In poli­ti­scher Hin­sicht ist bes­te Platz für einen Autoren zwei­fel­los der zwi­schen allen Stüh­len. Die Nati­on? Ein abso­lut not­wen­di­ges Übel, aber nie­mand wird mich jemals mit einer Flag­ge wedeln sehen, wenn irgend­wo irgend­wel­che über­be­zahl­ten Sports­ka­no­nen einem Leder­ball hin­ter­her­ren­nen und sich »Natio­nal­mann­schaft« nen­nen. Der Sozi­al­staat? Einer­seits zwin­gend not­wen­dig für den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt, ander­seits – wenn man’s über­treibt – eine Ein­la­dung zum Fau­len­zen. Die freie Markt­wirt­schaft? Funk­tio­niert unter bestimm­ten Umstän­den, unter ande­ren ist sie ein schlech­ter Witz. Der Kom­mu­nis­mus? Vor Gott und dem BGB mögen alle Men­schen gleich sein, in jeder ande­ren Hin­sicht sind sie es nicht. Und so wei­ter und so fort. Kein Stand­punkt darf einem fremd sein, kei­ne mensch­li­che Regung unver­ständ­lich. Wie soll­te man auch eine Geschich­te schrei­ben, ohne sich noch in die übels­ten und schrägs­ten ihrer han­deln­den Figu­ren hin­ein­ver­set­zen zu kön­nen …? Das heißt natür­lich nicht, dass man über­haupt kei­ne Prin­zi­pi­en haben soll, aber wenn man die Welt durch die Bril­le die­ser oder jener Ideo­lo­gie sieht, ver­engt sich das Blick­feld, bis man nur noch das sieht, was man sehen will. Und nichts könn­te lang­wei­li­ger sein als Lite­ra­tur, die sich irgend­ei­nem Ismus ver­schrie­ben hat.

Trotz­dem gibt es wohl manch­mal Zei­ten, in denen man es nicht ver­mei­den kann, in einem poli­ti­schen oder gesell­schaft­li­chen Streit für die eine oder ande­re Sei­te Par­tei zu ergrei­fen, weil er an die Sub­stanz geht. Ich wünsch­te, es wäre nicht so, und ich könn­te guter Din­ge in mei­nem Kräh­win­kel hau­sen, ab und zu eine Geschich­te her­aus­hau­en und ansons­ten den Hund spa­zie­ren füh­ren und mei­nen Kin­dern beim Groß­wer­den zuse­hen. Aber, wie Flau­bert sag­te, ein Meer von Schei­ße schwappt an die Mau­ern mei­nes Elfen­bein­turms und droht, sei­ne Fun­da­men­te zum Ein­sturz zu brin­gen. Um das ver­ständ­lich zu machen, muss ich zunächst ein wohl gehü­te­tes Geheim­nis ver­ra­ten: Autoren – egal wie kunst­be­flis­sen sie tun und wie erha­ben über den Geschmack der brei­ten Mas­se sie sich auch geben mögen – möch­ten gele­sen wer­den. Und zwar von so vie­len Men­schen wie mög­lich. Aus­nahms­los jeder von uns. Wir möch­ten auch, dass unse­re Bücher bespro­chen wer­den; ob nun posi­tiv oder nega­tiv, ist gar nicht so wich­tig, denn man möch­te irgend­et­was bewir­ken (und sei es nur, dem Leser einen ange­neh­men Zeit­ver­treib zu ver­schaf­fen), sonst wür­de man sich nicht mona­te­lang an den Schreib­tisch set­zen und nach dem rich­ti­gen Wort suchen, wenn es ein x‑beliebiges schon irgend­wie auch täte.

Um aber gele­sen oder bespro­chen zu wer­den, gibt es ein paar unab­dingba­re Vor­aus­set­zun­gen. Dazu gehö­ren ein Ver­lag (oder ein erfolg­rei­ches Self-Publi­shing), ein gutes Lek­to­rat, eine wirk­sa­me Ver­mark­tung und das Quänt­chen Glück, zur rich­ti­gen Zeit das rich­ti­ge The­ma gefun­den zu haben. Es gibt aller­dings etwas, auf das man in die­ser Hin­sicht noch viel weni­ger ver­zich­ten kann. Es ist so selbst­ver­ständ­lich, dass man viel­leicht gar nicht dar­auf kommt, aber es ist gera­de die­se Selbst­ver­ständ­lich­keit, die einem ange­sichts der aktu­el­len Ent­wick­lun­gen Angst und Ban­ge macht: Autor und Leser brau­chen eine gemein­sa­me Spra­che. Bumm. Da haben Sie’s. Aber wo ist denn da das Pro­blem, wer­den Sie fra­gen. Und ich wer­de ant­wor­ten: Wo ist es bit­te schön nicht? Die alt­ehr­wür­di­ge hoch­deut­sche Schrift­spra­che, in der ich mei­ne Bücher ver­fas­se, steht von zwei Sei­ten unter Beschuss, und mit bei­den ist nicht zu spa­ßen. Von der einen Flan­ke rei­ßen die Glo­ba­li­sie­rung und die Aus­brei­tung des Eng­li­schen als Stan­dard­spra­che von Wis­sen­schaft, Wirt­schaft und Unter­hal­tungs­in­dus­trie hef­ti­ge Lücken in das gebil­de­te Bür­ger­tum, das über­wie­gend als Lese­pu­bli­kum von Roma­nen in Fra­ge kommt. Web­sites deut­scher inter­na­tio­nal täti­ger Kon­zer­ne wei­sen mitt­ler­wei­le oft­mals nicht mal mehr eine deut­sche Sprach­op­ti­on auf, und die Ein­füh­rung des Eng­li­schen als Lin­gua Fran­ca an der Uni und für die unter­neh­mens­in­ter­ne Kom­mu­ni­ka­ti­on weckt zwar mit­un­ter eher Erin­ne­run­gen an die legen­dä­ren Lüb­ke-Bon­mots (sag ich mal bos­haf­ter­wei­se als Anglist, der sich im Brot­job in der glo­ba­li­sier­ten Wirt­schaft her­um­treibt), beschränkt aber auf jeden Fall die Nut­zung des Hoch­deut­schen immer wei­ter auf Schu­le, Ämter und pri­va­tes Umfeld. Die nach­fol­gen­den Genera­tio­nen sind dann schon poten­zi­el­le Kon­su­men­ten von inter­na­tio­na­ler Lite­ra­tur, die sie gleich im Ori­gi­nal lesen. Eini­ge Kol­le­gen hier in Deutsch­land haben drauf reagiert, indem sie ihren Büchern von vor­ne­her­ein eng­li­sche Titel geben und die Plots in dem ame­ri­ka­ni­schen Vor­stadt- oder Uni­ver­si­tätsmilieu ansie­deln, das mitt­ler­wei­le sowie­so jeder bes­ser zu ken­nen meint als die eige­ne Nach­bar­schaft. »Die Ame­ri­ka­ner haben unser Unter­be­wusst­sein kolo­nia­li­siert!« rief Hanns Zisch­ler vor über vier­zig Jah­ren in Wim Wen­ders betö­rend schö­nem, aber längst ver­ges­se­nem Film Im Lauf der Zeit. Mitt­ler­wei­le sind sie da deut­lich wei­ter vorangekommen.

Um die zwei­te Angriffs­li­nie zu ver­ste­hen, von der aus die Spra­che bedroht wird, die ich mit mei­nen Lesern bis­her geteilt habe, muss ich Sie auf einen klei­nen Umweg mit­neh­men. Wir leben hier in einem reno­vier­ten Bau­ern­haus, in dem mei­ne Fami­lie seit unge­fähr Mit­te des 18. Jahr­hun­derts ansäs­sig ist. Da es sich nur um eine klei­ne Land­wirt­schaft han­del­te, muss­ten mei­ne Vor­fah­ren sich noch ander­wei­tig ver­din­gen; ein paar Genera­tio­nen lang betrie­ben sie eine Wagen­ma­che­rei, mein Urgroß­va­ter wech­sel­te das Metier und war Ver­wal­ter auf einem in der Nähe lie­gen­den Guts­hof, mein Groß­va­ter und Vater arbei­te­ten beim Was­ser­bau. Eine sol­che Stel­le nann­te man in Nord­west­deutsch­land frü­her »Brink­sitz«, und jeder Brink­sit­zer hat­te in der bis ins 19. Jahr­hun­dert in der Tal­aue der Weser herr­schen­den Zwei­felder­wirt­schaft das Recht, zwei oder drei Kühe auf dem jeweils brach­lie­gen­den Teil des Dorf­ackers in der Marsch wei­den zu las­sen. Als die­se kol­lek­tiv orga­ni­sier­te Bewirt­schaf­tung so um 1830 her­um auf­ge­ge­ben wur­de, erhiel­ten die Klein­bau­ern und Hand­wer­ker zum Aus­gleich einen Teil des Dorf­an­gers, den sie von nun an als Pri­vat­wei­de nut­zen konn­ten. Das war ein ziem­lich schlech­ter Deal, jeden­falls kriegt man auf der Wei­de, die nun uns gehör­te, nicht mal eine ein­zi­ge Kuh satt …! Mei­ne Vor­fah­ren erga­ben sich ins Unver­meid­li­che und ver­leg­ten sich – wie die meis­ten ande­ren Brink­sit­zer auch – auf die neben­her aus­ge­üb­te Schwei­ne­zucht. Als ich klein war, bestand einer mei­ner ers­ten Jobs dar­in, unser Bors­ten­vieh mor­gens die Loh­mannspe­cken her­un­ter auf die betref­fen­de Wei­de zu trei­ben und sie abends wie­der in den Stall zu holen. Klingt urig, oder? War es auch.

In jedem Fall gab es 1830 noch kei­nen Sta­chel­draht, all­zu vie­le Bäu­me zum Gat­ter­bau­en fin­det man in unse­rer Gegend auch nicht, also muss­te zum Ein­pfer­chen der Tie­re eine Hecke gepflanzt wer­den, deren Über­res­te sich noch heu­te die Loh­mannspe­cken (schon gut, schon gut, so heißt die Stra­ße) ent­lang zie­hen. Hier sind sie:

Hecke

Schau­en wir uns eines der Gehöl­ze näher an, aus denen die Hecke besteht:



Was wür­den Sie sagen, ist das ein »Baum«, oder ist es ein »Strauch«? Oder ein »Busch«? Ein »Hecken­ge­hölz«? Maxi­mal drei Meter hoch, kein Stamm, wild durch­ein­an­der wuchern­de Zwei­ge – für mei­nen Geschmack ein klas­si­scher Busch. Ein »Baum« ist es jeden­falls nicht. Im Gegen­satz dazu ist das gro­ße Ding hier ja wohl auf jeden Fall einer:



Alles dar­an ist gera­de­zu mus­ter­gül­tig baum­ar­tig: die Höhe (bestimmt 15 Meter), der dicke Stamm in der Mit­te (sieht man auf dem Bild nicht so gut), die eben­so dicken, in die Brei­te und nach oben stre­ben­den Äste. Sehen wir uns die Blät­ter etwas näher an:



Die klei­nen grü­nen Früch­te wer­den im Lau­fe des Som­mers rot und wer­den dann von Vögeln aller Art ger­ne als Nah­rung genom­men. Mar­me­la­de kann man auch dar­aus machen. Bei­des gilt übri­gens auch für den Busch, den wir am Anfang des klei­nen Aus­flugs gese­hen haben. Gehen wir noch­mal zurück:



Hm … Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch auf­fällt, aber das sieht ziem­lich gleich aus, oder? Na gut, ich gebe es ohne Umschwei­fe zu, ich woll­te Sie hin­ters Licht füh­ren. Es han­delt sich tat­säch­lich um die­sel­be Pflan­zen­art, näm­lich einen ein­grif­fe­li­gen Weiß­dorn, Cra­ta­e­gus mono­gyna, auch »Hage­dorn« genannt, weil man ihn frü­her häu­fig zum Anle­gen von Hecken ver­wen­de­te. Das Rie­sen­ex­em­plar auf dem zwei­ten Bild hat sich von selbst ange­sie­delt, und da mein Vater die Land­wirt­schaft Mit­te der 1970er ganz auf­gab, wur­de die Wei­de nicht mehr benö­tigt, und er ach­te­te nicht mehr so stark dar­auf, die Rän­der frei von Wild­ge­hölz zu halten.

