Autorenblog

Kategorie: Allgemeines (Seite 5 von 11)

Che und ich

Immer die­se Kin­der­fra­gen … Jetzt woll­te mein Sohn wis­sen, war­um jun­ge Leu­te eigent­lich meis­tens »links« sind. Ich muss­te natür­lich sofort an den wahl­wei­se Win­s­ton Chur­chill oder Bert­rand Rus­sell zuge­schrie­be­nen Spruch den­ken, nach dem man kein Herz hat, wenn man mit zwan­zig kein Sozia­list ist, aber kei­nen Ver­stand, wenn man die­ser Welt­an­schau­ung mit vier­zig immer noch anhängt. Mei­ne Frau hin­ge­gen erin­ner­te mich süf­fi­sant grin­send an mein altes Che-Gue­va­ra-T-Shirt, das ich vor etli­chen Jah­ren bei den Bau­ar­bei­ten hier auf­ge­tra­gen habe. Tat­säch­lich kann ich nicht völ­lig leug­nen, in mei­ner Jugend bis zu einem gewis­sen Grad dem damals weit ver­brei­te­ten Aber­glau­ben ange­han­gen zu sein, man müs­se das, was hin­ter dem Eiser­nen Vor­hang so kra­chend und offen­sicht­lich geschei­tert war, unter dem Vor­zei­chen von Öko­lo­gie, Anti-Dog­ma­tis­mus und Jimi Hen­drix noch­mal ganz neu in Angriff nehmen.

Aber war­um? Bezie­hungs­wei­se, war­um glau­be ich das jetzt nicht mehr …? Viel­leicht spielt ja jugend­li­cher Über­mut eine Rol­le, revo­lu­tio­nä­re Begeis­te­rung, die Hor­mo­ne und so wei­ter. Die ver­strahl­ten Typen, die letz­ten Som­mer beim G20-Gip­fel in Ham­burg Bar­ri­ka­den­kampf gespielt haben, schie­nen voll davon zu sein. Aber das sind bestimmt auch »Hoo­li­gans gegen Sala­fis­mus« oder »Sala­fis­ten gegen ungläu­bi­ge Hun­de«. Das gan­ze zwan­zigs­te Jahr­hun­dert war ja eigent­lich eine ein­zi­ge Geis­ter­bahn, in der hin­ter jeder Kur­ve eine neue, wüten­de Jugend­be­we­gung her­vor­ge­sprun­gen kam, egal unter wel­cher Flag­ge. Hor­mo­ne sind, wie mir scheint, welt­an­schau­ungs­mä­ßig flexibel.

Viel eher geht es um die Kraft des rei­nen Her­zens. Als zwan­zig­jäh­ri­ger Stu­dent kann man in der Regel auf vol­le zwei Jahr­zehn­te zurück­bli­cken, in denen der eige­ne Bei­trag zum Lebens­un­ter­halt eben­so beschei­den aus­ge­fal­len ist wie die per­sön­li­che Mit­wir­kung an der Steue­rung des Gemein­we­sens, zu dem man gehört. Das ver­führt dann bei­spiels­wei­se dazu, »Reich­tum« als etwas zu betrach­ten, das irgend­wie auf über­na­tür­li­che Wei­se von selbst da sei und nur »gerecht ver­teilt« wer­den müs­se – so wie die Geschwis­ter­schar die gerech­te Ver­tei­lung des Taschen­gelds von den Eltern ein­for­dert. Und die Poli­tik gerät zum Kas­per­le­thea­ter, in dem das böse, gie­ri­ge Kro­ko­dil besiegt wer­den muss, das – als Poli­ti­ker, Ban­ker oder Arbeit­ge­ber­prä­si­dent getarnt – der gerech­ten Ver­tei­lung im Wege steht.

