Beim Recherchieren im Internet stößt man ja auf die irrsten Sachen. Zum Beispiel die erstaunliche Tatsache, dass es die „Marxistischen Blätter“ noch gibt, die während meiner Studienzeit immer von irgendwelchen sektiererhaften Gestalten umsonst vor der Mensa an der Leopoldstraße verteilt wurden und mir so manches unvergessliche Leseerlebnis verschafften, während ich Stammessen III, Dampfnudel mit Vanillesoße, verdrückte. Heute erscheinen die entsprechenden Artikel auf einer Seite namens Linksnet, und ich kann nahtlos an alte Erfahrungen anknüpfen. Da wird zum Beispiel auf dieser Seite hier behauptet:
Nach der Abriegelung der DDR-Grenze am 13. August 1961 erklärte die Bundesregierung den Mauerbau zum NATO-Bündnisfall und forderte die Umsetzung der NATO-Strategie der „massiven Vergeltung“ mit vollem Einsatz von Atomwaffen. General Steinhoff verlangte als deutscher militärischer Vertreter bei der NATO zumindest den selektiven Atomwaffengebrauch. Noch im Dezember 1961 drängten Strauß und Oberst Beermann in Washington darauf, zumindest einige Atombomben demonstrativ über der Ostsee oder einem DDR-Truppenübungsplatz zu zünden.
Man traut ja Strauß und Adenauer allerhand zu. Aber der Mauerbau als Bündnisfall? Atompilze über der Ostsee? Das weicht derart von der Standard-Geschichtsschreibung ab, dass es geradezu eine Sensation wäre, wenn die Angaben sich bewahrheiten würden. Aber tun sie das? Eine entsprechende Diskussion im Geschichtsforum bringt keine Klärung, weitere Fundstellen im Netz beziehen sich einfach nur (meistens ohne Nennung, aber relativ offensichtlich) auf die Linksnet-Seite.
Aber wozu hat man schließlich selbst Geschichte studiert … Die Fußnote zu dem zitierten Absatz führt zur Quelle der Informationen, dem 2005 erschienenen Buch Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005 des Münchner Politologen und Historikers Detlef Bald, der seiner Wikipedia-Seite zufolge früher einen Lehrauftrag an der Bundeswehr-Uni in Neubiberg hatte, aber wegen kritischer Äußerungen zur Bundeswehr-Traditionspflege heute nicht mehr für die Streitkräfte arbeitet. Das Buch ist auszugsweise auf Google Books verfügbar, zum Glück sind die Seiten 58 und 59, die die angesprochenen Informationen enthalten, für jedermann in der Vorschau sichtbar (ich selbst bin ein paar Euro im Antiquariat losgeworden und verfüge über ein vollständiges Exemplar). Zum Verständnis der folgenden Diskussion sollte man die Seiten gelesen haben.
Die von Bald dort angegebenen Quellen in den Fußnoten 103, 104 und 105 sind:
Joachim Arenth: „Wenn der Westen einig und stark ist …“: Deutsch-amerikanische Interessenkongruenz und ‑konflikte während der Berlin-Krise, 1993
Christoph Hoppe: Zwischen Teilhabe und Mitsprache: Die Nuklearfrage in der Allianzpolitik Deutschlands 1959–1966, 1993
Johannes Steinhoff, Reiner Pommerin: Strategiewechsel: Bundesrepublik und Nuklearstrategie in der Ära Adenauer-Kennedy, 1992
Helga Haftendorn: … die volle Macht eines souveränen Staates …: die alliierten Vorbehaltsrechte als Rahmenbedingung westdeutscher Außenpolitik 1949–1990, 1996
Die muss man natürlich nicht gelesen haben, das habe stattdessen ich in der Uni-Bibliothek meines Vertrauens erledigt. Im Folgenden gehe ich Balds Argumentation durch und bewerte sie anhand der genannten und weiterer Quellen, zum Beispiel der Erinnerungen von Wilhelm Grewe, seinerzeit westdeutscher Botschafter in Washington, und Franz-Josef-Strauß, damals westdeutscher Verteidigungsminister.
1) Strauß habe im Juli 1961 US-Verteidigungsminister Robert McNamara gedrängt, die „Diskrepanzen zwischen Phrasen und Taten“ aufzugeben.
Korrekt. Wird bei Steinhoff/Pommerin sowie in den Erinnerungen von Grewe bestätigt. Die Aussage bezieht sich allerdings eher in allgemeiner Art auf das Lavieren der Amerikaner in der seit 1958 schwelenden Krise seit dem Berlin-Ultimatum Chruschtschows. Man wusste nicht so recht, was man eigentlich machen sollte, wenn die Sowjets einen Separatfrieden mit der DDR schließen oder wieder die Zufahrtswege blockieren wie 1948. Sofort die Interkontinentalraketen und die B‑52 losschicken? (Strauß hätte wohl zumindest gerne damit gedroht.) Konventionelle Streitkräfte im Marsch setzen? (Strauß war dagegen, insbesondere sollte nicht sofort die Bundeswehr zur Sicherung der Transportwege eingesetzt werden.) Gar nichts machen und als Weichlinge erscheinen? (Wollte Strauß nun auch wieder nicht.) Strauß forderte einen „konkreten Aktionsplan“ für den Eventualfall, hatte aber selbst auch keine zündenden Ideen anzubieten (was im Prinzip das Dilemma des Westens insgesamt in der Berlinkrise beschreibt).
