Autorenblog

Kategorie: Allgemeines (Seite 3 von 11)

1929 mit Ufos

His­to­ri­ker soll­ten sich eigent­lich kei­ne his­to­ri­schen Fil­me anse­hen, man ärgert sich ja doch bloß. Manch­mal ist aller­dings die Ver­su­chung zu groß – zum Bei­spiel konn­te man in der ARD-App gera­de die ers­ten bei­den Staf­feln von Baby­lon Ber­lin bin­gen, und man hat­te doch so viel davon gelesen …

Mein Ein­druck? Ich schwan­ke zwi­schen Enthu­si­as­mus und mit­tel­schwe­rer Genervt­heit. Einer­seits sind Kame­ra, Aus­stat­tung, Licht und Dreh­buch wirk­lich toll. Die Schau­spie­ler machen einen exzel­len­ten Job (allen vor­an Peter Kurth), und man kann mal sehen, was in ihnen steckt, wenn sie vor höhe­ren Anfor­de­run­gen ste­hen als dem durch­schnitt­li­chen deut­schen Fern­seh­kri­mi. Sogar die ziem­lich unplau­si­ble Anla­ge der Rol­le von Lot­te Rit­ter (einer­seits kunst­sei­de­nes Mäd­chen, ande­rer­seits Möch­te­gern-Poli­zis­tin) und die alber­ne »Chi­ca­goi­sie­rung« der Ber­li­ner Ring­ver­ei­ne lass ich mal durch­ge­hen, man kann ja nicht immer nur meckern.

Was mir aller­dings wirk­lich sau­er auf­stößt, sind die Sze­nen im Nacht­le­ben. Es muss eine fata­le Pro­duk­ti­ons­kon­fe­renz gege­ben haben, bei der man beschloss, qua­si als Brecht­schen V‑Effekt Bor­del­le, Nacht­bars und das »Moka Efti« wie Ufos zu insze­nie­ren, die per Zeit­rei­se aus dem Ber­lin der Jetzt­zeit in die Wei­ma­rer Repu­blik gebeamt wur­den. Das Lied der rus­si­schen Grä­fin hört sich an, als ob irgend­wo noch eine alte »Rosenstolz«-Demokassette her­um­lag, die man mit aller­lei Sound­tech­nik zur Tech­no-Minioper auf­ge­bla­sen hat. In der letz­ten Fol­ge der ers­ten Staf­fel gab’s den Del­ta-Blues. Und dann zap­peln sie alle her­um, als ob sie gera­de im »Berg­hain« oder im »Kit­Kat Club« wären. Man merkt die Absicht – he, Zuschau­er: die­ser Tanz auf dem Vul­kan damals ist genau­so wie dein eige­ner Tanz!!! – und ist ver­stimmt. So viel Holz­ham­mer muss doch nun wirk­lich nicht sein … Wenn man, wie ich, die Popu­lär­mu­sik der Wei­ma­rer Repu­blik mit ihrer unnach­ahm­li­chen Mischung aus jüdisch-iro­ni­scher Leich­tig­keit und deutsch-sen­ti­men­ta­ler Melan­cho­lie für eine der edels­ten Her­vor­brin­gun­gen der mit­tel­eu­ro­päi­schen Kul­tur über­haupt hält, lei­det man beim Zuschau­en tau­send Qualen.

Na gut. Ich guck trotz­dem wei­ter. Hier ein biss­chen wirk­li­che Musik von damals:

Panik auf dem Narrenschiff

Poli­tik ist natür­lich auch immer irgend­wie Fami­li­en­dra­ma: Die CDU spielt dabei die Rol­le der etwas alt­mo­di­schen Eltern, die den Laden zusam­men­hal­ten müs­sen, die SPD ist die stre­ber­haf­te Toch­ter mit eige­ner Fami­lie, die im Manage­ment einer gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­ti­on arbei­tet, die FDP der kin­der­lo­se Sohn mit Zahn­arzt­pra­xis, und die AfD gibt den pein­li­chen Onkel, der auf der Kon­fir­ma­ti­ons­fei­er zu spä­ter Stun­de anfängt, im Suff die ers­te Stro­phe des Deutsch­land­lieds zu sin­gen. Die Grü­nen hin­ge­gen sind der ewig jugend­li­che Rebell, der alle mit sei­nem kom­pro­miss­lo­sen Mora­lis­mus und sei­nen radi­ka­len Ideen nervt. Er hat zwar die ande­ren dazu gebracht, ihren Müll zu tren­nen und Bio­fleisch zu kau­fen (selbst die Eltern geben zu, dass es bes­ser schmeckt), aber nie­mand wür­de erwar­ten, dass er irgend­wann ein­mal Fami­li­en­vor­stand wird. Am aller­we­nigs­ten er selbst.