Etwas pom­pö­ser aus­ge­drückt: Man sieht die Welt vor allem im Ide­al gespie­gelt. Und sind Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit nicht wun­der­ba­re Idea­le? Ganz zu schwei­gen von Ver­nunft, Huma­ni­tät und Gerech­tig­keit …! Wenn man jung ist, liebt man Idea­le. Sie erlau­ben es einem, in die Hel­den­rol­le zu schlüp­fen, in der man sich in die­sem Lebens­al­ter ger­ne sieht – nicht zuletzt wegen der, ähem, vor­teil­haf­ten Wir­kung auf das ande­re Geschlecht natür­lich. Man stürmt in die Welt hin­ein im Voll­ge­fühl der eige­nen Recht­schaf­fen­heit und sucht über­all nach Dra­chen, die man besie­gen kann. Und selbst­ver­ständ­lich kämpft man nicht aus Ego­is­mus, son­dern dafür, arme, unter­drück­te Proletarier/Drittweltbewohner/Minderheiten, die aus irgend­wel­chen geheim­nis­vol­len Grün­den nicht in der Lage sind, selbst für ihre Inter­es­sen ein­zu­tre­ten, aus den Klau­en der Bes­tie zu befreien …

Wenn man Glück hat, nimmt einen das Leben spä­ter sanft bei der Hand und zeigt einem anhand aus­ge­wähl­ter Bei­spie­le, dass vor dem Reich­tum meis­tens ein Rie­sen­hau­fen Arbeit steht, statt eines glän­zen­den Sie­ges häu­fig nur das klei­ne­re Übel zur Wahl steht und das Gegen­teil einer schlech­ten Idee meist eine noch schlech­te­re ist. Wenn man Pech hat, haben ein oder zwei grö­ße­re per­sön­li­che Kata­stro­phen exakt die glei­che Wir­kung. Das Ergeb­nis ist – hof­fent­lich – eine gewis­se Nüch­tern­heit und Skep­sis sowie die Erkennt­nis, dass ande­re Leu­te ihre Bedürf­nis­se meist ganz gut selbst arti­ku­lie­ren kön­nen und jedes Ide­al, das man bis in die letz­te Kon­se­quenz zu ver­wirk­li­chen sucht, mit ziem­li­cher Sicher­heit gera­de­wegs in die tota­li­tä­re Höl­le führt. Gleich­heit etwa ist eine tol­le Sache, wenn es dar­um geht, dass vor dem Gesetz nie­mand bevor­zugt wird. Wenn man aller­dings wei­ter­geht und for­dert, dass jeder Mensch tat­säch­lich gleich sein soll (obwohl doch jeder von uns eine eige­ne Welt ist), endet man aller Erfah­rung nach in der Gleich­heit des sibi­ri­schen Arbeitslagers.

Aber das weiß man natür­lich noch nicht, wenn man sei­ne Nase zum ers­ten Mal aus der Tür der Kind­heit her­aus­steckt. Ich glau­be, ich war vier­zehn oder fünf­zehn, als ich spon­tan in der Buch­hand­lung der nächs­ten Klein­stadt ein Taschen­buch mit den Wer­ken von Marx und Engels erwarb und von vor­ne bis hin­ten durch­las – ohne groß zu begrei­fen, um was es ging, ver­steht sich. Aber es kam der Satz dar­in vor, dass Reli­gi­on das »Opi­um des Vol­kes« sei, und das gefiel mir, hat­te ich doch gera­de im Ver­lauf des Kon­fir­man­den­un­ter­richts unver­se­hens mei­nen Glau­ben ver­lo­ren. Irgend so ein alter Kna­cker mit Bart, der in den Wol­ken sitzt? Was woll­te der denn …

Womit ein wei­te­rer Fak­tor für die Beliebt­heit sozia­lis­ti­scher Vor­stel­lun­gen bei der Jugend ange­spro­chen ist. Sie glei­chen vage bestimm­ten christ­li­chen Wer­ten, ohne dass man dafür an über­na­tür­li­che Wesen glau­ben muss. Und es ist genau­so unmög­lich, sie eins zu eins in die Rea­li­tät umzu­set­zen: Rein theo­re­tisch klingt es ja abso­lut groß­ar­tig, die ande­re Wan­ge hin­zu­hal­ten und sei­nen Man­tel mit einem Bett­ler zu tei­len. Man sieht sich schon höchst­per­sön­lich selbst auf dem Pferd sit­zen und dem armen Hund da unten am Boden voll Mit­ge­fühl die hal­be Toga rei­chen … Im All­tag läuft es dann aller­dings ein biss­chen anders – wel­cher Unter­neh­mer etwa könn­te sich stets an Matth. 5, 40 hal­ten (»Und wenn jemand mit dir rech­ten will und dir dei­nen Rock neh­men, dem lass auch den Man­tel«), ohne mit­tel­fris­tig Bank­rott erklä­ren zu müs­sen? Man gibt also ab und zu ein klei­nes Stück­chen Man­tel ab und hofft, dass man dadurch das Kamel doch noch irgend­wie durchs Nadel­öhr zwängt. So, wie man für die Revo­lu­ti­on kämpft, ohne auf teu­re Zigar­ren und Rolex-Uhren zu verzichten.

