Was man beim Recher­chie­ren so alles fin­det – Unter­schie­de bei der Aneig­nung der anglo-ame­ri­ka­ni­schen Pop­kul­tur Anfang der 1960er in Ita­li­en und Deutsch­land bei­spiels­wei­se. Süd­lich des Bren­ners inte­grier­te man Musik und Film rela­tiv ent­spannt in die ein­hei­mi­sche Lebens­wei­se, und nicht nur Adria­no Cel­en­ta­no sprang leicht­fü­ßig vom Rock’n’Roll zur tra­di­tio­nel­len Ita­lo-Schnul­ze, ohne sich dabei ein Bein zu ver­ren­ken (er war aber auch wirk­lich extrem gelenkig):

Auch die Hoch­kul­tur zeig­te dem Neu­en nicht die kal­te Schul­ter. Der damals immer­hin schon fünf­zig­jäh­ri­ge Avant­gar­de-Film­re­gis­seur Michel­an­ge­lo Anto­nio­ni bei­spiels­wei­se leg­te locker einen von Mina gesun­ge­nen Twist-Kra­cher über die Ein­gangs­ti­tel sei­nes 1962er-Bezie­hungs­dra­mas L’e­clis­se, zu dem er auch noch – so jeden­falls die ita­lie­ni­sche Wiki­pe­dia – selbst den Text geschrie­ben und es geschafft hat­te, dar­in das Wort »Radio­ak­ti­vi­tät« unter­zu­brin­gen. Man muss den Regis­seur nicht mögen (für Freun­de minu­ten­lan­ger Ein­stel­lun­gen mit gut geklei­de­ten, von abs­trak­ter Kunst und moder­ner Archi­tek­tur umrahm­ten Ober­schichts-Ita­lie­nern, die kei­ne Wor­te für ihr über­gro­ßes Lei­den an der Welt fin­den, ist er aller­dings ein abso­lu­tes Muss), der Umgang mit der Musik nötigt jeden­falls eini­gen Respekt ab. Das ist unge­fähr so, als ob Bern­hard Wicki mit Ted Herold oder Con­ny Froboess zusam­men­ge­ar­bei­tet hätte …

Dabei waren die Ita­lie­ner – schließ­lich labo­rier­te man eben­falls an einer faschis­tisch gepräg­ten jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit her­um – der Selbst­kri­tik nicht abge­neigt. Man sehe sich etwa die eben­falls 1962 ent­stan­de­ne Tra­gi­ko­mö­die Il sor­pas­so (bescheu­er­ter deut­scher Ver­leih­ti­tel: Ver­liebt in schnel­le Kur­ven) von Dino Risi an. Nicht nur über­trägt der Film das ame­ri­ka­ni­sche Road-Movie-Prin­zip pro­blem­los auf die Via Aure­lia und zeigt den Fer­ra­gos­to jenes Jah­res mit allen Vari­an­ten des Twist-Wahn­sinns, der Prot­ago­nist mit sei­nem prah­le­ri­schen Ita­lo-Gockel­t­um kriegt auch ordent­lich was auf die Müt­ze – ohne ihn jedoch bloß­zu­stel­len oder an bil­li­ge Komik zu verraten.

Im dama­li­gen (West-)Deutschland hin­ge­gen suhl­ten sich die Alten in Hei­mat­film und Schnul­ze (Mina war damals mit der Frem­den­le­gi­ons­bal­la­de Hei­ßer Sand auch hier­zu­lan­de in den Charts), wäh­rend es von den Jun­gen Kampf­an­sa­gen hagel­te. »Die Not hat ein Ende! Die Zeit der Dorf­mu­sik ist vor­bei« hieß es dro­hend auf Pla­ka­ten, mit denen St. Pau­li im Früh­jahr 1962 anläss­lich der bevor­ste­hen­den Eröff­nung des Star-Clubs zuge­pflas­tert wur­de. In Ober­hau­sen erklär­ten zur glei­chen Zeit meh­re­re Film­re­gis­seu­re (deren Namen heu­te zum Groß­teil ver­ges­sen sind), in einem Mani­fest den »alten Film« für »tot« und beteu­er­ten gleich­zei­tig ihren Glau­ben an den »neu­en Film«, der sich durch »Frei­heit von den bran­chen­üb­li­chen Kon­ven­tio­nen. Frei­heit von der Beein­flus­sung durch kom­mer­zi­el­le Part­ner. Frei­heit von der Bevor­mun­dung durch Inter­es­sen­grup­pen« aus­zeich­nen sollte.