In die­sem Sin­ne ist wohl die Beklem­mung zu ver­ste­hen, die Robert Habeck bei sei­nen Fern­seh­in­ter­views am Sonn­tag­abend nach der Euro­pa­wahl deut­lich anzu­mer­ken war. Die Wahl­er­geb­nis­se legen nahe, dass der Grü­nen-Kapi­tän sein »Nar­ren­schiff Uto­pia« (FJS) dem­nächst zum Staats­damp­fer umta­keln muss und damit vor der unan­ge­neh­men Auf­ga­be steht, all den gro­ßen Wor­ten end­lich Taten fol­gen zu las­sen. Aber wie soll das gehen? Die Grü­nen haben vor lan­ger Zeit das Ziel eines fun­da­men­ta­len Wan­dels auf­ge­ge­ben und sich dem Mär­chen ver­schrie­ben, man kön­ne den gro­ßen, Res­sour­cen und Ener­gie ver­schlin­gen­den Behe­mo­th Indus­trie­ge­sell­schaft am Leben erhal­ten (und ihm gleich­zei­tig sei­ne sui­zi­da­le Ten­denz neh­men), indem man ihn mit Son­nen- und Wind­ener­gie antreibt und mit sei­nen eige­nen Aus­schei­dun­gen füt­tert. In den Wor­ten von wei­land Rudolf Bahro: die Brü­cke der Tita­nic mit Son­nen­blu­men schmücken.

Die Wäh­ler lie­ben die­se Geschich­te, weil sie ihnen das beru­hi­gen­de Gefühl ver­schafft, irgend­wie ihren eige­nen, res­sour­cen- und ener­gie­ver­schlin­gen­den Lebens­stil (wir sind selbst der Behe­mo­th!) auf­recht­erhal­ten zu kön­nen, ohne dabei ein schlech­tes Gewis­sen haben zu müs­sen. Irgend­je­mand wird schon ein Pas­sa­gier­flug­zeug bau­en, das mit Strom fliegt. Irgend­je­mand wird Power-to-Fuel so bil­lig machen, dass auch die Unter­schich­ten damit ihre Autos betan­ken kön­nen. Irgend­je­mand wird ein intel­li­gen­tes Netz kon­zi­pie­ren, das den Strom bedarfs­ge­recht ver­teilt, auch wenn es kei­ne Atom- und Koh­le­kraft­wer­ke mehr gibt.

Aber Habeck ist nicht dumm. Irgend­wo tief in sich drin wird er schon ahnen, dass er auf der Wel­le eines Schnee­ball­sys­tems segelt, die in abseh­ba­rer Zukunft auf den Strand schla­gen wird. Irgend­wann wird man mer­ken, dass es wenig Sinn hat, ab und zu mal auf eine Flug­rei­se zu ver­zich­ten, wenn gleich­zei­tig in Chi­na dut­zen­de neu­er Flug­hä­fen ent­ste­hen. Irgend­wann wird die mons­trö­se Steu­er­last dazu füh­ren, dass auch hier­zu­lan­de die Unter­schich­ten die gel­ben Wes­ten anzie­hen, den Knüp­pel in die Hand neh­men und den bösen Onkel wäh­len. Irgend­wann wird die Bun­des­re­gie­rung zuge­ben müs­sen, dass man fos­si­le und Kern­kraft­wer­ke gar nicht abschal­ten kann, ohne einen lan­des­wei­ten Black­out mit kata­stro­pha­len Fol­gen zu ris­kie­ren. Und wer möch­te dann schon Kapi­tän sein …?