Aber, so könn­te man fra­gen, was ist denn nun ein Weiß­dorn eigent­lich, ein »Baum« oder ein »Busch«? Die Ant­wort lau­tet natür­lich, dass es der Pflan­ze voll­kom­men egal ist, wie wir sie nen­nen, sie wächst halt in Ein­zel­la­ge in die Höhe wie ein Baum, wäh­rend sie im engen Ver­band mit ande­ren Pflan­zen eher wie ein Busch aus­sieht. Und die wei­ter­ge­hen­de Ant­wort lau­tet – und damit betre­ten wir das wei­te Feld der Sprach­phi­lo­so­phie –, das nichts irgend­et­was »ist«. Sie haben rich­tig gele­sen: nic, nada, nien­te. Die Kate­go­rien, in die wir die Welt ein­tei­len und mit »Wör­tern« genann­ten Laut­fol­gen asso­zi­ie­ren, ent­ste­hen aus­schließ­lich in unse­rem Kopf, und sie haben den aus­schließ­li­chen Zweck, uns die sinn­vol­le Kom­mu­ni­ka­ti­on mit unse­ren Mit­men­schen über eben die­se Welt (der die Lin­gu­is­tik die schö­ne Bezeich­nung »außer­sprach­li­che Rea­li­tät« gege­ben hat) zu ermög­li­chen. Je nach Kon­text kann das­sel­be Gewächs mit einem ande­ren Namen belegt wer­den: Wenn ich mei­nem Sohn sagen will, wel­che Bäu­me gefällt wer­den sol­len, weil wir für den nächs­ten Win­ter Brenn­holz brau­chen, wer­de ich den Weiß­dorn auf dem zwei­ten Bild als »Baum« bezeich­nen. Wenn es um den Vogel­schutz geht, wer­de ich ihm erklä­ren, dass wir den »Busch« auf dem ers­ten Bild des­halb nicht weg­ma­chen, weil er Platz für Nes­ter und Nah­rung im Win­ter bie­tet. Und wenn ich Mar­me­la­de machen will, ist bei­des ein »Weiß­dorn«, denn dann kommt es nicht auf die Form an, son­dern auf die Art der Früch­te. Der Phi­lo­soph Lud­wig Witt­gen­stein hat das sehr viel prä­gnan­ter als ich ausgedrückt:

Die Bedeu­tung eines Wor­tes ist sein Gebrauch in der Sprache.

Über die­sen Satz könn­te man gan­ze Biblio­the­ken voll­schrei­ben, belas­sen wir es an die­ser Stel­le dabei, dass Wör­ter nicht die Wider­spie­ge­lun­gen irgend­wel­cher natur­ge­ge­ben­erund unver­än­der­li­cher Wesen­hei­ten sind, die sozu­sa­gen hin­ter den Din­gen exis­tie­ren und die Grund­la­ge der Welt bil­den, also in etwa von dem, was Pla­ton als »Idee« bezeich­ne­te und für die eigent­li­che Wirk­lich­keit hielt. Es gibt kei­nen »Baum an sich« und kei­nen »Busch an sich«, son­dern statt­des­sen nur eine ver­wir­ren­de Viel­falt von Sin­nes­ein­drü­cken, die wir mit unse­rer Spra­che so gut es irgend geht in halb­wegs sinn­vol­le Kate­go­rien zu ord­nen ver­su­chen. Wör­ter sind immer nur vor­läu­fi­ge Hypo­the­sen über die Welt, die ihre Taug­lich­keit stets von neu­em in der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit ande­ren bewei­sen müssen.

Die­ser Taug­lich­keits­test ist aller­dings von ent­schei­den­der Bedeu­tung: Man kann den Weiß­dorn als »Baum« oder als »Busch« bezeich­nen, aber nicht als »Rose« oder gar als »Kaf­fee­tas­se«, denn dann ist die Kom­mu­ni­ka­ti­on nicht mehr sinn­voll. Als ich noch zum Ziel­pu­bli­kum des west­deut­schen Kin­der­fern­se­hens gehör­te, wur­de dort manch­mal Peter Bich­sels höchst lehr­rei­che Geschich­te Ein Tisch ist ein Tisch erzählt. Sie han­delt von einem alten Mann, der die Gewöhn­lich­keit und Lan­ge­wei­le des All­tags nicht erträgt und eines Tages spon­tan auf die Idee kommt, dadurch eine Abwechs­lung her­bei­zu­füh­ren, dass er sein Bett von nun an »Bild« nennt. Die Sache gefällt ihm, und er bezeich­net als Nächs­tes sei­nen Tisch als »Tep­pich«, sei­nen Spie­gel als »Stuhl«, sein Bild als »Tisch« usw., bis er schließ­lich alle Wör­ter aus­ge­tauscht und eine völ­lig neue Spra­che erfun­den hat, »die ihm ganz allein gehört«. Genau das ist natür­lich das Pro­blem, denn jetzt ver­steht ihn nie­mand mehr, sodass er schließ­lich als ein­sa­mer Son­der­ling endet, der nur noch Selbst­ge­sprä­che führt.

Das ist eine schö­ne Illus­tra­ti­on des­sen, was Witt­gen­stein »Pri­vat­spra­che« nann­te: eine Spra­che, deren Bedeu­tung nur eine ein­zi­ge Per­son kennt. Außer­dem zeigt sich dar­an eine der fas­zi­nie­rends­ten Eigen­schaf­ten von Spra­che über­haupt, näm­lich die erstaun­li­che Tat­sa­che, dass sie sich auch ohne jede Steue­rung von außen mehr oder weni­ger von selbst regu­liert. Wenn man mit ande­ren Men­schen kom­mu­ni­zie­ren will, muss man spre­chen, wie man es in der Kind­heit oder im Sprach­kurs gelernt hat, sonst wird man eben nicht ver­stan­den. Man­che Län­der haben eine offi­zi­el­le Insti­tu­ti­on, die für die Her­aus­ga­be eines Wör­ter­buchs der Natio­nal­spra­che zustän­dig ist und auf deren »Rein­heit« ach­tet, etwa die Aca­dé­mie fran­cai­se oder die Real Aca­de­mia Espa­ño­la. Im Grun­de funk­tio­niert es aber, wie man an Deutsch­land oder den angel­säch­si­schen Län­dern sieht, genau­so gut auch ohne: Man befolgt bestimm­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­re­geln nicht des­halb, weil irgend­ei­ne zen­tra­le Instanz dies for­dern wür­de, son­dern weil man mit sei­nen Sprach­äu­ße­run­gen irgend­et­was errei­chen und ver­stan­den wer­den will.

In einer halb­wegs frei­en Gesell­schaft, in der Spra­che nicht von oben dik­tiert wird, ist es des­halb sehr schwer, die Bedeu­tung eines Wor­tes ändern zu wol­len, weil man dabei jedes Mal gegen den gesam­ten Rest der Sprach­ge­mein­schaft ankämp­fen muss. Die Schwu­len­be­we­gung hat meh­re­re Jahr­zehn­te gebraucht, bis aus der Belei­di­gung »schwul« die stol­ze Selbst­be­zeich­nung des Ber­li­ner Bür­ger­meis­ters Klaus Wowe­reit wur­de, und auch da ging es nur um Ton­fall des Wor­tes, nicht um des­sen Grund­be­deu­tung, die wei­ter­hin »sich als Mann von Män­nern sexu­ell ange­zo­gen füh­lend« lau­tet. Etwas leich­ter haben es Dik­ta­tu­ren, die den von ihnen Beherrsch­ten befeh­len kön­nen, sich von heu­te auf mor­gen mit »Heil Hit­ler« zu begrü­ßen oder die Men­schen jen­seits der West­gren­ze als »Klas­sen­feind« zu bezeich­nen. Aber auch das ver­schwin­det wie­der, sobald das jewei­li­ge Regime im Orkus der Geschich­te ver­schwun­den ist. Der Behar­rungs­wil­le von Spra­che ist stark.

*

Ihnen ist in letz­ter Zeit viel­leicht auf­ge­fal­len, und damit wären wir wie­der beim The­ma die­ses Blog­posts, dass mei­ne kur­zen Aus­füh­run­gen zu Spra­che und Wirk­lich­keit nicht von sämt­li­chen zeit­ge­nös­si­schen Sozi­al- und Geis­tes­wis­sen­schaft­lern geteilt wer­den, und dar­an ist der erwähn­te Witt­gen­stein nicht ganz unschul­dig. In sei­nem Trac­ta­tus logi­co-phi­lo­so­phi­cus hat­te er noch ein Prin­zip for­mu­liert, das unmit­tel­bar ein­leuch­tet und als »Abbild­theo­rie der Spra­che« bezeich­net wird:

Der Satz ist ein Bild der Wirk­lich­keit. Der Satz ist ein Modell der Wirk­lich­keit, so wie wir sie uns denken.

In den spä­ter erschie­ne­nen Phi­lo­so­phi­schen Unter­su­chun­gen führ­te er hin­ge­gen den nicht ganz unge­fähr­li­chen Begriff »Sprach­spiel« ein, unter dem er eine sprach­li­che Äuße­rung in ihrer Ein­bet­tung in eine bestimm­te Situa­ti­on und Ver­wen­dungs­ab­sicht ver­stand. Das steht nicht not­wen­di­ger­wei­se im Gegen­satz zur besag­ten Abbild­theo­rie, und der Begriff an sich kann sinn­voll und nütz­lich sein, aber die von dem Wort »Spiel« her­vor­ge­ru­fe­nen Asso­zia­tio­nen (und ande­re Fak­to­ren) haben sich lei­der für Witt­gen­steins Nach­fol­ger als Ein­la­dung erwie­sen, groß­räu­mig die Boden­haf­tung zu ver­lie­ren und Spra­che als Phä­no­men zu inter­pre­tie­ren, das haupt­säch­lich sei­nen eige­nen Regeln gehorcht und nicht etwa der Kom­mu­ni­ka­ti­on über die Rea­li­tät dient, son­dern schlimms­ten­falls als »Dis­kurs«, »Macht­spiel« oder »Wis­sens­spiel« die Auf­recht­erhal­tung von Macht­ver­hält­nis­sen zwi­schen Men­schen gewährleistet.