Und dann gibt es natür­lich immer die Ver­lo­ckung, in die Haut des roman­ti­schen Hel­den zu schlüp­fen, der wie der Wan­de­rer über dem Nebel­meer allem Irdi­schen ent­sagt und sich ganz der Sache des Vol­kes ver­schreibt … Das letz­te Mal, als ich so rich­tig Sym­pa­thien für eine lin­ke Bewe­gung emp­fand, war in den 1990ern, als ein gewis­ser »Sub­co­man­dan­te Mar­cos« mit einer Kis­te Bücher aus Mexi­ko-Stadt in den lakan­do­ni­schen Urwald zog, um unter dem Schlacht­ruf »Alles für alle, nichts für uns!« für die Rech­te der Indi­ge­nen zu kämp­fen und »Inter­ga­lak­ti­sche Tref­fen gegen den Neo­li­be­ra­lis­mus« zu ver­an­stal­ten. Natür­lich hat­te der Mann schwer einen an der Waf­fel – aber geht’s noch poe­ti­scher …? Zur glei­chen Zeit las ich aller­dings Ches Boli­via­ni­sches Tage­buch, das mit sei­nem Exis­ten­zia­lis­mus der ver­zwei­fel­ten Iso­la­ti­on das völ­lig humor­lo­se Gegen­stück zu den drol­li­gen Aktio­nen der mexi­ka­ni­schen Zapa­tis­ten bildete.

Das war wahr­schein­lich der Anfang vom Ende. Je län­ger ich die Aben­teu­er des argen­ti­ni­schen Ex-Arz­tes nach­ver­folg­te, der in völ­li­ger Ver­ken­nung der Sach­la­ge und blin­dem Aktio­nis­mus ver­such­te, mit einer Hand­voll Despe­ra­dos, die den bom­bas­ti­schen Namen »Natio­na­le Befrei­ungs­ar­mee« trug, in Boli­vi­en eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­ti­on her­bei­zu­füh­ren, des­to frem­der wur­de mir das alles. Die beson­de­ren Umstän­de, die in Kuba zum Erfolg geführt hat­ten, waren eben spe­zi­fisch kuba­nisch und hat­ten nichts mit irgend­ei­ner welt­ge­schicht­li­chen Dia­lek­tik tun, als deren Erfül­lungs­ge­hil­fen sich der Coman­dan­te und sei­ne Mit­strei­ter sahen. Der Anden­staat war statt­des­sen nichts wei­ter als die Kulis­se für einen Film, in dem sie die Haupt­rol­le spiel­ten. Ich konn­te mich immer weni­ger mit die­ser beson­ders däm­li­chen Ver­kör­pe­rung von Rous­se­aus »Volon­té gene­ra­le« iden­ti­fi­zie­ren, einer selbst ernann­ten Avant­gar­de also, die mein­te, bes­ser als das Volk zu wis­sen, was das Volk wollte.