Auf der Blutbeeren-Brücke

Ein Lied, das ich gera­de dau­ernd höre, ver­rät einem wahr­schein­lich mehr über die Aus­sich­ten, dass wir jemals die »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa« grün­den wer­den, als sämt­li­che Wahl­pro­gram­me zur Euro­pa­wahl zusam­men. Dabei hat es gar nichts mit der EU zu tun, son­dern stammt aus einem 2007 erschie­ne­nen Kon­zept­al­bum der pol­ni­schen Sän­ge­rin Aga Zaryan über den Auf­stand der »Pol­ni­schen Hei­mat­ar­mee« gegen die deut­schen Besat­zer im Spät­som­mer und Herbst 1944. Wer jetzt brech­tisch-bier­man­nes­ke Bedeu­tungs­hu­be­rei erwar­tet, liegt aller­dings völ­lig dane­ben: Zaryan ist als Jazz-Inter­pre­tin weit über die Gren­zen ihres Hei­mat­lands hin­aus bekannt, die musi­ka­li­sche Umset­zung ist dem­entspre­chend, und der Text ist weder hero­isch-patrio­tisch, noch pran­gert er in flam­men­den Far­ben die apo­ka­lyp­ti­sche Zer­stö­rungs­wut an, mit der in jenem Jahr Wehr­macht, SS und ihre ost­eu­ro­päi­schen Hilfs­trup­pen (von Leh­mann in Wolfs­stadt immer als »Kosa­ken oder Kal­mü­cken oder so« ver­un­glimpft) die pol­ni­sche Haupt­stadt überzogen.

Statt­des­sen wird hier ein Gedicht der außer­halb ihres Hei­mat­lands mehr oder weni­ger unbe­kann­ten Dich­te­rin Kry­sty­na Kra­hels­ka ver­tont, die wäh­ren der deut­schen Besat­zung selbst bei den Par­ti­sa­nen kämpf­te, am War­schau­er Auf­stand als Sani­tä­te­rin der Hei­mat­ar­mee teil­nahm und dabei gleich in den ers­ten August­ta­gen ihr Leben las­sen muss­te. Hier eine Ad-hoc-Über­set­zung der ers­ten Strophen:

Ich ging über die Blutbeeren-Brücke
Die Blut­bee­ren-Brü­cke schaukelte
Der Wind pfiff ein Lied über das Schilf
Und schrieb mit Federn in das Wasser

Die roten Bee­ren fielen
Bis auf den Grund des dunk­len Wassers
Ich ging über die Blutbeeren-Brücke
Die Blut­bee­ren-Brü­cke bog sich nach unten

Ich woll­te mich an dich erinnern
Aber du bist mir nicht eingefallen
Da waren Räder auf dem dunk­len Wasser
Da war ein Blut­bee­ren-Herz in mir

Man denkt unwill­kür­lich an die düs­te­re Welt, in der Andrzej Sap­kow­skis Roma­ne und The Wit­cher spie­len, und in der Tat ist Kali­nowy Most, die »Schnee­ball-« oder »Blut­bee­ren-Brü­cke«, in den alt­sla­wi­schen Mär­chen und Hel­den­sa­gen eine Brü­cke zwi­schen der Welt der Leben­den und der Toten und der Ort des Kamp­fes zwi­schen Gut und Böse. Eine düs­te­re Vor­ah­nung des eige­nen Todes liegt in Kra­hels­kas Zei­len eben­so wie die Angst des Sol­da­ten am Abend vor dem Angriff, die Trau­er um tote Kame­ra­den und die Schwe­re des Schick­sals, das auf dem Land las­tet. Auf deut­sche Ver­hält­nis­se über­tra­gen: als wür­de Lisa Bas­sen­ge ein Lied über die Münch­ner Räte­re­pu­blik sin­gen, in dem die rechts­ra­di­ka­len Frei­korps mit Mus­pells Söh­nen beim Ragna­r­ök ver­gli­chen werden.

Ein sol­ches Lied wer­den wir wohl nie­mals zu hören bekom­men, was schon auf einen gewich­ti­gen Unter­schied beim Blick auf die eige­ne Geschich­te und Über­lie­fe­rung dies- und jen­seits der Oder hin­deu­tet: In Polen schämt man sich nicht für sei­ne Vor­fah­ren, man ist stolz drauf, nie das Haupt gebeugt zu haben – selbst wenn kei­ne der zahl­rei­chen Erhe­bun­gen zur Zeit der Par­ti­tio­nen oder dann im Kom­mu­nis­mus jemals von Erfolg gekrönt war. Und der sou­ve­rä­ne Natio­nal­staat wird weit­hin nicht als Quel­le allen Übels gese­hen, son­dern als end­lich ein­ge­lös­tes Ver­spre­chen nach einer lan­gen Durst­stre­cke, wäh­rend derer man unter der Knu­te der mäch­ti­gen Nach­barn stand und nicht ein­mal einen eige­nen Staat vor­wei­sen konn­te. Geschwei­ge denn, dass man sei­ne Flag­ge auf fer­nen Kon­ti­nen­ten auf­ge­pflanzt oder mit afri­ka­ni­schen Skla­ven gehan­delt hätte.