Damit haben wir uns in die Untie­fen der post­mo­der­nen Phi­lo­so­phie bege­ben, die ich an die­ser Stel­le kei­nes­falls im grö­ße­ren Aus­maß dis­ku­tie­ren wer­de. Das ist auch gar nicht nötig, denn der ent­schei­den­de Punkt dar­an ist, dass man im Grun­de das ers­te Witt­gen­stein­zi­tat oben nimmt und dar­aus fol­gert, dass unser Zugang zur Wirk­lich­keit durch Spra­che über­haupt erst »kon­stru­iert« wird (was ja an sich nicht falsch ist), dabei aber über­sieht, dass die­se Kon­struk­ti­on natür­lich nicht belie­big sein kann, son­dern in einem mög­lichst hohen Grad mit einer unab­hän­gig vom Spre­chen­den tat­säch­lich vor­han­de­nen Wirk­lich­keit kor­re­lie­ren muss, um eine sinn­vol­le Kom­mu­ni­ka­ti­on über die­se Wirk­lich­keit und ein sinn­vol­les Han­deln dar­in zu ermög­li­chen. Statt­des­sen ver­ab­so­lu­tiert man die Rol­le der Spra­che der­art, dass die Wirk­lich­keit, wie wir sie erle­ben, selbst ein sprach­li­ches Kon­strukt sei und daher dem sou­ve­rä­nen Wil­len des Men­schen unter­lie­ge, und von die­sem Punkt aus ver­schwin­den dann Den­ker wie Michel Fou­cault oder Judith But­ler in ein Par­al­lel­uni­ver­sum, in dem es kei­ne objek­ti­ve wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis mehr gibt, weil alles Wis­sen nur ein Macht­spiel ist, und ein Mensch sich aus­su­chen kann, wel­ches Geschlecht er besitzt, indem er den Dis­kur­sen der Herr­schen­den, die ihn in binä­re Kate­go­rien zwän­gen wol­len, sei­ne inne­re auto­no­me Wahr­heit ent­ge­gen­setzt. Kurz gesagt: eine Welt, deren Bewoh­ner mit kaum etwas ande­rem beschäf­tigt sind, als dar­um zu kämp­fen, wer von ihnen die Rea­li­tät defi­nie­ren kann.

Wie Sie sich den­ken kön­nen, hat die post­mo­der­ne Denk­wei­se auf jeman­den, des­sen ers­ter Job im Schwei­ne­hü­ten in der elter­li­chen Land­wirt­schaft bestand, kei­nen beson­ders gro­ßen Ein­druck gemacht. Ich habe das auch lan­ge igno­riert und dar­auf ver­traut, dass der gesun­de Men­schen­ver­stand sich am Ende schon irgend­wie wie­der durch­set­zen wird. Wie die Ent­wick­lung der letz­ten Jah­re zeigt, hät­te ich mich wohl nicht gründ­li­cher täu­schen kön­nen. Sehen wir uns unter die­sem Aspekt ein paar der sprach­li­chen Phä­no­me­ne an, die in letz­ter Zeit aus besag­tem Par­al­lel­uni­ver­sum in unse­re Welt her­über­ge­schwappt sind!

Schwarzfahrer

Sie haben es sicher gehört, in Mün­chen und Ber­lin haben die Ver­kehrs­be­trie­be die­sen Begriff aus ihrem offi­zi­el­len Wort­schatz gestri­chen, da er mög­li­cher­wei­se Men­schen mit dunk­ler Haut­far­be belei­di­gen könn­te. Ich muss zuge­ben, dass mich der Vor­gang zunächst ein wenig ver­blüfft hat. Als ich so Anfang zwan­zig war und in der Isar­me­tro­po­le stu­dier­te, war das Fah­ren ohne Fahr­schein – jeden­falls in bestimm­ten Stu­den­ten­krei­sen – kei­nes­falls nega­tiv besetzt, son­dern der ers­te Schritt auf dem Weg in eine gerech­te Welt, in der die Benut­zung öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel selbst­ver­ständ­lich kos­ten­frei zu sein hat­te. Und Geld spar­te man ja auch. Ich erin­ne­re mich noch weh­mü­tig der span­nen­den Ver­fol­gungs­jag­den, die ich mir mit den MVV-Kon­trol­leu­ren lie­fer­te, ein­mal muss­te ich sämt­li­che Trep­pen des U‑Bahnhofs am Send­lin­ger Tor hoch­ra­sen, bis ich sie abge­schüt­telt hat­te … Heu­te zah­le ich natür­lich jeden Fahrschein!

Aber zurück zur Lin­gu­is­tik: In den Medi­en wur­de viel Wir­bel dar­um gemacht, dass sich »Schwarz­fah­rer« von einem angeb­li­chen jid­di­schen Wort für »arm« her­lei­te, aber das ist wahr­schein­lich falsch und außer­dem uner­heb­lich, da ja nie­mand beim Spre­chen eine Wort­her­kunft mit­denkt. Viel wich­ti­ger ist in die­sem Zusam­men­hang eine grund­le­gen­de Eigen­schaft von Spra­che, näm­lich dass sie mit Meta­phern arbei­tet. Man nimmt irgend­ein Wort oder eine Wen­dung, über­trägt die Bedeu­tung auf einen ande­ren Kon­text, und wenn sich die über­tra­ge­ne Ver­wen­dung ein­ge­bür­gert hat, ver­gisst man (immer an Witt­gen­stein den­ken) in die­sem Kon­text die ursprüng­li­che Bedeu­tung und hat sozu­sa­gen ein neu­es Sprach­spiel erschaf­fen. Manch­mal ist die neue Bedeu­tung posi­tiv, manch­mal ist sie nega­tiv, so auch bei der Meta­phern­bil­dung auf der Grund­la­ge von Far­ben: Grün ist des Lebens gol­de­ner Baum, aber manch­mal ist man auch grün vor Neid; man fährt ins Blaue, lügt aber auch die­sel­be Far­be vom Him­mel her­ab; mit Rot wird für gewöhn­lich die Lie­be asso­zi­iert, aber Zor­nes­rö­te steht nie­man­dem gut. Sogar Schwarz als Abwe­sen­heit aller Far­ben ist nicht aus­schließ­lich nega­tiv besetzt, schließ­lich kann man ins Schwar­ze tref­fen oder schwar­ze Zah­len schrei­ben. Ent­schei­dend dabei ist, das das »Schwarz« etwa in »Schwarz­ar­beit« und das gleich lau­ten­de Wort im »klei­nen Schwar­zen« nichts mit­ein­an­der zu tun haben außer dem (neu­tra­len) Farb­ein­druck, der irgend­wann am Beginn der Meta­phern­bil­dung stand. Jedes Sprach­spiel steht für sich und gehört in sei­nen jeweils eige­nen Kon­text. Im Gegen­satz dazu wei­sen die zustän­di­gen Leu­te bei den Ver­kehrs­be­trie­ben der Laut­fol­ge [ʃvaʁʦ] eine gera­de­zu magi­sche Bedeu­tung zu, die dem­zu­fol­ge auto­ma­tisch zu abwer­ten­den Gedan­ken über Men­schen mit dunk­ler Haut­far­be füh­ren wür­de, und sie unter­stel­len uns, dass wir grund­sätz­lich nicht zwi­schen den jewei­li­gen Bedeu­tun­gen der ver­schie­de­nen Sprach­spie­le unter­schei­den könnten.

Das gilt übri­gens auch ganz grund­sätz­lich für die Bezeich­nung »Schwar­ze«, die ja tat­säch­lich man­che Leu­te im Kon­text der übels­ten Schmä­hun­gen ver­wen­den, aber genau­so gut kann man dabei an die Schön­heit Nao­mi Camp­bells den­ken oder die Ele­ganz der schwar­zen Bas­ket­bal­ler, die wir als Har­lem Glo­be­trot­ters ken­nen. Wie kommt man also zu die­ser selt­sa­men Asso­zia­ti­on von »Schwarz­fah­rer« mit Ras­sis­mus? Ich glau­be, dar­an ist Pepe Dan­quarts gleich­na­mi­ger Kurz­film schuld, der 1994 mit dem Oscar für den bes­ten Kurz­film aus­ge­zeich­net wur­de und dadurch eine grö­ße­re, für die­ses Gen­re unüb­li­che Medi­en­prä­senz erhielt. Die Hand­lung ist eine Art ver­film­tes Wort­spiel: Ein jun­ger Dun­kel­häu­ti­ger wird in der Ber­li­ner Stra­ßen­bahn von einer älte­ren Frau mit ras­sis­ti­schen Belei­di­gun­gen über­häuft, wehrt sich dage­gen auf wit­zi­ge Wei­se und macht die Alte dadurch zur Schwarz­fah­re­rin, die dann vom Kon­trol­leur erwischt wird, wäh­rend im Hin­ter­grund ein ech­ter Nicht­zah­ler ent­wischt. Es war sicher nicht die Absicht des Regis­seurs, aber irgend­wie muss sich dadurch die Ver­bin­dung zwi­schen dem Fah­ren ohne Fahr­schein und bösen alten Vet­teln, die kei­ne Afri­ka­ner mögen, in die Köp­fe des Publi­kums ein­ge­schli­chen haben, sodass es heu­te eini­gen davon als irgend­wie gebo­ten erscheint, nicht mehr »Schwarz­fah­rer« zu sagen. Jede ande­re Erklä­rung wäre jeden­falls absur­des Theater.

Das Verschwinden des generischen Maskulinums

Ein har­ter Bro­cken, ich gebe es zu. Die Ver­dam­mung der gram­ma­tisch männ­li­chen Wort­form in bio­lo­gisch geschlechts­neu­tra­ler Ver­wen­dung hat sich mitt­ler­wei­le von den Uni­ver­si­tä­ten über die öffent­li­che Ver­wal­tung bis hin zu den Redak­tio­nen der öffent­lich-recht­li­chen Sen­der der­art breit­ge­macht, dass man man kaum noch dar­auf hof­fen kann, den Schla­mas­sel wie­der rück­gän­gig zu machen. Hier ist trotz­dem ein Versuch:

Haben Sie sich eigent­lich jemals gefragt, war­um es drei gram­ma­ti­sche Geschlech­ter gibt …? In der his­to­ri­schen Abtei­lung der Sprach­wis­sen­schaf­ten gibt man dar­auf die Ant­wort, dass die Sub­stan­ti­ve in der indo­ger­ma­ni­schen Urspra­che ursprüng­lich in die Kate­go­rien »belebt« und »unbe­lebt« auf­ge­teilt waren (falls Sie mal eine sla­wi­sche Spra­che ler­nen soll­ten – dort spielt das für bestimm­te Kon­ju­ga­ti­ons­klas­sen immer noch eine Rol­le), spä­ter hat man dann offen­sicht­lich das Bedürf­nis ver­spürt, unter den »beleb­ten« Wör­tern noch eine wei­te­re Kate­go­rie ein­zu­füh­ren, mit der spe­zi­ell weib­li­che Wesen bezeich­net wur­den. Dass wir die­se Ein­tei­lung »Geschlecht« nen­nen, haben wir einer etwas ein­engen­den Lehn­über­set­zung des ent­spre­chen­den latei­ni­schen Begrif­fes genus zu ver­dan­ken, der neben dem bio­lo­gi­schen Geschlecht auch so etwas wie »Her­kunft«, »Stand«, »Gat­tung«, »Art« oder der­glei­chen bezeichnet.