2) Nach dem 13. August 1961 habe „Bonn“ das Argument vertreten, der Mauerbau sei wohl ein alliiertes Problem, aber zugleich sei der Bündnisfall eingetreten.
Das finde ich weder in den von Bald angeführten Quellen noch sonst irgendwo, man vergleiche beispielsweise Joachim Arendt: Der Westen tut nichts!: transatlantische Kooperation während der zweiten Berlin-Krise (1958–1962) im Spiegel neuer amerikanischer Quellen, 1993, und die dort dargestellte unentschlossene Haltung von Adenauer und Strauß! Dies ist umso schlimmer, als diese unbewiesene Behauptung sämtliche folgenden Aussagen in das falsche Licht rückt, eine Reaktion auf den Mauerbau zu beschreiben, während es in Wirklichkeit um die „Contingency-Planung“ für den (hypothetischen) Fall einer erneuten sowjetischen Blockade Westberlins ging. Eine solche Blockade oder ein Angriff der Sowjetunion auf Westberlin wurde seinerzeit von vielen Akteuren in Politik und Militär, die den Mauerbau für den Beginn einer größeren Krise hielten, gefürchtet. Dann wäre in der Tat der NATO-Bündnisfall eingetreten, aber bekanntlich kam es dazu nicht, und der Mauerbau richtete sich letztendlich nicht gegen die Westmächte, sondern gegen die Bevölkerung der DDR. Es ist kaum vorstellbar, dass die westdeutsche Regierung sich damals dieses Umstands nicht bewusst gewesen wäre.
3) Die Deutschen hätten gefordert, das Bündnis müsse gemäß der Strategie der „Massiven Vergeltung“ eingreifen.
Dies ist im Kontext des seinerzeitigen Strategiewechsels der Regierung Kennedy weg von Massive Retaliation (voller Einsatz aller Atomwaffen schon beim kleinsten Angriff) und hin zu Flexible Response (vorsichtige Eskalation des Konflikts zunächst mit konventionellen Mitteln) zu verstehen. Die Westdeutschen, insbesondere das Verteidigungsministerium unter Strauß, blieben dem alten Paradigma verhaftet, weil sie glaubten, nur auf diese Weise die Sowjetunion von einem Angriff abschrecken zu können. Zum Beispiel hielten sie es für sinnlos, im Falle einer neuen Berlinblockade mit konventionellen Truppen auf Berlin vorzustoßen, lieber sollte man gleich massiv nuklear antworten. Auch dies bezieht sich aber wiederum nur auf den hypothetischen Eventualfall, nicht auf den Mauerbau. (Näheres dazu siehe Hoppe, S. 52 ff und Arenth, Wenn der Westen…).
4) „Bonn“ habe in einem Memorandum zur Sicherung der Zufahrtsrechte über die Autobahn den vollen militärischen Einsatz von Atomwaffen vorgeschlagen.
siehe 3)
5) General Johannes Steinhoff habe den selektiven Einsatz von Atomwaffen gefordert.
Das ist zumindest missverständlich formuliert. Steinhoff war damals nicht nur deutscher Vertreter bei der Nato, sondern auch militärischer Vertreter in der seit 1959 regelmäßig tagenden „Washingtoner Botschaftergruppe“, in der die Botschafter Großbritanniens, Frankreichs und der BRD sowie ein Vertreter des State Department versuchten, die westliche Politik zur Deutschland- und Berlinfrage zu koordinieren und Planungen für eine Eskalation der Krise zu initiieren (Näheres dazu siehe Haftendorn). In diesen Diskussionen hatte sich Steinhoffs Position langsam jener der Amerikaner angenähert, d. h. auch er wollte nicht gleich massiv nuklear zuschlagen, sondern eher abgestuft vorgehen. Auch hier geht es also nicht um die Reaktion auf den Mauerbau, sondern um die Contingency-Planung für die erwartete Verschärfung der Krise.
6) Die Amerikaner hätten dies abgelehnt, weil die Berlin-Krise nur ein geringfügiger Anlass sei.
Das ist völlig verdreht zitiert. Der „geringfügige Anlass“ bezieht sich nicht auf eine angebliche Forderung Steinhoffs nach sofortigem Einsatz von Atomwaffen, sondern auf die Diskussionen innerhalb der Washingtoner Botschaftergruppe um Massive Retaliation und Flexible Response. Die Amerikaner brachten dazu als Argument vor, dass „die Forderung nach der massiven Vergeltung bei einem relativ geringfügigen Anlass [gemeint ist wieder die hypothetische Blockade] einfach irreal“ sei (vgl. hierzu und zum vorherigen Punkt Steinhoff/Pommerin S. 86).
