Ein Lied, das ich gera­de dau­ernd höre, ver­rät einem wahr­schein­lich mehr über die Aus­sich­ten, dass wir jemals die »Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa« grün­den wer­den, als sämt­li­che Wahl­pro­gram­me zur Euro­pa­wahl zusam­men. Dabei hat es gar nichts mit der EU zu tun, son­dern stammt aus einem 2007 erschie­ne­nen Kon­zept­al­bum der pol­ni­schen Sän­ge­rin Aga Zaryan über den Auf­stand der »Pol­ni­schen Hei­mat­ar­mee« gegen die deut­schen Besat­zer im Spät­som­mer und Herbst 1944. Wer jetzt brech­tisch-bier­man­nes­ke Bedeu­tungs­hu­be­rei erwar­tet, liegt aller­dings völ­lig dane­ben: Zaryan ist als Jazz-Inter­pre­tin weit über die Gren­zen ihres Hei­mat­lands hin­aus bekannt, die musi­ka­li­sche Umset­zung ist dem­entspre­chend, und der Text ist weder hero­isch-patrio­tisch, noch pran­gert er in flam­men­den Far­ben die apo­ka­lyp­ti­sche Zer­stö­rungs­wut an, mit der in jenem Jahr Wehr­macht, SS und ihre ost­eu­ro­päi­schen Hilfs­trup­pen (von Leh­mann in Wolfs­stadt immer als »Kosa­ken oder Kal­mü­cken oder so« ver­un­glimpft) die pol­ni­sche Haupt­stadt überzogen.

Statt­des­sen wird hier ein Gedicht der außer­halb ihres Hei­mat­lands mehr oder weni­ger unbe­kann­ten Dich­te­rin Kry­sty­na Kra­hels­ka ver­tont, die wäh­ren der deut­schen Besat­zung selbst bei den Par­ti­sa­nen kämpf­te, am War­schau­er Auf­stand als Sani­tä­te­rin der Hei­mat­ar­mee teil­nahm und dabei gleich in den ers­ten August­ta­gen ihr Leben las­sen muss­te. Hier eine Ad-hoc-Über­set­zung der ers­ten Strophen:

Ich ging über die Blutbeeren-Brücke
Die Blut­bee­ren-Brü­cke schaukelte
Der Wind pfiff ein Lied über das Schilf
Und schrieb mit Federn in das Wasser

Die roten Bee­ren fielen
Bis auf den Grund des dunk­len Wassers
Ich ging über die Blutbeeren-Brücke
Die Blut­bee­ren-Brü­cke bog sich nach unten

Ich woll­te mich an dich erinnern
Aber du bist mir nicht eingefallen
Da waren Räder auf dem dunk­len Wasser
Da war ein Blut­bee­ren-Herz in mir

Man denkt unwill­kür­lich an die düs­te­re Welt, in der Andrzej Sap­kow­skis Roma­ne und The Wit­cher spie­len, und in der Tat ist Kali­nowy Most, die »Schnee­ball-« oder »Blut­bee­ren-Brü­cke«, in den alt­sla­wi­schen Mär­chen und Hel­den­sa­gen eine Brü­cke zwi­schen der Welt der Leben­den und der Toten und der Ort des Kamp­fes zwi­schen Gut und Böse. Eine düs­te­re Vor­ah­nung des eige­nen Todes liegt in Kra­hels­kas Zei­len eben­so wie die Angst des Sol­da­ten am Abend vor dem Angriff, die Trau­er um tote Kame­ra­den und die Schwe­re des Schick­sals, das auf dem Land las­tet. Auf deut­sche Ver­hält­nis­se über­tra­gen: als wür­de Lisa Bas­sen­ge ein Lied über die Münch­ner Räte­re­pu­blik sin­gen, in dem die rechts­ra­di­ka­len Frei­korps mit Mus­pells Söh­nen beim Ragna­r­ök ver­gli­chen werden.

Ein sol­ches Lied wer­den wir wohl nie­mals zu hören bekom­men, was schon auf einen gewich­ti­gen Unter­schied beim Blick auf die eige­ne Geschich­te und Über­lie­fe­rung dies- und jen­seits der Oder hin­deu­tet: In Polen schämt man sich nicht für sei­ne Vor­fah­ren, man ist stolz drauf, nie das Haupt gebeugt zu haben – selbst wenn kei­ne der zahl­rei­chen Erhe­bun­gen zur Zeit der Par­ti­tio­nen oder dann im Kom­mu­nis­mus jemals von Erfolg gekrönt war. Und der sou­ve­rä­ne Natio­nal­staat wird weit­hin nicht als Quel­le allen Übels gese­hen, son­dern als end­lich ein­ge­lös­tes Ver­spre­chen nach einer lan­gen Durst­stre­cke, wäh­rend derer man unter der Knu­te der mäch­ti­gen Nach­barn stand und nicht ein­mal einen eige­nen Staat vor­wei­sen konn­te. Geschwei­ge denn, dass man sei­ne Flag­ge auf fer­nen Kon­ti­nen­ten auf­ge­pflanzt oder mit afri­ka­ni­schen Skla­ven gehan­delt hätte.

Man sagt ja, dass jedes Land sei­ne eige­ne Erwar­tun­gen an das geein­te Euro­pa hat: Für die Fran­zo­sen sei es ein Mit­tel, ihren eige­nen Ein­fluss in der Welt halb­wegs auf dem von frü­her gewohn­ten Niveau zu hal­ten, für die Süd­län­der ein Weg zum Reich­tum des Nor­dens, für die Deut­schen die Hoff­nung, kei­ne Deut­schen mehr sein zu müs­sen, son­dern »Euro­pä­er«. Für Polen und die ande­ren klei­nen Län­der Ost­mit­tel­eu­ro­pas ist es ein siche­rer Hafen, in dem sie vor den Zumu­tun­gen des gro­ßen öst­li­chen Nach­barn geschützt sind. Aber eben ein Hafen, in dem man anle­gen kann; kein Schiffs­fried­hof, auf dem man abwra­cken muss. Die Wahr­schein­lich­keit, dass sie sich jemals in Bun­des­staa­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Euro­pa ver­wan­deln wer­den, ist prak­tisch null. Was also wer­den die Pan-Euro­pä­er tun, wenn sie ihren Wil­len nicht bekom­men, die Pan­zer wie­der in Bewe­gung set­zen und dort einmarschieren …?

Klei­ner Nach­trag: Anna Maria Jop­ek haut in die glei­che Kerbe …

 

 

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