Im Lau­fe der Zeit wur­den dann neue Wör­ter erfun­den oder aus ande­ren Spra­chen über­nom­men, die aus heu­te nicht mehr trans­pa­ren­ten Grün­den der einen oder ande­ren Wort­ka­te­go­rie zuge­schla­gen wur­den, sodass wir irgend­wie zu dem jet­zi­gen Sys­tem gekom­men sind, das ja ein ziem­li­ches Kud­del­mud­del ist und eine nur sehr vage Über­ein­stim­mung des gram­ma­ti­schen mit dem bio­lo­gi­schen Geschlecht erken­nen lässt. Aber auch das ist eine grund­le­gen­de Eigen­schaft von Spra­che – nie­mand hat sich hin­ge­setzt und die best­mög­li­che Kate­go­ri­sie­rung aus­ge­ar­bei­tet, mit deren Hil­fe man die Wirk­lich­keit beschrei­ben kann, es hat sich alles ein­fach irgend­wie erge­ben. In mei­ner Stu­di­en­zeit war dafür das Mode­wort »Fuz­zy­ness« im Schwan­ge, das man der Com­pu­ter­spra­che ent­nom­men hat­te, und das Schö­ne dar­an ist, dass es voll­kom­men egal ist. Obwohl Spra­che so ein unvoll­kom­me­nes Sys­tem ist, wis­sen wir trotz­dem in der Regel immer, was gemeint ist. Um den Grund dafür zu ver­ste­hen, lohnt es sich, an die­ser Stel­le noch­mal Witt­gen­stein zu wie­der­ho­len (es ist wirk­lich ein sehr wich­ti­ger Satz):

Die Bedeu­tung eines Wor­tes ist sein Gebrauch in der Sprache.

In Bezug auf das gene­ri­sche Mas­ku­li­num heißt das: Wenn die Regel eines Sprach­spiels lau­tet, dass man in einem bestimm­ten Kon­text die gram­ma­tisch mas­ku­li­ne Form eines Sub­stan­tivs ver­wen­det, um die­ses als abs­trak­te Funk­ti­on dar­zu­stel­len, und die ande­ren Ange­hö­ri­gen der Sprach­ge­mein­schaft das auch so ver­ste­hen, dann ist das – und nichts wei­ter – sei­ne Bedeu­tung. Oben erwähn­te ich ja schon, dass man die Wort­her­kunft beim Spre­chen nicht mit­denkt; für die gram­ma­ti­sche Kate­go­rie gilt dies ganz genau­so. Nie­mand stellt sich einen kon­kre­ten Arzt vor (wel­chen Geschlechts auch immer), wenn er sagt »Ich habe Schmer­zen, ich muss mal zum Arzt«.

Das war natür­lich nicht immer so. Ganz frü­her übten Män­ner und Frau­en in der Regel unter­schied­li­che Funk­tio­nen und Beru­fe aus, sodass in jedem Fall klar war, das mit »Arzt«, »Bür­ger­meis­ter« oder »Stu­dent« ein Mann gemeint war. Aller­dings konn­te damals schon jeder die­ser Begrif­fe sowohl auf kon­kre­te Per­so­nen als auch auf die von die­sen aus­ge­üb­te abs­trak­te Funk­ti­on bezo­gen wer­den, also zum Bei­spiel »Der Arzt betrat das Zim­mer und besah sich die Kran­ke« im Gegen­satz zu dem obi­gen Bei­spiel. Im 19. Jahr­hun­dert begann sich die Geschlech­ter­ord­nung der Beru­fe lang­sam auf­zu­lö­sen und ist heu­te ganz ver­schwun­den, sodass sich offen­sicht­lich die Sprach­spie­le eta­blier­ten, a) eine weib­li­che Vari­an­te der Bezeich­nung ein­zu­füh­ren und sie auf kon­kre­te Per­so­nen anzu­wen­den (»Die Ärz­tin betrat das Zim­mer«) und b) die männ­li­che Form wei­ter für die abs­trak­te Funk­ti­on zu ver­wen­den. Der Vor­wurf der femi­nis­ti­schen Lin­gu­is­tik lau­tet ja, dass durch Letz­te­res die Anwe­sen­heit von Frau­en im jewei­li­gen Berufs­feld ver­dun­kelt wird und man die jewei­li­ge Tätig­keit zwangs­wei­se wei­ter mit Män­nern asso­zi­iert. Abge­se­hen davon, dass dies offen­bar kei­ne Frau davon abhält, Medi­zin zu stu­die­ren (aktu­ell sind, glau­be ich, zwei Drit­tel aller Medi­zin­stu­den­ten weib­lich) und wie schon beim »Schwarz­fah­rer« unter­stellt, man kön­ne nicht zwi­schen den Bedeu­tun­gen der jewei­li­gen Sprach­spie­le unter­schei­den, ist eigent­lich eher das Gegen­teil rich­tig. Glau­ben Sie nicht? Sehen wir uns ein paar Bei­spie­le an, die lan­ge vor den aktu­el­len Sprach­de­bat­ten ver­öf­fent­licht wurden.

Die­ses ist von 1935:

Dies hier wur­de drei Jah­re spä­ter geschrieben:



Die­ses hier 1969:



Wie Ihnen sicher auf­fällt, sahen sich die jewei­li­gen Autoren genö­tigt, in einem Kon­text, in dem »Arzt« auch in der Bedeu­tung der abs­trak­ten Funk­ti­on vor­kommt, in den Fäl­len, wo statt­des­sen kon­kre­te Ärz­te mit Y‑Chromosom gemeint waren, das Adjek­tiv »männ­lich« hin­zu­zu­set­zen, um den gemein­ten Sach­ver­halt zu ver­deut­li­chen. Das ist nicht immer so, denn ohne die­sen Kon­text kann »Arzt« auch durch­aus nur den männ­li­chen Medi­zi­ner bezeich­nen, aber in jedem Fall ist die gram­ma­tisch femi­ni­ne Form ein­deu­tig bio­lo­gisch geschlecht­lich deter­mi­niert, wäh­rend die gram­ma­tisch mas­ku­li­ne Form dies nicht mehr ist und gege­be­nen­falls durch ein Adjek­tiv näher bestimmt wer­den muss. Und zwar eben des­halb, weil die Autoren davon aus­ge­hen muss­ten, dass das Sprach­spiel »gene­ri­sches Mas­ku­li­num« von den Lesern kor­rekt als »bio­lo­gisch geschlechts­los« ver­stan­den wird.

Was pas­siert statt­des­sen, wenn wir statt­des­sen das Sprach­spiel »gegen­der­te Form« anwen­den? Sehen wir uns fol­gen­den klei­nen Dia­log aus einem noch nicht geschrie­be­nen Dreh­buch an:

SIE: Was ist denn passiert?
ER: Ach, nix Schlimmes. Die Kolleg*innen haben mir geholfen und mich in ein Taxi nach Hause gesetzt.
SIE (sieht sich die Bescherung an): Ja bist du denn wahnsinnig? Warum warst du denn nicht längst bei der Ärztin oder beim Arzt deswegen?
ER (kleinlaut): Das hatte ich doch schon als Student.
SIE: Und Student*innen sind ja bekannt dafür, dass sie sich wie Weltmeister*innen um ihre Gesundheit kümmern, nicht wahr?
ER: Ich mach gleich morgen einen Termin. Versprochen!
SIE: Mach dir lieber mal Gedanken, warum Männer so ein seltsames Verhältnis dazu haben, zur Ärztin oder zum Arzt zu gehen!

Das Dreh­buch wird natür­lich unge­schrie­ben blei­ben, aber das Ergeb­nis ist trotz­dem klar: Die abs­trak­te Funk­ti­on (»Kol­le­ge«, »Arzt«, »Stu­dent«, »Welt­meis­ter«) wird gar nicht mehr wahr­ge­nom­men, weil sich die Geschlechts­en­dun­gen in den Vor­der­grund drän­geln und den Leser andau­ernd dar­an erin­nern, dass es sowohl männ­li­che als auch weib­li­che Ange­hö­ri­ge der jewei­li­gen Grup­pe gibt – was für das Ver­ständ­nis des Gemein­ten voll­kom­men uner­heb­lich ist. Mit ande­ren Wor­ten: Das Sprach­spiel wird zer­stört. Es funk­tio­niert nicht mehr. Man kann die­ser Zer­stö­rung jetzt jeden Tag beim Anhö­ren der ver­schie­de­nen Deutsch­land­ra­dio-Pro­gram­me bei­woh­nen, wenn man will, und eigent­lich soll­ten sie sich dort nicht wun­dern, wenn man es dann eben nicht mehr will. Und sich durch­aus fragt, war­um man die­se Zer­stö­rung auch noch bezah­len soll.

Das mit den Männern und den Frauen

Ich mache es mir nicht leicht hier, also muss ich auch über die­ses The­ma spre­chen. Zunächst ein paar Wor­te über die in die­sem Fall rele­van­te »außer­sprach­li­che Rea­li­tät«: Vor eini­ger Zeit hat­te ich Gele­gen­heit, mich ein biss­chen inten­si­ver mit der Kul­tur der Dako­ta- und Lako­ta-Sioux zu beschäf­ti­gen, nach­dem ich her­aus­ge­fun­den hat­te, dass eini­ge mei­ner Urgroß­tan­ten sich in den 1890ern in deren vor­he­ri­gen Jagd­grün­den in Min­ne­so­ta und South Dako­ta ange­sie­delt haben. Dabei war es inter­es­sant fest­zu­stel­len, wie sehr das Bezie­hungs­le­ben in die­ser auf den ers­ten Blick so frem­den Kul­tur dem unse­ren ähnel­te: Die Teil­stäm­me bestan­den aus Grup­pen von Klein­fa­mi­li­en, deren zeit­li­che Sta­bi­li­tät in etwa dem ent­sprach, was man heu­te »seri­el­le Mono­ga­mie« nen­nen wür­de, aber es gab auch lebens­lan­ge Part­ner­schaf­ten, und die bes­ten Jäger, Kriegs­an­füh­rer oder Scha­ma­nen hat­ten schon mal mehr als eine Frau.

Unter die­sen Neben­frau­en gab es gele­gent­lich sol­che, die zwar Frau­en­klei­dung tru­gen und typi­sche Frau­en­ar­bei­ten wie Schnei­dern und Kochen aus­üb­ten, sich auch wie eine Frau gaben, aber als Män­ner gebo­ren waren. Die Pelz­händ­ler, die als ers­te Euro­pä­er in die Gegend kamen, bezeich­ne­ten sie mit dem fran­zö­si­schen Wort ber­da­che, in der Sioux-Spra­che hie­ßen sie Wink­te (Lako­ta) oder Wink­ta (Dako­ta), was dem Ver­neh­men nach so viel wie »will eine Frau sein« bedeu­tet. Die Berich­te dar­über sind nicht immer ein­deu­tig: Manch­mal liest man, dass die betref­fen­den Per­so­nen aus ihrer Her­kunfts­grup­pe aus­ge­schlos­sen wur­den und sich als Pro­sti­tu­ier­te mit nied­ri­gem Sta­tus einer ande­ren Grup­pe anschlie­ßen muss­ten, manch­mal ist aber auch davon die Rede, dass die Wink­te beson­de­re Funk­tio­nen als Hei­rats­ver­mitt­ler und Namen­ge­ber wahr­nah­men, gro­ßes Anse­hen als Pro­du­zen­ten hoch­wer­ti­gen Kunst­hand­werks genos­sen und zu den Neben­frau­en berühm­ter Anfüh­rer wie Sit­ting Bull auf­stei­gen konn­ten; viel­leicht trifft bei­des zu. Es scheint auch Frau­en gege­ben zu haben, die sich dem Schnei­dern und Kochen ver­wei­ger­ten und lie­ber mit den Män­nern auf die Jagd oder in den Krieg rit­ten, aber offen­bar kam das weni­ger häu­fig vor und führ­te nicht dazu, dass eine beson­de­re Bezeich­nung für sie gefun­den wur­de. In jedem Fall spiel­ten in einer Gesell­schaft, in der per­sön­li­che wie poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen oft von scha­ma­ni­schen Visio­nen unter­füt­tert wur­den, die Traum­bil­der der Wink­te eine wich­ti­ge Rol­le, da die­se als beson­ders emp­fäng­lich für die spi­ri­tu­el­le Welt des »Wakan Tanka« gal­ten. So ging zum Bei­spiel die sieg­rei­che Stra­te­gie des Lako­ta-Füh­rers Red Cloud in der »Schlacht der Hun­dert Erschla­ge­nen« 1866 auf eine sol­che Visi­on zurück.