7) Im September hätten die Deutschen den Einsatz von Bodentruppen der NATO vorgeschlagen, darunter von deutschen Panzerdivisionen.
Laut Steinhoff/Pommerin S. 85 kam diese Idee (natürlich wieder im Rahmen der Contingency-Planung!) von den Amerikanern und wurde von Strauß abgelehnt (vgl. dessen Erinnerungen, S. 427 der Taschenbuchausgabe von 1989). Eine weitere Diskussion in diese Richtung wurde im September/Oktober 1961 von Steinhoff negativ bewertet (vgl. Steinhoff/Pommerin S. 87). Ein rein konventioneller Vorstoß habe keine Erfolgsaussichten.
8) Strauß und Oberst Beermann hätten im Dezember 1961 in den USA auf die demonstrative Zündung von Atomwaffen über der Ostsee oder einem Truppenübungsplatz gedrängt.
Laut Steinhoff/Pommerin S. 87 wurde die Idee des Einsatzes einer taktischen Nuklearwaffe „against no target“ über der Ostsee von Friedrich Beermann ausgearbeitet, der damals in Steinhoffs Stab bei der Nato arbeitete. Zweck sei gewesen, der Sowjetunion die Bereitschaft zu zeigen, atomar zuzuschlagen, ohne wirklich etwas zu zerstören, im Prinzip haben wir es also mit einem Beispiel für den „selektiven Einsatz“ von Nuklearwaffen zu tun, wie ihn Steinhoff in seiner Annäherung an die amerikanische Position vorgeschlagen hatte (siehe oben). Die Idee wurde dann an die Botschaftergruppe weitergereicht. Davon, dass auch ein Truppenübungsplatz in Frage käme und Strauß und Beermann die Idee als Forderung im Dezember 1961 in Washington vorgetragen hätten, steht in der Quelle nichts. Allerdings schreibt Strauß in seinen Memoiren, Generalleutnant Foertsch (stellvertretender Planungschef im NATO-Hauptquartier) habe ihm von Planungen der Amerikaner berichtet, nach dem Stocken eines (hypothetischen!) konventionellen Vorstoßes auf Berlin irgendwo auf dem Territorium der DDR eine Atombombe abzuwerfen. Die Deutschen hätten ein mögliches Ziel benennen sollen. Er habe dann einen Truppenübungsplatz vorgeschlagen, der er aus seiner Militärdienstzeit gekannt habe. Inwieweit das alles zusammenhängt und ob Strauß die Wahrheit gesagt hat, wäre sicher ein interessantes Thema für eine Doktorarbeit, aber auf jeden Fall fehlt bei Bald wiederum die Klarstellung, dass es sich um eine Diskussion innerhalb der Contingency-Planung handelte.
9) In Bonn habe die Ansicht vorgeherrscht, ein großer Atomschlag sei zu einem frühen Zeitpunkt notwendig.
Es ist etwas ermüdend, immer wieder dasselbe schreiben zu müssen, aber, natürlich geht es in Wirklichkeit auch hier wieder um die Contingency-Planung. In Hoppe S. 54 wird Ex-Botschafter Grewe mit einer Aussage über das „Dilemma“, in dem sich die Bundesregierung seinerzeit befunden habe, zitiert. Teil dieses Dilemmas sei „ihre damals im Verteidigungsministerium vorherrschende Ansicht, daß […], wenn schon ein großer Atomschlag überhaupt in Frage kommen sollte, dieser zu einem frühen Zeitpunkt notwendig sei“, also wiederum in etwa die unter 3) angesprochene Haltung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Detlef Bald auf den Seiten 58 und 59 seines Buchs Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005 den nicht durch die von ihm angeführten Quellen gedeckten Eindruck erweckt, die westdeutsche Regierung hätte 1961 die USA gedrängt, auf den Mauerbau mit militärischen Mitteln bis hin zum Einsatz von Atomwaffen zu reagieren. Stattdessen belegen ebendiese Quellen lediglich einen Streit bei der Contingency-Planung zwischen den Westdeutschen, die im Ernstfall lieber so schnell wie möglich mit der vollen Nuklearkeule gedroht (oder sie sogar eingesetzt) hätten, und den Amerikanern, die sich von der Strategie her in Richtung Flexible Response bewegten. Dieser Streit spielte sich während der seit 1958 laufenden Berlinkrise ab und verschärfte sich angesichts der Lage im Sommer 1961, aber er drehte sich um hypothetische Szenarien einer Krisenverschärfung, nicht um konkrete militärische Maßnahmen als Reaktion auf den Mauerbau. Sollte Bald weitere Quellen haben, die eine Interpretation des Mauerbaus durch die westdeutsche Regierung als NATO-Bündnisfall und seinen Satz „Die Berlin-Krise hatte nach Westen hin eine Dimension, die vor der Öffentlichkeit verschleiert wurde“ (S. 57 f.) belegen würden, hat er sie nicht genannt.