Man sagt ja, dass jedes Land sei­ne eige­ne Erwar­tun­gen an das geein­te Euro­pa hat: Für die Fran­zo­sen sei es ein Mit­tel, ihren eige­nen Ein­fluss in der Welt halb­wegs auf dem von frü­her gewohn­ten Niveau zu hal­ten, für die Süd­län­der ein Weg zum Reich­tum des Nor­dens, für die Deut­schen die Hoff­nung, kei­ne Deut­schen mehr sein zu müs­sen, son­dern »Euro­pä­er«. Für Polen und die ande­ren klei­nen Län­der Ost­mit­tel­eu­ro­pas ist es ein siche­rer Hafen, in dem sie vor den Zumu­tun­gen des gro­ßen öst­li­chen Nach­barn geschützt sind. Aber eben ein Hafen, in dem man anle­gen kann; kein Schiffs­fried­hof, auf dem man abwra­cken muss. Die Wahr­schein­lich­keit, dass sie sich jemals in Bun­des­staa­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa ver­wan­deln wer­den, ist prak­tisch null. Was also wer­den die Pan-Euro­pä­er tun, wenn sie ihren Wil­len nicht bekom­men, die Pan­zer wie­der in Bewe­gung set­zen und dort einmarschieren …?

Klei­ner Nach­trag: Anna Maria Jop­ek haut in die glei­che Kerbe …

 

 

    Fra­gen, Anre­gun­gen, Kom­men­ta­re? Ein­fach eine E‑Mail an kommentar@berndohm.de!

Der Teufel und die Phase Drei

Faust wäre eigent­lich der Mann der Stun­de. Sein unstill­ba­rer Wis­sens­durst, sei­ne maß­lo­se Dyna­mik und Macht­gier, sei­ne Sehn­sucht nach Rausch und Spi­ri­tua­li­tät – all das sind zwei­fel­los immer noch wir. Auch einen nicht ganz unbe­deu­ten­den Teu­fels­pakt haben wir geschlos­sen, der uns die wis­sen­schaft­li­che Revo­lu­ti­on, fos­si­le Brenn­stof­fe und tau­send unver­zicht­ba­re tech­ni­sche Hel­fer­lein beschert hat, nun aber lang­sam dar­auf zusteu­ert, dass der Fürst der Fins­ter­nis sei­nen übli­chen Lohn ein­for­dert. Nicht ganz zufäl­lig hat Speng­ler unse­re Kul­tur, die im Spät­mit­tel­al­ter aus der Ursup­pe von Alchi­mie und Ent­de­ckungs­fahr­ten ent­stand, als »faus­tisch« bezeichnet.

Was wohl das heu­ti­ge Thea­ter dar­aus macht? Ich bin lei­der nicht so im The­ma drin – das letz­te posi­ti­ve Büh­nen­er­leb­nis, an das ich mich erin­nern kann, muss irgend­wann gegen Ende der 1980er Jah­re in den Münch­ner Kam­mer­spie­len gewe­sen sein; ich glau­be, es war eine Auf­füh­rung von Tsche­chows Möwe. Die Kos­tü­me ent­spra­chen der Zeit des Stü­ckes, das Büh­nen­bild sah aus wie ein rus­si­scher Guts­hof Ende des 19. Jahr­hun­derts von innen aus­ge­se­hen haben mag, und die Schau­spie­ler ver­kör­per­ten die Rol­len so, wie es der Autor vor­ge­se­hen hat­te, ohne dass der Text einer Figur auf ver­schie­de­ne Spre­cher ver­teilt wur­de oder ein ein­sa­mer Mime sämt­li­che Rol­len­tex­te mit ver­stell­ter Stim­me aus dem Reclam-Heft ablas. Nicht mal Video­ein­spie­lun­gen oder Gesangs­ein­la­gen gab es. Spä­ter ging ich immer sel­te­ner ins Thea­ter; irgend­wann habe ich es ganz aufgegeben.