Wenn man den Faden wei­ter ver­folgt, wird einem schnell klar, dass es eine ähn­li­che Klas­se von Men­schen, die sich zu dem Rol­len- und Sexu­al­ver­hal­ten des jeweils ande­ren Geschlechts hin­ge­zo­gen fühl­ten, in so gut wie jeder mensch­li­chen Kul­tur gab. In vie­len davon spiel­ten sie eine dezi­diert spi­ri­tu­el­le Rol­le, etwa bei den Scha­ma­nen­re­li­gio­nen Eura­si­ens oder den afro­bra­si­lia­ni­schen Kul­ten, die Hubert Fich­te so fas­zi­nier­ten. Auch Frau­en, die mit Waf­fen begra­ben wur­den, und Män­ner, deren Grä­ber typi­sche Frauen­ac­ces­soires ent­hal­ten, fin­den sich in der Archäo­lo­gie immer wie­der. Und jeder, der mal in Thai­land oder Bra­si­li­en war (oder in Ham­burg in der Nähe der Schmuck­stra­ße gewohnt hat), hat mit­be­kom­men, dass die heu­ti­ge Welt in die­ser Hin­sicht kei­ne Aus­nah­me dar­stellt. Soweit ich das über­bli­cke, ist die Ursa­che des Phä­no­mens nicht wirk­lich bekannt, aber sei­ne durch­gän­gi­ge Prä­senz lässt eigent­lich kei­nen ande­ren Schluss zu, als dass irgend­ein phy­sio­lo­gi­scher Vor­gang dahin­ter­steht. Viel­leicht (zumin­dest bei den Män­nern) irgend­wel­che müt­ter­li­chen Hor­mo­ne, die zu einem ungüns­ti­gen Zeit­punkt wäh­rend der Schwan­ger­schaft die Pla­zen­ta­schran­ke über­win­den? Aber eigent­lich ist das egal, denn da es Trans­se­xua­lis­mus immer gege­ben hat und aller Wahr­schein­lich­keit nach auch immer geben wird, ist es wesent­lich wich­ti­ger, eine ver­nünf­ti­ge Lösung für das gesell­schaft­li­che Mit­ein­an­der zu finden.

Die west­li­che Kul­tur hat­te in die­ser Hin­sicht kei­ne beson­ders gute Aus­gangs­po­si­ti­on, da schon das Tra­gen der Klei­der des jeweils ande­ren Geschlechts in der Bibel aus­drück­lich ver­bo­ten wird. Dies war sogar der Haupt­ankla­ge­punkt in dem Inqui­si­ti­ons­pro­zess gegen Jean­ne d’Arc, und noch bis in die zwei­te Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts gab es in Tei­len der USA ent­spre­chen­de Geset­ze gegen das »Cross-Dres­sing«. Das haben wir aber eigent­lich alles hin­ter uns, und wenn das gan­ze The­ma nicht momen­tan so ideo­lo­gisch auf­ge­la­den wäre, könn­ten wir uns im Grun­de ent­spannt zurück­leh­nen, dem Vor­bild der Sioux fol­gen und uns wich­ti­ge­ren Fra­gen zuwen­den. Sogar Scha­ma­nen hät­ten wir, sie nen­nen sich halt jetzt »Künst­ler«.

Wie Sie wis­sen, kön­nen wir uns nicht ent­spannt zurück­leh­nen. Das liegt dar­an, dass sich aus dem Par­al­lel­uni­ver­sum her­aus die Ansicht ver­brei­tet hat, dass ein Mann, der davon träumt, eine Frau zu sein, wirk­lich eine Frau ist. Eigent­lich natür­lich logisch – wenn die Rea­li­tät durch Spra­che erst kon­stru­iert wird, kann man sie schließ­lich auch so kon­stru­ie­ren, dass die Kate­go­rie »Geschlecht« nicht nur frei wähl­bar wird, son­dern sogar frei defi­nier­bar. Man kann sich als »nicht-binär« ver­ste­hen, als »gen­der­flu­id« oder »pan­gen­der« und was der­glei­chen Bezeich­nun­gen mehr sind. Aber wozu führt das?

An die­ser Stel­le ist es nütz­lich, einen Hauch Über­set­zungs­wis­sen­schaft ein­zu­flech­ten: Wie ich oben beim »Busch-Baum-Pro­blem« schon anführ­te, sind Wör­ter nicht irgend­wie natur­ge­ge­ben, son­dern bezeich­nen Kate­go­rien, in die wir die Welt ein­tei­len, um dar­über spre­chen zu kön­nen. Eines der größ­ten Pro­ble­me von Über­set­zung besteht dar­in, dass jede Spra­che die­se Ein­tei­lung ein wenig anders vor­nimmt. Das ist schon bei ein­fa­chen Wör­tern so, zum Bei­spiel bezeich­net der eng­li­sche wall die deut­sche Mau­er, aber das eng­li­sche Wort ver­wen­det man auch, wenn man in einem ummau­er­ten geschlos­se­nen Bereich steht und etwa ein Bild auf­hän­gen oder Tape­ten kleis­tern will; im Deut­schen gibt es hin­ge­gen für die­sen Fall die beson­de­re Kate­go­rie Wand. Oder neh­men Sie Pol­nisch: Wenn Sie jeden Mon­tag eine Run­de im Stadt­park ren­nen, müs­sen Sie dafür das Verb bie­gać ver­wen­den; wenn Sie hin­ge­gen aktu­ell durch den Bahn­hof ren­nen, um ihren Zug zu krie­gen, heißt es bie­gnąć. Kei­ne die­ser Ein­tei­lun­gen ist bes­ser oder schlech­ter, sie funk­tio­nie­ren – ganz im Sin­ne der oben erwähn­ten Fuz­zy­ness – halt alle irgend­wie; in jedem Fall sind die Unter­schie­de in der Regel um so grö­ßer, je abs­trak­ter die Wör­ter sind. Dies gilt auch für die eng­li­schen Aus­drü­cke sex und gen­der, die auf die latei­ni­schen Wur­zeln sexus und genus zurück­ge­hen und ursprüng­lich bei­de so viel wie »bio­lo­gi­sches Geschlecht« bedeu­te­ten. Wie sein latei­ni­sches Vor­bild umfass­te gen­der außer­dem noch die Kate­go­rien »Klas­se« oder »Art«, was aber – wie über­haupt das gan­ze Wort – all­mäh­lich außer Gebrauch geriet. Im 20. Jahr­hun­dert erleb­te es dann ein Come­back, weil sex mitt­ler­wei­le auch als Abkür­zung von sexu­al inter­cour­se inter­pre­tiert wur­de und damit die etwas anzüg­li­che Bedeu­tung ange­nom­men hat­te, die es heu­te auch als eng­li­sches Lehn­wort im Deut­schen auf­weist. Damit könn­te die Ange­le­gen­heit ihre Bewend­nis haben, aber in den 1960ern fin­gen nun eini­ge ame­ri­ka­ni­sche Sozi­al­wis­sen­schaft­ler an, gen­der in der Bedeu­tung »sozia­les Geschlecht« oder »Sum­me der Geschlechts­rol­len« zu ver­wen­den, und so wird es dann wie­der­um heu­te als neue Ent­leh­nung im Deut­schen ver­stan­den. Im Eng­li­schen hat das nicht ganz geklappt, dort meint man wei­ter­hin auch das bio­lo­gi­sche Geschlecht damit (falls Sie mir nicht glau­ben wol­len, ein­fach »bio­lo­gi­cal gen­der« googeln).

Die­ses ter­mi­no­lo­gi­sche Durch­ein­an­der spie­gelt sich im deut­schen Titel von Judith But­lers Gen­der Trou­ble wider, dem wich­tigs­ten theo­re­ti­schen Werk in die­sem Bereich. Der heißt näm­lich Das Unbe­ha­gen der Geschlech­ter, wäh­rend drin­nen dann dau­ernd von »Gen­der« die Rede ist. Die Fra­ge aus lin­gu­is­ti­scher Sicht ist aller­dings: Ist die­se Auf­spal­tung in zwei Kate­go­rien sinn­voll? Gibt es ein sozia­les Geschlecht über­haupt? Was damit unge­fähr gemeint ist, meint man ja zunächst intui­tiv zu ver­ste­hen, neh­men Sie etwa die­sen Satz einer aus­län­di­schen Bekann­ten: »Die deut­schen Män­ner, das sind doch kei­ne Män­ner mehr!« Das ers­te »Män­ner« bezieht sich offen­sicht­lich auf die bio­lo­gi­sche Kate­go­rie, wäh­rend mit dem zwei­ten eine bestimm­te Rol­len­er­war­tung gemeint ist. Ist das zwei­te also »Gen­der«…? Natür­lich nicht. Die Rol­len­er­war­tung ist ja nur denk­bar in Bezug auf die als vor­han­den vor­aus­ge­setz­te bio­lo­gi­sche Kate­go­rie – damit man von einem Mann erwar­ten kann, wie er sich zu ver­hal­ten hat, muss man ihn erst ein­mal als Mann iden­ti­fi­ziert haben. Das Rol­len­ver­hal­ten der Geschlech­ter ist nicht wei­ter als das: ihr Rollenverhalten.

Auch sonst las­sen sich die Wör­ter »Mann« und »Frau« schwer von ihrer bio­lo­gi­schen Grund­la­ge lösen. Sehen wir uns ein paar rasch aus dem Inter­net gefisch­te Sät­ze an, in denen sie vorkommen:

Nach Schät­zung des Robert-Koch-Insti­tuts (RKI) erkran­ken in Deutsch­land jähr­lich etwa 4.200 Män­ner neu an Hodenkrebs.

Das Risi­ko für Gebär­mut­ter­hals­krebs hängt vor allem davon ab, ob eine Frau an der Früh­erken­nung teil­nimmt, ob sie gegen HPV geimpft ist sowie von ihrem Alter.

In Deutsch­land im Zeit­raum 2016/18 betrug die Lebens­er­war­tung für Män­ner 78,5 Jah­re und für Frau­en 83,3 Jahre.

Nachts in der Dun­kel­heit allein auf dem Heim­weg: Vie­le Frau­en haben in sol­chen Situa­tio­nen Angst vor einer Vergewaltigung.

In Deutsch­land waren im Jahr 2020 rund 28 % der Füh­rungs­po­si­tio­nen von Frau­en besetzt. 

Män­ner leben gefähr­li­cher und ster­ben frü­her als Frau­en, das ist das Ergeb­nis eines Berichts des Robert-Koch-Insti­tu­tes (RKI) zum The­ma Männergesundheit.

Wenn Frau­en ermor­det wer­den, weil sie Frau­en sind, heißt das Femizid.