Was wie­der­um Erin­ne­run­gen an den Zwie­spalt wach­rief, in den mich die radi­ka­le Lin­ke in gewis­ser Wei­se von Anfang an gebracht hat­te. Ich bin Arbei­ter­sohn, und die ein paar Jah­re älte­ren Arzt- und Leh­rer­kin­der, die in der Fuß­gän­ger­zo­ne der erwähn­ten Klein­stadt die Kom­mu­nis­ti­sche Volks­zei­tung ver­teil­ten und mei­nen Vater zur Revo­lu­ti­on auf­sta­cheln woll­ten, erfüll­ten mich schon als Drei­zehn­jäh­ri­gen mit einer gehö­ri­gen Por­ti­on Befremd­nis. Arbei­ter sind kei­ne Arbei­ter, weil sie von bösen Mäch­ten dazu gezwun­gen wur­den, son­dern weil das eben der Weg war, der ihnen im Leben offen­stand. Und das wis­sen die meis­ten von ihnen. Wenn ihnen jemand zu erzäh­len ver­sucht, die »Arbei­ter­klas­se« sei in Wirk­lich­keit ein Vehi­kel, mit des­sen Hil­fe »die Geschich­te« vor­ha­be, den kom­mu­nis­ti­schen Him­mel auf Erden zu errich­ten, wer­den sie schnell miss­trau­isch und rie­chen den Bra­ten. Der in der Regel dar­aus besteht, dass ein paar ver­krach­te Bohe­mi­ens auf ihrem Rücken ver­su­chen, die Macht im Staat an sich zu rei­ßen. So ganz habe ich das – bei allen Sym­pa­thien für den Kampf gegen Aus­beu­tung und Unter­drü­ckung – nie vergessen.

Das Schlim­me war ja ohne­hin, dass die­ser Kampf nicht nur in Boli­vi­en in der Regel gera­de­wegs ins Nichts führ­te. Von den mexi­ka­ni­schen Zapa­tis­ten etwa war am Ende nur noch lee­re Sym­bo­lik zu hören. Hier eine Pres­se­kon­fe­renz, dort eine Demo, schließ­lich eine groß­ar­ti­ge Erklä­rung, die eine noch groß­ar­ti­ge­re Kon­fe­renz ankün­dig­te, und immer wie­der inter­na­tio­na­le Tref­fen, zu denen (um ein böses Wort zu zitie­ren) »trust-fund babies« aus aller Welt anreis­ten, also Berufs­söh­ne und ‑töch­ter, die nach San Cris­tó­bal de las Casas pil­ger­ten, um die total authen­ti­schen Indi­ge­nen ken­nen­zu­ler­nen, die sie von der Pla­ge eben jenes Neo­li­be­ra­lis­mus befrei­en soll­ten, dem sie ihren monat­li­chen Scheck ver­dank­ten. Eine Befrei­ungs­ar­mee, die nichts befrei­te. Eine Revo­lu­ti­on, die nichts revo­lu­tio­nier­te. Eine Wider­stands­be­we­gung, die sich dar­in erschöpf­te, die Jung­stein­zeit gegen die Moder­ne zu verteidigen.

Und so ende­te das T‑Shirt mit el Che vor­ne drauf dann als Arbeits­klei­dung auf dem Bau. Eigent­lich ein ange­mes­sen pro­le­ta­ri­scher Rah­men, fin­de ich. Mein Vater – mitt­ler­wei­le Rent­ner – ver­lor kein Wort dar­über, wäh­rend wir Sei­te an Sei­te dar­an arbei­te­ten, die Lat­ten für die Däm­mung an die Dach­bal­ken zu schrau­ben. Wahr­schein­lich wun­der­te er sich ins­ge­heim ein biss­chen, aber letzt­end­lich war das Kon­ter­fei des berühm­ten Revo­lu­tio­närs für ihn bloß ein flüch­ti­ges Bild, das gele­gent­lich über sei­nen Fern­seh­schirm gehuscht war. Der Glückliche …

Bin ich also heu­te »rechts«? Also, bit­te … In den Schoß der Kir­che bin ich nicht zurück­ge­kehrt, und Leu­te, die ihre Stel­lung ihrem Nach­na­men, ererb­ten Mil­lio­nen oder Vit­amin B ver­dan­ken, kann ich wei­ter­hin nicht ernst neh­men. Aber ich glau­be auch, dass der Mensch einen irre­du­zi­blen Kern hat, der weder durch Erzie­hung, noch durch Arbeits­la­ger oder noch so aus­ge­klü­gel­tes »Nud­ging« ver­än­dert wer­den kann. Und dass eine funk­tio­nie­ren­de, natio­nal- und sozi­al­staat­lich orga­ni­sier­te libe­ra­le Demo­kra­tie ohne impe­ria­lis­ti­sche Ambi­tio­nen eine aus­ge­spro­chen wert­vol­le his­to­ri­sche Errun­gen­schaft ist, die man nicht leicht­fer­tig uto­pi­schen Phan­tas­te­rei­en opfern darf. Wahr­schein­lich bin ich also ein »Alt-1848er«. Nicht zufäl­lig ist die erfolg­lo­se Revo­lu­ti­on damals immer noch der Teil der deut­schen Geschich­te, der mir am meis­ten Gän­se­haut verursacht.