Im Wesent­li­chen hat das – von Aus­nah­me­erschei­nun­gen wie Fass­bin­der oder Wen­ders abge­se­hen – vor allem zu einer abso­lu­ten Frei­heit vom Publi­kum geführt. In der Popu­lär­mu­sik kam es statt­des­sen zu einem jah­re­lan­gen Gra­ben­kampf zwi­schen den Freun­den des Rocks auf der einen und den Schla­ger-Fuz­zis auf der ande­ren Sei­te, der nur in der Neu­en Deut­schen Wel­le kurz über­brück­bar schien, nach deren kläg­li­chem Abschied aber unauf­halt­sam in die­se gräss­li­che Anything-goes-Iro­nie mün­de­te, die in den 1990ern in Schla­ger-Par­tys und Pro­lo-Humor fröh­li­che Urständ feierte.

Lei­der war es da schon zu spät, um noch einen sinn­vol­len Weg zu fin­den, das Neue so in die eige­nen Tra­di­tio­nen zu inte­grie­ren, dass die­se sich hät­ten moder­ni­sie­ren und ver­jün­gen kön­nen. Man igno­rier­te auch sämt­li­che Ent­wick­lun­gen, die in es in die­ser Hin­sicht in der DDR gege­ben hat­te und die wesent­lich »deut­scher« geblie­ben waren als die west­li­chen Anstren­gun­gen (der bes­te deut­sche Film über den 2. Welt­krieg ist zwei­fel­los Die Aben­teu­er des Wer­ner Holt, aber den kennt dies­seits der alten Gren­ze so gut wie nie­mand). Heu­te wird halt viel­leicht mal auf Deutsch gesun­gen, aber die Musik ist aus­tausch­bar inter­na­tio­nal, und im Kino gibt’s – wenn’s über­haupt was gibt – alber­ne Komö­di­en, die aller­letz­ten Grü­ße aus Ober­hau­sen oder hilf­lo­se Ver­su­che, das inter­na­tio­na­le Gen­re-Kino auf deut­sche Ver­hält­nis­se zu über­tra­gen. Bedeu­tung jen­seits der Sprach­gren­ze: null.

Etwas zuge­spitz­ter for­mu­liert: Seit etwa fünf­zig, sech­zig Jah­ren ist alles, was modern und zukunfts­wei­send ist, mit eng­lisch­spra­chi­ger Musik, Hol­ly­wood-Kino, Rei­sen, Inter­na­tio­na­li­tät und Drit­te-Welt-Revo­lu­ti­ons-Tra­ra ver­bun­den. Wäh­rend die eige­nen Tra­di­tio­nen als bie­der, muf­fig, pein­lich oder sogar gefähr­lich (führt zu Ausch­witz) wahr­ge­nom­men wer­den – was natür­lich größ­ten­teils sogar stimmt, weil sich ja nichts mehr wei­ter­ent­wi­ckelt hat.

Ich könn­te jetzt noch eini­ge Bögen zur aktu­el­len poli­ti­schen Lage schla­gen, über­ra­sche aber lie­ber mit einem Link zu einem sehr guten Doku­men­tar­film, in dem ein in Deutsch­land leben­der Neu­see­län­der eine ähn­li­che Fra­ge­stel­lung unter dem Aspekt des sehr selt­sa­men Ver­hält­nis­ses der Deut­schen zu ihrer Volks­lied­tra­di­ti­on behan­delt. Unbe­dingt gucken!