Wie unschwer zu erken­nen ist, ergibt kei­ner die­ser Sät­ze einen Sinn, wenn Geor­gi­ne Kel­ler­mann eine Frau ist und Elli­ot Page ein Mann (und nicht eine »Trans­frau« und ein »Trans­mann«, was ja kein Pro­blem wäre). Wie sie außer­dem sehen, haben vie­le der ange­führ­ten Sät­ze einen medi­zi­ni­schen Hin­ter­grund, es ist also zum Bei­spiel für einen Arzt bei der Dia­gno­se von Krank­heits­sym­pto­men wich­tig zu wis­sen, ob er einen Mann oder eine Frau vor sich hat.

Stel­len Sie sich etwa einen dem Anschein nach stark über­ge­wich­ti­gen Men­schen vor, der in einer Not­auf­nah­me erscheint, über anhal­ten­de Schmer­zen im Unter­leib klagt und sich dem Pfle­ge­per­so­nal gegen­über als »Mann« vor­stellt. Man könn­te dann anneh­men, dass er viel­leicht sei­ne Blut­druck­sen­ker nicht genom­men hat, und ihn wie­der nach Hau­se schi­cken, obwohl er in Wirk­lich­keit eine schwan­ge­re Frau ist, die gera­de ihre ers­ten Wehen ver­spürt. Das Kind wür­de die­se Fehl­dia­gno­se nicht über­le­ben, und der schwan­ge­re »Mann« müss­te sich mit einem ziem­li­chen Schock her­um­pla­gen. Das klingt jetzt furcht­bar schlecht aus­ge­dacht, ist es aber lei­der nicht: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp1811491.

Man kann natür­lich ande­re Wör­ter für die her­kömm­li­chen sinn­vol­len Kate­go­rien fin­den, etwa »Indi­vi­du­en mit Gebär­mut­ter­hals« (CNN im Juli 2020) für »Frau« oder die alt­ehr­wür­di­ge femi­nis­ti­sche Schmä­hung »Penis­trä­ger« für »Mann«, aber damit hat man natür­lich das Pro­blem nur ver­scho­ben, denn irgend­wann träumt dann eben ein Penis­trä­ger davon, ein Indi­vi­du­um mit Gebär­mut­ter­hals zu sein. Im Par­al­lel­uni­ver­sum hin­ge­gen haben die Wör­ter plötz­lich wie­der die Qua­li­tät Pla­ton­scher Ideen ange­nom­men – es gibt dort offen­bar irgend­wo hin­ter den Din­gen doch einen »Mann an sich« und eine »Frau an sich«, die sich unab­hän­gig von der Bio­lo­gie in den Indi­vi­du­en als »Iden­ti­tät« mate­ria­li­sie­ren können.

Aber woher soll­ten dann die­se Iden­ti­tä­ten kom­men? Wie defi­niert man »Frau« und »Mann«, wenn die Defi­ni­ti­on eines Wor­tes der Will­kür des jeweils Spre­chen­den bzw. des­sen, der aus irgend­wel­chen Grün­den die Defi­ni­ti­ons­macht hat, unter­liegt? Wenn wir alle nur noch der son­der­ba­re Alte in Peter Bich­sels Geschich­te sind und unse­re Pri­vat­spra­che pfle­gen? Sehen wir uns zwei Haupt­ar­gu­men­te der oben erwähn­ten Judith But­ler an (eige­ne Übersetzung):

Gen­der steht nicht im sel­ben Ver­hält­nis zur Kul­tur wie das bio­lo­gi­sche Geschlecht zur Natur; Gen­der ist außer­dem das diskursive/kulturelle Mit­tel, durch das die »geschlecht­li­che Natur« oder »ein natür­li­ches Geschlecht« her­ge­stellt und als »vor­dis­kur­siv«, der Kul­tur vor­an­ge­hend eta­bliert wird, als poli­tisch neu­tra­le Ober­flä­che, auf der die Kul­tur sich abspielt.

Außer­dem:

Gen­der ist eine Art von Nach­ah­mung, für die es kein Vor­bild gibt; es ist sogar eine Art von Nach­ah­mung, die über­haupt erst eine Vor­stel­lung des Vor­bilds als Aus­wir­kung und Fol­ge der Nach­ah­mung selbst hervorruft.

Mit ande­ren Wor­ten: Frau But­ler ist irgend­wo aus der Kur­ve geflo­gen. »Frau« und »Mann« sol­len ihrer Mei­nung nach so eine Art Münch­hau­sen-Wör­ter sein, die sich am eige­nen Schopf aus dem Sumpf des Wort­lo­sen gezo­gen und dadurch dann die Geschlecht­lich­keit, die wir an der Natur wahr­neh­men, erst in die­se Natur hin­ein­ge­bracht haben. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich tue mich schwer damit, sol­chen Sät­zen irgend­ei­ne Art von Sinn abzu­rin­gen. Geschwei­ge denn, dass ich einem Trans­mann raten wür­de, sich beim Arzt auf die­ser Grund­la­ge als »Mann« vorzustellen.

Letzt­end­lich – was ist »Iden­ti­tät« über­haupt? Der Duden erklärt mir, dass es sich um die »als ›Selbst‹ erleb­te inne­re Ein­heit der Per­son« han­delt, aber das kommt für mei­ne Begrif­fe ein wenig arg pom­pös daher. Im Grun­de bedeu­tet das Wort nichts wei­ter, als dass man die Kate­go­rien akzep­tiert, in die man von den ande­ren ein­ge­ord­net wird. Ich bin zum Bei­spiel Sohn einer Deut­schen und eines Deut­schen und im Besitz der deut­schen Staats­an­ge­hö­rig­keit, lebe außer­dem in Deutsch­land, von daher wür­de es nie­man­dem ein­fal­len, mich nicht als »Deut­schen« zu bezeich­nen. Das ist natür­lich nicht in Stein gemei­ßelt – ich hät­te nach Bra­si­li­en aus­wan­dern kön­nen und wäre dann jetzt ein »Deutsch-Bra­si­lia­ner«, oder eines mei­ner Eltern­tei­le hät­te aus einem ande­ren Land stam­men kön­nen, das einen Teil auch mei­ner Iden­ti­tät abde­cken wür­de. Schon eine Ebe­ne wei­ter unten gab es in die­ser Hin­sicht ter­mi­no­lo­gi­sche Pro­ble­me, da mein Vater unzwei­fel­haft Nie­der­sach­se, mei­ne Mut­ter aber in Pom­mern gebo­ren und auf­ge­wach­sen war. In der Fami­lie war nie ganz klar, ob wir Kin­der nun »Pom­mern­sach­sen« oder »Nie­der­pom­mern« waren, aber ganz so wich­tig war es dann auch wie­der nicht. Wie ich ein­gangs erwähn­te, füh­le ich mich zwi­schen den Stüh­len ganz wohl, und unse­re sprach­li­chen Kate­go­rien sind eben nie so ganz in Über­ein­stim­mung mit den Kom­ple­xi­tä­ten der Rea­li­tät zu bringen.

Ähn­lich ist es mit der sexu­el­len Ori­en­tie­rung. Ich bin nicht »hete­ro« oder »cis«, weil ich mir das irgend­wie aus­ge­sucht hät­te; es tre­ten halt beim Anblick einer Frau auto­ma­tisch gewis­se kör­per­li­che Reak­tio­nen auf, die ich nicht bewusst steu­ern kann. In jun­gen Jah­ren war ich ein ganz hüb­scher Ben­gel, und wie das dann so ist, haben sich vie­le schwu­le Män­ner in mich ver­liebt. Mei­ne mora­li­sche Ent­rüs­tung hielt sich in Gren­zen, und ich hät­te damals jede Men­ge Gele­gen­hei­ten gehabt, etwai­ge Nei­gun­gen in die­ser Rich­tung aus­zu­le­ben, aber die gewis­sen kör­per­li­chen Reak­tio­nen woll­ten sich ein­fach nicht ein­stel­len, und ich fin­de auch, Män­ner haben so etwas Eckig-Kan­ti­ges, das mich über­haupt nicht anspricht. Es wür­de also nie­man­dem ein­fal­len, mich als »schwul« oder »bise­xu­ell« zu bezeich­nen. Es ist mir sogar völ­lig egal, wie man mich bezeich­net und wel­che sexu­el­le »Iden­ti­tät« ich mir zuschrei­ben könn­te, an mei­nen kör­per­li­chen Reak­tio­nen ändert das ja kei­nen Deut. Ich glau­be auch nicht, dass sich jemand aus­su­chen kann, ob er sich zum Sexu­al- und Rol­len­ver­hal­ten des ande­ren Geschlechts hin­ge­zo­gen fühlt.

Etwas schwie­ri­ger ist es bei sol­chen Iden­ti­tä­ten, die man nicht auto­ma­tisch hat, son­dern anstrebt. Ich habe mich wei­ter oben als »Anglist« bezeich­net; das kann ich, weil ich hier irgend­wo ein Blatt Papier habe, auf dem mir die Uni­ver­si­tät Augs­burg einen Stu­di­en­ab­schluss in »Ange­wand­ter Sprach­wis­sen­schaft Anglis­tik« beschei­nigt. In ana­lo­ger Wei­se darf ich mich »His­pa­nist« und »His­to­ri­ker« nen­nen (da ich vor­her ein Vor­di­plom in Phy­sik erwor­ben hat­te, könn­te ich mich den Maß­stä­ben der der­zei­ti­gen Kanz­ler­kan­di­da­tin der Grü­nen zufol­ge sogar als »Exper­te für Quan­ten­phy­sik« auf­spie­len, aber igno­rie­ren wir die­se Fri­vo­li­tä­ten). Der sprin­gen­de Punkt ist, dass ich von ande­ren Men­schen nicht ver­lan­gen kann, mich als irgend­et­was zu bezeich­nen, wenn ich nicht die Vor­aus­set­zun­gen dafür erfül­le. Wenn ich will, dass sie mich »Hirn­chir­urg« nen­nen, weil ich mich irgend­wie als ein sol­cher füh­le, bin ich kei­ner, son­dern ein Hoch­stap­ler. Und wenn ich sie dazu zwin­ge, weil mei­ne gefühl­te inne­re Wahr­heit mei­ner Mei­nung nach mehr wiegt als ihre äuße­re Ein­schät­zung mei­ner Per­son, bin ich ein Hoch­stap­ler, der auch vor Nöti­gung nicht zurückschreckt.

Ich glau­be, das ist ein wich­ti­ger Grund, war­um Men­schen, die dem Par­al­lel­uni­ver­sum skep­tisch gegen­über­ste­hen, so aggres­siv auf des­sen ste­tig erwei­ter­ten For­de­rungs­ka­ta­log reagie­ren – es geht nicht dar­um, das eine angeb­lich pri­vi­le­gier­te Schicht sich gegen den Ver­lust ihrer Pri­vi­le­gi­en weh­ren wür­de; man hat ein­fach die stän­di­ge Nöti­gung satt. Ver­mut­lich wür­de es gar kei­nen so gro­ßen Wider­stand dage­gen geben, die betref­fen­den Per­so­nen mit den Pro­no­mi­na und dem Namen des gewünsch­ten Geschlechts anzu­re­den, aber eben die Bezeich­nun­gen »Trans­frau« und »Trans­mann« zu ver­wen­den (oder irgend­et­was Schö­ne­res). Dann wüss­te auch der Arzt, wen er vor sich hat. Was nervt, ist wie schon beim gene­ri­schen Mas­ku­li­num die Ver­hin­de­rung sinn­vol­ler Kom­mu­ni­ka­ti­on durch das Erzwin­gen offen­kun­di­gen Blöd­sinns. Ich hege ohne­hin den Ver­dacht, dass die Anhän­ger But­lers deren Wer­ke nicht im Hin­blick auf ratio­na­le Welt­erklä­rung lesen, son­dern als Sinn­stif­tung, wie Zen-Koans, deren Bedeu­tung irgend­wo in ihrer offen­kun­di­gen Para­do­xi­tät ver­bor­gen liegt.