Und die edlen Idea­le? Sol­len mei­ne Kin­der groß wer­den, ohne jemals das süße Gift der brü­der­li­chen Gemein­schaft aller Men­schen genos­sen zu haben …? Nun, die Ableh­nung eines Extrems bedeu­tet ja nicht, dass man den zugrun­de lie­gen­den Wert ins­ge­samt ablehnt – der Mensch ist eben­so wenig ganz und gar brü­der­lich, wie er aus­schließ­lich in Kon­kur­renz zuein­an­der leben kann. Wo genau der Kom­pro­miss liegt, den man zwi­schen den bei­den Extre­men fin­det, wird immer Gegen­stand des poli­ti­schen Streits blei­ben. Und mei­nen Kin­dern wün­sche ich (inso­fern ich mich da über­haupt ein­mi­sche), dass sie im Leben ein paar Umwe­ge weni­ger gehen müs­sen als ich …

    Fra­gen, Anre­gun­gen, Kom­men­ta­re? Ein­fach eine E‑Mail an kommentar@berndohm.de!

Damals unter den Taliban (3)

Über­zeug­te Nord­lich­ter sehen ja ger­ne auf die Bewoh­ner gewis­ser Land­stri­che wei­ter im Süden her­ab, bei denen angeb­lich der Pfar­rer den Leu­ten erzäh­le, was sie denn bit­te­schön zu wäh­len hät­ten. Und die doo­fen Katho­len würden’s dann auch noch machen. Ich hal­te das aller­dings eher für eine gesamt­deut­sche und kon­fes­si­ons­über­grei­fen­de Tra­di­ti­on, jeden­falls hielt unser Dorf­schul­leh­rer im Janu­ar 1919 ein paar Tage vor den Wah­len zur ver­fas­sung­ge­ben­den Ver­samm­lung in Wei­mar in sei­ner Schul­chro­nik Fol­gen­des fest:

16. Janu­ar: Ren­ne­kamp, Ver­den, rede­te abends bei Lüt­jens über die Deutsch-Han­no­ver­sche Par­tei. Am Schlus­se der Ver­samm­lung for­der­te Pas­tor XYZ alle aus dem Fel­de zurück­ge­kehr­ten anwe­sen­den Sol­da­ten auf, den etwa aus dem Fel­de mit­ge­brach­ten Groll nicht der Hei­mat ent­gel­ten las­sen zu wol­len, indem sie etwa demo­kra­tisch wäh­len woll­ten, und emp­fahl die Deutsch-Han­no­ver­sche Partei.

Mit »Demo­kra­ten«, das muss man wis­sen, war die SPD gemeint, bei der es sich sei­ner­zeit noch um eine wich­ti­ge, ernst­zu­neh­men­de Par­tei han­del­te. In der »Deutsch-Han­no­ver­schen Par­tei« hin­ge­gen sam­mel­ten sich Mon­ar­chis­ten und erz­kon­ser­va­ti­ve Land­leu­te, die im Kai­ser­reich eine Rück­kehr der Wel­fen auf den han­no­ver­schen Thron for­der­ten und in der Wei­ma­rer Repu­blik (ver­geb­lich) für eine Abspal­tung von Preu­ßen und die Schaf­fung eines Lan­des »Han­no­ver« ein­tra­ten. Auf dem Dach­bo­den von so man­chem alten Nie­der­sach­sen­haus modert noch in irgend­ei­ner Ecke eine ver­bli­che­ne gelb-wei­ße Flag­ge vor sich hin und war­tet dar­auf, dass Ernst-August und Caro­li­ne end­lich das ihnen von alters her zuste­hen­de Lei­ne­schloss beziehen.

