mo­dern, teil­wei­se schon wie­der Raum­schiff-Enter­pri­se-mäßig –, die den Speck­gür­tel Lis­sa­bons lang­sam, aber sicher zur eigent­li­chen Stadt machen, wäh­rend die alten Vier­tel zu einem rie­si­gen Frei­licht­mu­se­um plus Woh­nun­gen für coo­le Inter­net­ar­bei­ter wer­den. Wir sind nach Cas­cais her­aus­ge­fah­ren, um einen Tag am Strand zu ver­brin­gen, und ich konn­te den Film aus mei­ner Erin­ne­rung nicht mit dem Blick durch das Zug­fens­ter in Über­ein­stim­mung bringen.

Was bleibt? Die Stadt mei­ner Jugend ist schon weg oder gera­de dabei zu ver­schwin­den. Das war natür­lich einer­seits zu erwar­ten. Ande­rer­seits – wird es auch in Zukunft noch ein Lis­sa­bon geben, an das mei­ne Kin­der ger­ne zurück­den­ken? Ich habe mich gefreut, in ihren erstaun­ten Bli­cken auf die Schön­heit der Stadt mei­ne eige­nen ers­ten Ein­drü­cke gespie­gelt zu sehen. Aber sie wer­den sich auch an die ner­vi­gen Tuk-Tuks erin­nern, die irgend­ein böser Geist, der knat­tern­de Moto­ren mag, von Bang­kok an den Tejo impor­tiert hat. An den keu­chen­den Auf­stieg zur Igre­ja da Gra­ça, weil wir nicht stun­den­lang auf die Tram war­ten woll­ten. An die ewi­gen Sel­fie-Stick-Ver­käu­fer und die unver­meid­li­chen »Wine with a view«-Karren.

Das Lis­sa­bon, an das ich mich erin­ne­re, war eine gute Schu­le, um die­ser schreck­lich pro­tes­tan­tisch-kor­rek­ten, von Pene­tranz und Welt­ret­ter­tum getränk­ten Ratio­na­li­tät ent­ge­gen­zu­ar­bei­ten, die einen als typi­schen Mit­tel- und Nord­eu­ro­pä­er beglei­tet wie ein hart­nä­cki­ges Geburts­mal. Eine Stadt, in der ein Mann stock­be­trun­ken die Cal­ça­da da Gló­ria her­un­ter­rol­len konn­te, ohne dass die Leu­te in den umlie­gen­den Restau­rants auch nur eine Augen­braue geho­ben hät­ten. In der Traum und Rea­li­tät immer wie­der von neu­em um die Vor­herr­schaft strit­ten und der Traum jedes Mal unwei­ger­lich die Ober­hand behielt. (Wo sonst hät­te es besag­ten João Osó­rio geben kön­nen?) In der man lie­ber mit voll­ende­ter Gra­zie eine aller­letz­te »Bica« her­un­ter­kipp­te und auf die Mor­gen­son­ne war­te­te als sich mit der furcht­ba­ren Aus­sicht aus­ein­an­der­zu­set­zen, in ein paar Stun­den wie­der ins Büro zu müs­sen. Schon wie­der die alten Geschich­ten, aber egal … Sol­len sie das Ent­de­cker­denk­mal in die Luft spren­gen und sämt­li­che Fado-Knei­pen ein­äschern – das ist ein Welt­kul­tur­er­be, das auf jeden Fall erhal­ten blei­ben muss!!!