*

Wenn das alles so absurd ist – wie kommt man dann dar­auf? Und war­um ist mir das alles so fremd …? In mei­ner Jugend pfleg­te man auf sol­che Fra­gen mit »Hab ich Lat­schen an den Füßen?« oder »Hab ich Löcher in den Hän­den?« zu ant­wor­ten, ich ver­su­che es trotz­dem mal. Gehen wir zu die­sem Zweck zurück zu der ein­gangs erwähn­ten Wei­de, die das der­zei­ti­ge Ein­satz­ge­biet unse­res Rasen­mä­her­teams darstellt:



Es han­delt sich dabei um Athos und Porthos (Ara­mis ist lei­der an einer Wur­m­in­fek­ti­on ver­stor­ben) sowie Cas­tor und Pol­lux (die mit dem hel­len Fell). Die vier uner­müd­li­chen Gras­ver­til­ger gehö­ren einer fran­zö­si­schen Zwerg­schafras­se an, die von der Île de Oues­sant stammt, und da wir uns kei­ne Läm­mer­auf­zucht ans Bein bin­den woll­ten, haben wir aus­schließ­lich Böcke ange­schafft. Wir haben sie von unse­rer Tier­ärz­tin kas­trie­ren las­sen, damit sie nicht ganz so wild sind, aber sie sind eigent­lich immer noch wild genug. Zum Bei­spiel las­sen Athos und Pol­lux auf dem Bild gera­de die Köp­fe anein­an­der­kra­chen, weil sie sich um den Rest von dem Quetsch­ha­fer strei­ten, den ich den vie­ren hin­ge­stellt habe. Sie machen das oft auch ohne Quetsch­ha­fer, ein­fach nur um her­aus­zu­fin­den, wer von ihnen der Stärks­te ist. Haben Sie schon mal gehört, wie der Kopf eines Oues­sant-Bocks fron­tal auf den sei­nes Kon­tra­hen­ten prallt? Eigent­lich müss­ten bei­de danach eine schwe­re Gehirn­er­schüt­te­rung davon­tra­gen, aber die­se Bur­schen sind wirk­lich zäh.

Auf dem Weg zurück ins Haus kom­men wir am Hüh­ner­stall vor­bei. Wir haben sei­ne jet­zi­gen, aus Eng­land stam­men­den Bewoh­ner von einer Bekann­ten bekom­men, ich glau­be, die Ras­se ist eine Mischung aus Ham­bur­gern und Aus­tral Orbs. Jeden­falls brü­ten sie manch­mal ihre Eier selbst aus, und wir hat­ten schon Jah­re, in denen wir fünf­zehn Stück groß­be­kom­men haben und dann schlach­ten konn­ten (ich hof­fe, ihr Ent­set­zen hält sich in Gren­zen). Die­ses Jahr hat­ten wir Pech, von vie­len Eiern ist nur ein ein­zi­ges Küken geschlüpft, das jetzt auch schon ziem­lich groß ist und mit den ande­ren Hüh­nern auf der Stan­ge sitzt:

Das Küken ist ganz schön frech, kommt immer gleich als Ers­tes, wenn es etwas zu fres­sen gibt, und fut­tert den ande­ren weg, was es kann. Es hat auch Pro­ble­me, sich in die Hack­ord­nung ein­zu­fü­gen, die von einem Hahn ange­führt wird, der sei­ne Damen den Tag über auf dem Hüh­ner­hof her­um­führt. Das Küken hin­ge­gen sitzt viel allei­ne her­um, wie in der Puber­tät so üblich. An den rela­tiv lan­gen Bei­nen kann man jetzt schon erken­nen, dass es ein jun­ger Hahn ist.

Vor­laut und unhöf­lich ist übri­gens auch die weiß­oran­ge Kat­ze, die Sie im nächs­ten Bild sehen. Wenn man statt zwei­er nur eine Schüs­sel mit Kat­zen­fut­ter hin­stellt, drän­gelt sie unse­re zwei­te Kat­ze zur Sei­te und stürzt sich rück­sichts­los dar­auf, wäh­rend ihre Kol­le­gin trau­rig dane­ben­steht und nicht weiß, was sie machen soll:

Auch hier gilt: ganz typisch für Män­ner, denen nie­mand Manie­ren bei­gebracht hat, denn die schwarz­wei­ße Kat­ze ist natür­lich ein Weib­chen, wäh­rend die weiß­oran­ge ein Kater ist. Er heißt »Ein­stein«, und wenn er nicht gera­de mit Fres­sen und Schla­fen beschäf­tigt ist, stellt er Expe­ri­men­te mit der Schwer­kraft an, indem er Tel­ler zu Boden schmeißt, die dar­auf war­ten, in die Spül­ma­schi­ne zu kommen.

Wie Sie sehen, haben wir schon ein paar Tie­re hier, aber das ist wirk­lich nur ein schwa­cher Abglanz der Welt, in der ich auf­ge­wach­sen bin. In der Land­wirt­schaft alten Schla­ges, in der alle Land­wir­te gleich­zei­tig Vieh­hal­ter und Acker­bau­ern waren, war man noch tag­täg­lich mit allen mög­li­chen Aspek­ten des Ver­hal­tens unse­rer mehr oder weni­ger weit ent­fern­ten Ver­wand­ten auf den benach­bar­ten Zwei­gen des evo­lu­tio­nä­ren Stamm­baums kon­fron­tiert. Tie­re wur­den gebo­ren, wuch­sen auf, kopu­lier­ten, beka­men selbst Nach­wuchs und wur­den ent­we­der geschlach­tet oder star­ben an Krank­hei­ten und Alters­schwä­che. Und die Männ­chen und Weib­chen benah­men sich in der Regel so erkenn­bar unter­schied­lich, dass die Ein­ord­nung in Geschlechts­ka­te­go­rien kein Zau­ber­trick einer »nicht nach­ah­men­den Nach­ah­mung« war, son­dern sich ein­fach von selbst auf­dräng­te. Wenn unter den Schwei­nen, die ich auf die Wei­de brin­gen muss­te, ein Eber war, über­nahm mein Vater selbst die­se Auf­ga­be, denn er hat­te Angst, dass mir etwas pas­sie­ren könn­te. Das galt auch für den Fall, dass wir Kin­der am Fluss spie­len woll­ten und dazu eine Kuh­wei­de über­que­ren muss­ten – solan­ge nur Kühe und Käl­ber dar­auf stan­den, war das kein Pro­blem; die Anwe­sen­heit von Bul­len hät­te es zum Selbst­mord­kom­man­do gemacht.

Auch der Anbau von Feld­früch­ten brach­te es mit sich, dass man bestimm­te Erfah­run­gen mach­te. Zunächst ein­mal die, dass man etwas, dass man essen will, gegen die Begier­den der ande­ren Tie­re und jener Pflan­zen, die auch auf dem Acker wach­sen möch­ten, ver­tei­di­gen muss. Und wenn man dafür kei­ne che­mi­schen oder maschi­nel­len Mit­tel ein­set­zen kann (zum Bei­spiel beim Rüben­ha­cken), dann ist das eine ver­dammt anstren­gen­de kör­per­li­che Arbeit. Man lern­te außer­dem, dass man noch so schlau sein und sich noch so sehr anstren­gen kann, aber trotz­dem kei­nen gro­ßen Ein­fluss auf den Ern­te­er­folg hat, weil es zufäl­lig nicht genug gereg­net hat. Die­se Welt funk­tio­nier­te nach ihren eige­nen Regeln, und sie rede­te in einer Spra­che mit uns, die älter ist als Wor­te. Man konn­te sie nicht intel­lek­tu­ell ver­ste­hen, son­dern nur mit allen Sin­nen erfah­ren, und ver­gli­chen damit ist die post­mo­der­ne Phi­lo­so­phie nur ein Dau­nen­fe­der­chen im Sommerwind.

An die­ser Stel­le müs­sen wir kurz zu Witt­gen­stein zurück­keh­ren, dies­mal um ihm eine sei­ner ande­ren The­sen aus dem Trac­ta­tus um die Ohren zu hau­en. Er schreibt dort:

Die Gren­zen mei­ner Spra­che bedeu­ten die Gren­zen mei­ner Welt. 

Der öster­rei­chisch-bri­ti­sche Phi­lo­soph hat vie­le bemer­kens­wer­te und klu­ge Din­ge geschrie­ben, die einem das Ver­ständ­nis der Welt erleich­tern kön­nen; mit die­sem Satz hin­ge­gen hat er sich auf ewig in die Top-Ten des größ­ten phi­lo­so­phi­schen Blöd­sinns ein­ge­schrie­ben. Selbst­ver­ständ­lich gehen die Gren­zen mei­ner Welt weit über die Spra­che hin­aus, denn noch vor jedem Wort erschlie­ße ich mir die­se Welt dadurch, dass ich sie begrei­fe, eine Anschau­ung von ihr gewin­ne, etwas nicht rie­chen kann, das Gras wach­sen höre, auf den Geschmack kom­me, mich an ihr abar­bei­te, phy­si­sche Wider­stän­de über­win­de, mich dem Stär­ke­ren beu­gen muss und so wei­ter und so fort. Die­se non­ver­ba­len Mög­lich­kei­ten der Welt­erfah­rung, eben­so wie die Emo­tio­nen, die Angst vor einer Gefahr oder die Freu­de über ein Gelin­gen, spie­len sich auf einer mehr oder weni­ger unbe­wuss­ten und bild­haf­ten Ebe­ne weit unter­halb des Intel­lekts ab, und sie sind eines der Kor­re­la­te, die man braucht, um ent­schei­den zu kön­nen, ob Spra­che die Wirk­lich­keit kor­rekt abbil­det oder nicht. Ein ande­res wäre der Ansatz, den ich oben kurz ange­ris­sen und Karl Pop­per ent­lehnt habe: Nicht nur Wör­ter sind Hypo­the­sen über die Wirk­lich­keit, auch unse­re Hand­lun­gen sind es. Manch­mal wer­den sie fal­si­fi­ziert, dann blei­ben in der Regel Nar­ben zurück, manch­mal kön­nen sie sich aber auch behaup­ten. Die Sum­me aus all dem ist ein Welt­wis­sen, des­sen man sich halb­wegs sicher sein kann, gera­de weil es nicht auf Spra­che beruht.

Es fällt auf, dass eine so emi­nent prak­ti­sche Phi­lo­so­phie wie die­je­ni­ge Pop­pers von jeman­dem erdacht wur­de, der schon als Schü­ler sei­nen Lebens­un­ter­halt neben­her als Hilfs­ar­bei­ter ver­dien­te und spä­ter eine Tisch­ler­leh­re absol­vier­te. Vie­le der Kan­di­da­ten hin­ge­gen, die sich um einen Platz auf der oben erwähn­ten Top-Ten bal­gen, stamm­ten aus schwer­rei­chen Fabri­kan­ten- und Kauf­manns­fa­mi­li­en und waren dadurch den mate­ri­el­len Sor­gen und Nöten der rea­len Welt schon zu ihrer Zeit so weit ent­wach­sen, wie dies heu­te für wei­te Tei­le der Gesamt­be­völ­ke­rung gilt. In den rei­chen Län­dern des Wes­tens wach­sen seit meh­re­ren Genera­tio­nen die meis­ten Kin­der nicht mehr in der direk­ten sinn­li­chen Erfah­rung der Welt, son­dern vor dem Fern­se­her auf, und man kann wohl kaum sagen, dass sich das Pro­blem durch die seit zehn, zwan­zig Jah­ren immer län­ger wer­den­den Auf­ent­hal­te in den vir­tu­el­len Räu­men des Inter­nets und der Com­pu­ter­spie­le irgend­wie ent­schärft hät­te. Muss man sich also wun­dern, wenn immer mehr Leu­te glau­ben, wir Men­schen wür­den uns unse­re eige­ne Welt erschaf­fen, die aus­schließ­lich nach unse­ren eige­nen Regeln funktioniert?