Ach so, die Wahl­er­geb­nis­se hier im Dorf am 19. Janu­ar 1919: Deutsch-Han­no­ver­sche Par­tei 46 %, Deut­sche Volks­par­tei 15,7 %, Deut­sche Demo­kra­ti­sche Par­tei 14 %, Sozi­al-Demo­kra­ti­sche Par­tei 12,1 %, Deutsch-Natio­na­le Volks­par­tei 11,7 % der Stim­men. Die CSU in ihren bes­ten Tagen konn­te es bes­ser, aber immerhin …

Damals unter den Taliban (2)

Ange­sichts der Sor­gen, die sich die ges­tern erwähn­ten »Haus­vä­ter und Herr­schaf­ten« um das See­len­heil ihrer Knech­te und Mäg­de mach­ten, muss man sich natür­lich fra­gen, was wohl pas­sier­te, wenn das unver­schäm­te Per­so­nal dann doch mal frech über die Strän­ge schlug. Die Fra­gen kann beant­wor­tet wer­den – in unse­rem klei­nen ver­träum­ten Dorf gab es frü­her eine ein­klas­si­ge Volks­schu­le, deren Leh­rer die wich­tigs­ten Ereig­nis­se in einer klei­nen Chro­nik fest­hielt. Am 23. Febru­ar 1923 ver­merkt er:

Voll­mei­er Wil­helm M. schoß abends dem Schnei­der­ge­sel­len Hein­rich T., der mit M.s Dienst­magd auf dem M.’schen Hofe ein »Stell­dich­ein« hat­te, eine Ladung Schrot­kör­ner ins Knie. T. muß­te ärzt­li­che Hül­fe in Anspruch neh­men. Glück­li­cher­wei­se ist das Knie gut geheilt.

Unbe­kannt ist bis­her, wie der Dorf­po­li­zist reagierte …

Der Kohlestrom des Bösen

Kohlekraftwerk Mehrum

Neu­lich frag­ten die Kin­der, wie eigent­lich Ver­schwö­rungs­theo­rien ent­ste­hen. Auch in unse­rem ver­träum­ten klei­nen Dorf kein unge­wöhn­li­ches The­ma, denn es gibt wohl nichts, von dem unse­re Zeit so beses­sen wäre, wie die Vor­stel­lung, irgend­wel­che fins­te­ren Mäch­te wür­den im Hin­ter­grund die Fäden zie­hen. Auch unter den Alters­ka­me­ra­den unse­res Nach­wuch­ses haben sich schon gewis­se Zwei­fel an Neil Arm­strongs Mond­spa­zier­gang oder der Unge­fähr­lich­keit von Kon­dens­strei­fen breit­ge­macht, und spä­te­re His­to­ri­ker wer­den unse­re Epo­che sicher als »Kon­spi­ra­ti­ve« bezeichnen.

Nun hät­te ich ein­fach ant­wor­ten kön­nen, dass es eben manch­mal Ver­schwö­run­gen gibt – Water­ga­te, Sad­dam Hus­seins angeb­li­che Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen oder die Rol­le der CIA bei der För­de­rung der abs­trak­ten Kunst. Und bei den übli­cher­wei­se als »Theo­rie« bezeich­ne­ten Ver­schwö­run­gen wis­se man es nur noch nicht so genau. Aber gemeint waren natür­lich Gedan­ken­kon­struk­te, die so weit jen­seits der Plau­si­bi­li­tät ange­sie­delt sind, dass ande­re Fak­to­ren im Spiel sein müs­sen: außer­ir­di­sche Rep­ti­lo­ide, Area 51, Prieu­ré de Sion und der­glei­chen. Ich kram­te also zusam­men, was mir so ein­fiel: die mensch­li­che Nei­gung zur Reduk­ti­on kom­ple­xer Zusam­men­hän­ge auf »Gut gegen Böse«, die unbe­wuss­te Pro­jek­ti­on der eige­nen schlech­ten Eigen­schaf­ten auf ande­re (C. G. Jungs »Schat­ten«), die Selbst­sti­li­sie­rung der Ver­schwö­rungs­gläu­bi­gen zu Teil­ha­bern von eli­tä­rem »Geheim­wis­sen« und die Nei­gung, in Stress­si­tua­tio­nen Kau­sa­li­tä­ten zu sehen, wo kei­ne sind. So rich­tig zufrie­den war ich damit aller­dings selbst nicht.