Ich schwei­fe ab. Vor kur­zem ent­deck­te ich das Kon­ter­fei Mephis­tos auf dem Cover einer etwas merk­wür­di­gen, nach einem römi­schen Schrift­stel­ler benann­ten Zeit­schrift, die mir eine Erklä­rung dafür ver­sprach, »was Goe­thes Meis­ter­werk unsterb­lich macht«. Gese­hen, gekauft, ärger­lich wie­der weg­ge­legt. Der Haupt­text mäan­dert so vor sich hin, irgend­was mit Gret­chen und »Metoo« sowie eine Para­de der abson­der­lichs­ten Insze­nie­rungs­ideen, die gera­de auf den deutsch­spra­chi­gen Büh­nen im Umlauf sind. Wich­ti­ger als der Inhalt des Stücks scheint mitt­ler­wei­le zu sein, wel­che Rol­le der Goe­the­kult im »3. Reich« spiel­te. Ein paar Sei­ten wei­ter meint irgend­je­mand sogar, der Dich­ter­fürst hät­te etwas gegen Boden­spe­ku­la­ti­on schrei­ben wol­len … Der ein­zi­ge, der auch nur in die Nähe des Pro­blems kommt, ist ein gewis­ser Nico­las Ste­mann, der aber auf hal­bem Weg ste­hen­bleibt und Goe­thes Dra­ma der »Geburt des moder­nen Kapi­ta­lis­mus« zuweist – als wäre Fausts gran­dio­se Neu­land­ge­win­nung nicht eben­so gut ein Vor­läu­fer kom­mu­nis­ti­scher oder faschis­ti­scher Mega­pro­jek­te. Mephis­to, das ist ja das Dilem­ma, hat die Moder­ne ins­ge­samt gebracht, nicht nur die libe­ral-kapi­ta­lis­ti­sche Variante.

The­ma also lei­der ver­fehlt. Wor­an mag das lie­gen? Viel­leicht dar­an, dass wir noch nicht bereit für die Depres­si­on sind. Nein, das ist jetzt kei­ne erneu­te Abschwei­fung – ich mei­ne damit die drit­te der fünf Pha­sen des Ster­be­pro­zes­ses, die um 1970 von der schwei­ze­risch-ame­ri­ka­ni­schen Psych­ia­te­rin Eli­sa­beth Küb­ler-Ross in ihrem Buch Inter­views mit Ster­ben­den iden­ti­fi­ziert wur­den. Küb­ler-Ross hat­te aus ihrer Beschäf­ti­gung mit Todes­kan­di­da­ten die Erkennt­nis gewon­nen, dass die meis­ten Men­schen auf die Nach­richt ihres bevor­ste­hen­den Todes zunächst mit Nicht­wahr­ha­ben­wol­len (deni­al), dann mit Zorn (anger) und Ver­han­deln (bar­gai­ning), schließ­lich mit trau­ern­der Depres­si­on (depres­si­on and grief) und Hin­nah­me (accep­t­ance) reagie­ren.

Das Modell lässt sich pro­blem­los auf die lang­sam all­ge­mein däm­mern­de Erkennt­nis über­tra­gen, dass die Mensch­heit dank Mephis­tos Geschenk dabei ist, durch glo­ba­le Erwär­mung, Erschöp­fung der Res­sour­cen und Natur­zer­stö­rung nach­hal­tig ihre eige­ne Exis­tenz­grund­la­ge zu besei­ti­gen. Aller­dings ist dabei nicht jeder gleich schnell: Bei Sci­ence­Files und in AfD-Krei­sen etwa hat man sich fest in Pha­se Eins ein­be­to­niert, wäh­rend die Gelb­wes­ten und die Extinc­tion Rebels unge­hemmt ihren Zorn aus­le­ben und das Dark Moun­tain Pro­ject schon melan­cho­lisch über­legt, wie es nach dem Zusam­men­bruch wei­ter­ge­hen könnte.

Inter­es­san­ter ist die drit­te Pha­se, in der sich wohl die meis­ten von uns befin­den. Küb­ler-Ross mein­te damit den Glau­ben von Tod­ge­weih­ten, das dro­hen­de Unheil etwa durch einen »Han­del mit Gott« (indem man etwa sein Ver­mö­gen der Kir­che stif­tet) noch irgend­wie abwen­den zu kön­nen. Auch eine ganz bana­le Ände­rung ihrer Lebens­wei­se kann ange­bo­ten wer­den: Wenn man sich radi­kal ändert, ab sofort auf­hört zu rau­chen, zu trin­ken, Dro­gen zu neh­men und unge­sund zu essen, wenn man Sport treibt, medi­tiert und Yoga macht – dann könn­te man doch noch ein paar Jah­re her­aus­schin­den, oder …? Das ent­spricht in etwa unse­rer Hoff­nung, wir müss­ten nur Unmas­sen von Wind­rä­dern in die Land­schaft stel­len, Die­sel­mo­to­ren ver­bie­ten und genü­gend Geld­mit­tel in die Was­ser­stoff­for­schung ste­cken, um damit den Unter­gang unse­rer Zivi­li­sa­ti­on noch­mal ein Schnipp­chen zu schla­gen. Wie in dem Mär­chen vom Bau­ern und dem Teu­fel, in dem der cle­ve­re Land­mann den Höl­len­fürs­ten über­lis­tet und ihm einen Schatz abtrotzt, ohne sei­ne See­le dafür her­ge­ben zu müssen.

Aber ist der Teu­fel wirk­lich so dumm? Damit wären wir wie­der beim Faust­stoff, der in sei­ner klas­si­schen Vari­an­te, also in der Volks­sa­ge und in Mar­lo­wes Dok­tor Faus­tus, eine ein­deu­ti­ge Ant­wort dar­auf gibt: Der Wit­ten­ber­ger Gelehr­te erhält als Lohn für den Ver­kauf sei­ner See­le einen von Dra­chen gezo­ge­nen Him­mels­wa­gen, eine Audi­enz beim Papst, eine Stel­lung als Bera­ter des Kai­sers, Zau­ber­mit­tel jeder Art und als letz­tes Extra die Gunst der schöns­ten Frau der Anti­ke, der berühm­ten Hele­na. Aber dann kommt die Nacht, in der abge­rech­net wird, und es bleibt der Phan­ta­sie des Lesers oder Zuschau­ers über­las­sen, wie wohl die Blut­sprit­zer und Gehirn­res­te, die sein Famu­lus am nächs­ten Mor­gen an den Wän­den von Fausts Stu­dier­stu­be ent­deckt, dort­hin gekom­men sein mögen.

Nicht so Goe­the: Von den Idea­len der Auf­klä­rung beseelt konn­te er sei­nen tra­gi­schen Hel­den nicht ein­fach so zur Höl­le fah­ren las­sen. Statt­des­sen läu­tert sich der Teu­fels­pak­tie­rer am Schluss, indem er den Sinn des Lebens dar­in fin­det, selbst­los den bedürf­ti­gen Mas­sen durch sein gro­ßes Ein­dei­chungs­pro­jekt zu hel­fen und dadurch unsterb­li­chen Ruhm zu erlan­gen. Mephis­to hin­ge­gen mutiert ganz wie im Mär­chen zum lüs­ter­nen Trot­tel, der sich von den appe­tit­lich anzu­se­hen­den Hin­tern der Engel ablen­ken lässt und dadurch Fausts See­le nicht mehr in die Hän­de bekommt. Eine Inkar­na­ti­on der Gro­ßen Mut­ter­göt­tin seg­net alles ab, selbst die Sache mit Gret­chen ist ver­zie­hen und ver­ge­ben, und ein mys­ti­scher Chor beschwört das »Ewig-Weib­li­che«.

Auf unse­re Situa­ti­on über­tra­gen: Kön­nen wir trotz unse­rer vie­len schwe­ren Sün­den dar­auf hof­fen, doch noch das Ruder her­um­zu­rei­ßen und Erlö­sung in einer son­nen- und wind­ge­trie­be­nen Welt zu fin­den, in der spi­ri­tu­ell beseel­te Natur­ver­bun­den­heit und tech­ni­sche Zivi­li­sa­ti­on sich nicht mehr gegen­sei­tig aus­schlie­ßen? Oder gar, wie von Elon Musk und Jeff Bezos erträumt, mit neu­em Schwung den Welt­raum erobern und die Natur hier unten sich selbst über­las­sen …? Die Ant­wort dar­auf mag jeder sich selbst geben, aber ich wür­de ver­mut­lich sogar wie­der ins Thea­ter gehen, wenn nur mal jemand den Faust unter die­sem Aspekt insze­nie­ren wür­de (aber bit­te kei­ne Reclam-Heftchen!) …

« Ältere Beiträge Neuere Beiträge »

© 2024 Bernd Ohm

Theme von Anders NorénHoch ↑