Bis dann eini­ge Tage spä­ter im Lokal­teil unse­rer Zei­tung eine Mel­dung ins Haus flat­ter­te, die mir eine unver­hoff­te Erleuch­tung ver­schaff­te. Dazu muss ich erläu­tern, dass der Teil Nord­deutsch­lands, in dem wir leben, in den letz­ten zwan­zig Jah­ren mit nicht uner­heb­li­chen Men­gen von Wind­rä­dern voll­ge­stellt wor­den ist, deren Strom nun dort­hin trans­por­tiert wer­den soll, wo er gebraucht wird – also in der Regel ein paar hun­dert Kilo­me­ter wei­ter süd­lich. Wenn man Strom an Orten erzeugt, wo vor­her kein Strom erzeugt wur­de, ist es nur logisch, dass man neue Strom­tras­sen und Umspann­wer­ke bau­en muss, bei­des ist bei­spiels­wei­se in der Nähe unse­res ver­träum­ten klei­nen Dor­fes geplant. Ich selbst bin abso­lut dage­gen und habe auch kei­ne mora­li­schen Bauch­schmer­zen des­we­gen – es ist nichts ver­kehrt an dem Wunsch, die Strom­pro­duk­ti­on auf erneu­er­ba­re Quel­len umzu­stel­len, aber solan­ge es kei­ne tech­nisch zuver­läs­si­gen, kos­ten­güns­ti­gen Spei­cher­mög­lich­kei­ten und kei­ne wirk­lich trag­fä­hi­ge Neu­kon­zep­ti­on des Strom­net­zes gibt, ist das alles nur plan- und kopf­lo­ser Aktio­nis­mus, der ver­träum­te klei­ne Dör­fer in einen rie­si­gen, trost­lo­sen Indus­trie­park verwandelt.

Ener­gie­wen­de am Spätnachmittag

Ähn­li­cher Ansicht, so ver­riet es mir jeden­falls das Lokal­blatt, scheint ein Rats­mit­glied in einer nahen Klein­stadt zu sein, an der eben­falls eine der neu geplan­ten Strom­tras­sen vor­bei­füh­ren soll. Die Gewährs­per­son (nähe­re Anga­ben spa­re ich mir) hat sogar eine Online-Peti­ti­on gestar­tet, in der das Bun­des­um­welt­mi­nis­te­ri­um auf­ge­for­dert wird, den Hoch­span­nungs-Tras­sen­bau umge­hend zu stop­pen. Etwas ver­wir­rend ist aller­dings, dass es sich dabei um das Mit­glied einer Par­tei han­delt, die in ihrem Namen die Far­be fri­schen Gra­ses führt und eben jenes »Erneu­er­ba­re-Ener­gien-Gesetz« mit auf den Weg gebracht hat, dem wir das meta­sta­sen­ar­ti­ge Wachs­tum von Wind­parks und neu­en Lei­tun­gen über­haupt zu ver­dan­ken haben. Noch ver­wir­ren­der: Das besag­te Rats­mit­glied sitzt sogar im Vor­stand einer ört­li­chen Genos­sen­schaft, deren Zweck die »Errich­tung und Unter­hal­tung von Anla­gen zur Erzeu­gung rege­ne­ra­ti­ver Ener­gien, ins­be­son­de­re Solar­an­la­gen und Wind­kraft­an­la­gen« ist.

Und am ver­wir­rends­ten ist schließ­lich die Begrün­dung für die Online-Peti­on. Dort wird näm­lich behaup­tet, dass zwei von drei der neu­en Tras­sen dem Trans­port von Koh­le­strom dien­ten.

Wei­ter­le­sen

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2024 Bernd Ohm

Theme von Anders NorénHoch ↑