Es gibt sicher noch wei­te­re Fak­to­ren, die dafür eine Rol­le spie­len. So mag man es der ver­brei­te­ten Kin­der­lo­sig­keit zuschrei­ben, dass der Zusam­men­hang des Wor­tes »Geschlecht« mit der Zeu­gung (und nur in die­sem Kon­text hat das Wort über­haupt einen Sinn) für vie­le offen­bar ver­lo­ren gegan­gen ist. Auch die Tat­sa­che, dass wir uns ungern als Tier unter Tie­ren sehen, weil wir uns dann unse­rer bio­lo­gi­schen Bedingt­heit (und vor allem Sterb­lich­keit) stel­len müss­ten, wird nicht ohne Ein­fluss blei­ben. Wesent­lich wich­ti­ger scheint mir aller­dings etwas, das man als »Ver­schmel­zung der Post­mo­der­ne mit der radi­ka­len Lin­ken« bezeich­nen könn­te. In einem frü­he­ren Bei­trag habe ich mich mal dar­über aus­ge­las­sen, was es bedeu­tet, »links« zu sein, hier eine kon­den­sier­te Fas­sung: Man ist links, wenn man

  1. die Welt am Ide­al von Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit misst und ver­sucht, die ermit­tel­te Dis­kre­panz mög­lichst zum Ver­schwin­den zu bringen;

  2. dies (zumin­dest vor­geb­lich) nicht im eige­nen Inter­es­se tut, son­dern im Namen derer, die von den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen am meis­ten benach­tei­ligt werden.

Vor allem im Hin­blick auf den zwei­ten Punkt stand die radi­ka­le, vor allem aka­de­mi­sche Lin­ke in den 1980ern vor einem hand­fes­ten Pro­blem. Ich habe in dem erwähn­ten Bei­trag ja von den Arzt- und Leh­rer­kin­dern erzählt, die mei­nem Vater in der Fuß­gän­ger­zo­ne der nächs­ten Klein­stadt 10 Jah­re zuvor mao­is­ti­sche Pam­phle­te in die Hand drü­cken woll­ten (was der sich als stand­fes­tes Gewerk­schafts­mit­glied und SPD-Wäh­ler natür­lich ver­bat). Die­se Pos­sen gin­gen bekann­ter­ma­ßen auf die damals geläu­fi­ge ortho­dox-mar­xis­ti­sche Geschichts­deu­tung zurück, die in der »Arbei­ter­klas­se« jene Kraft erblick­te, mit deren Hil­fe man den eher­nen Geset­zen des dia­lek­ti­schen Mate­ria­lis­mus zufol­ge das Ende der herr­schen­den impe­ria­lis­tisch-aus­beu­te­ri­schen Gesell­schafts­ord­nung ein­läu­ten würde.

Nicht nur mein Vater, auch der Groß­teil der ande­ren Arbei­ter hus­te­te ihnen was, und als dann auch noch die Mau­er fiel und der Lin­ken all die Leu­te von der Fah­ne gin­gen, die man vier Jahr­zehn­te lang ver­geb­lich ver­sucht hat­te, zur »sozia­lis­ti­schen Per­sön­lich­keit« zu erzie­hen, war offen­bar die Zeit gekom­men, sich nach ande­ren Benach­tei­lig­ten umzu­se­hen, deren Inter­es­sen man ver­tre­ten konn­te. Unge­fähr zu die­ser Zeit fin­gen die Namen fran­zö­si­scher Phi­lo­so­phen an, durch die Sei­ten der taz zu geis­tern, erst nur ganz sel­ten, dann immer häu­fi­ger, und Begrif­fe wie »Viel­heit«, »Dif­fé­ran­ce« und »Dekon­struk­ti­on« lie­ßen den Leser rät­seln, was wohl damit gemeint sein könn­te. Auch an der Uni konn­te man die ent­spre­chen­den Theo­rien nicht mehr igno­rie­ren. Die meis­ten mei­ner Pro­fes­so­ren waren noch ent­we­der bür­ger­lich-libe­ral oder klas­sisch links ein­ge­stellt, aber die Betreue­rin mei­ner Magis­ter­ar­beit hat­te es von der Sor­bon­ne und aus Stan­ford an den Lech geweht, und sie trak­tier­te uns in den Haupt­se­mi­na­ren mit zent­ner­schwe­ren Rea­dern, in denen neben diver­sen etwas tra­di­tio­nel­le­ren lin­ken Gedan­ken­ge­bäu­den auch die post­mo­der­nen Phi­lo­so­phen eine nicht zu unter­schät­zen­de Rol­le spiel­ten. Schon damals gab es his­to­ri­sche Auf­sät­ze, die allen Erns­tes die The­se auf­stell­ten, die stren­ge Tei­lung der indi­schen Gesell­schaft in sepa­ra­te Kas­ten sei in Wirk­lich­keit eine Erfin­dung der Bri­ten, die auf die­se Wei­se ihre »ori­en­ta­lis­ti­sche« Sicht­wei­se den eigent­lich total tole­ran­ten Indern auf­ge­zwun­gen hät­ten, und ein bri­ti­scher His­to­ri­ker konn­te mit viel Medi­en­auf­merk­sam­keit behaup­ten, das klas­si­sche Grie­chen­land sei eine kolo­nia­le Grün­dung der Phö­ni­zi­er und Ägyp­ter gewe­sen, was man nur auf­grund des Ras­sis­mus der euro­päi­schen klas­si­schen Alter­tums­wis­sen­schaft­ler über­se­hen hät­te (dank der gene­ti­schen Revo­lu­ti­on ist mitt­ler­wei­le bei­des geräusch­los in der Ver­sen­kung ver­schwun­den). Als mir die Pro­fes­so­rin in der münd­li­chen Prü­fung eine Note abzog, weil ich nicht mehr so ganz genau wuss­te, was irgend­ei­ne alber­ne, in den 1970ern belieb­te anti-impe­ria­lis­ti­sche Theo­rie beinhal­te­te, ich weiß nicht mehr, ob es Wal­ler­steins Welt­sys­tem oder die Depen­denz­theo­rie war, wur­de mir klar, dass mei­ne beruf­li­che Zukunft nicht an der Uni­ver­si­tät lie­gen konnte.

Die Kom­mi­li­to­nen, denen die dicken Rea­der gefie­len, sahen das natür­lich anders, und die haben halt jetzt die Lehr­stüh­le inne. Wäh­rend sie noch an ihren Kar­rie­ren bas­tel­ten, for­mier­te sich auf der Lin­ken lang­sam, aber sicher etwas her­aus, das ich mal »Neu­er Kon­sens« nen­nen möch­te. Er besteht zu einen in der Ver­ach­tung der alten Arbei­ter­klas­se – ver­mut­lich zu einem guten Teil aus ent­täusch­ter Lie­be, aber der Umstand, dass man sei­nem bür­ger­li­chen Sno­bis­mus den Unter­schich­ten gegen­über end­lich frei­en Lauf las­sen konn­te, wird sei­ne Rol­le gespielt haben. Zum ande­ren ging es um die Schaf­fung eines neu­en revo­lu­tio­nä­ren Sub­jek­tes, das nun aus einer brei­ten Koali­ti­on von Min­der­hei­ten besteht, die angeb­lich von der domi­nan­ten Mehr­heit dar­an gehin­dert wer­den, ihre »dif­fe­ren­te« Wahr­heit frei aus­le­ben zu kön­nen. In die­sem Sin­ne muss man wohl bei­spiels­wei­se die Selbst­be­zeich­nung von BLM-Akti­vis­ten als »Mar­xis­ten« oder den neu­rech­ten Kampf­be­griff »Kul­turm­ar­xis­mus« ver­ste­hen, denn eigent­lich könn­te die im Neu­en Kon­sens ver­ein­te post­mo­der­ne Lin­ke kaum wei­ter von den Theo­rien Karl Marx’ ent­fernt sein. Ging es dort noch um angeb­lich objek­tiv in der Geschich­te wir­ken­de Mecha­nis­men und Geset­ze, basiert die »vor­ge­stell­te Gemein­schaft« (Bene­dict Ander­son) der LGBTQIA+ und BIPOC aus­schließ­lich auf den Gefüh­len der Men­schen, die ihr ange­hö­ren wol­len. Ver­bin­den­des Ele­ment ist höchs­tens noch der uto­pi­sche Flucht­punkt, von einer Mär­chen­welt zu träu­men, in der es kei­ner­lei Ein­schrän­kun­gen des mensch­li­chen Wil­lens mehr gibt.

Der Neue Kon­sens hat vie­le Vor­tei­le, so muss­ten die K‑Grüppler in den 1970ern sich noch zu Lese­krei­sen zusam­men­schlie­ßen, in denen »Das Kapi­tal« und Maos klei­nes rotes Buch gemein­sam durch­ge­ackert wur­den, um die durch­aus anspruchs­vol­le Ideo­lo­gie zu ver­ste­hen. Das theo­re­ti­sche Grund­kon­zept des Neu­en Kon­sen­ses hin­ge­gen begreift jeder, der mal eine Vor­stel­lung von »Kas­per­le und das Kro­ko­dil« gese­hen hat: Es gibt böse Men­schen, die die Macht haben und sie nut­zen, um gute Men­schen zu unter­drü­cken, die ein­fach nur nach ihren eige­nen Maß­stä­ben leben wol­len. Es dürf­te die­ser simp­le Mora­lis­mus sein, der dem Par­al­lel­uni­ver­sum zu sei­nem ansons­ten ganz unver­ständ­li­chen Sie­ges­zug ver­hol­fen hat – nicht mal der CDU wäh­len­de Kir­chen­vor­stand möch­te noch in den Ver­dacht kom­men, auf der Sei­te des Kro­ko­dils zu ste­hen und ande­ren Men­schen sagen zu müs­sen, dass man nicht alles sein kann, was man will.

Kon­se­quen­ter­wei­se kommt der Wider­stand dage­gen auch kaum aus die­ser Ecke, son­dern eher von klas­si­schen Links­li­be­ra­len und den mitt­ler­wei­le als »TERFs« ver­schrie­nen Femi­nis­tin­nen alten Schla­ges, die begrif­fen haben, dass Frau­en­för­der­pro­gram­me sinn­los sind, wenn sich jeder­mann pro­blem­los selbst zur Frau ernen­nen kann. Aber sie haben einen schwe­ren Stand, denn wenn nicht nur das Geschlecht, son­dern die gan­ze Rea­li­tät frei kon­stru­ier­bar ist, bleibt die Moral als ein­zi­ges Kri­te­ri­um übrig, um die Hand­lun­gen eines ande­ren Men­schen zu beur­tei­len. Dann kön­nen sogar Trans­frau­en böse auf les­bi­sche Frau­en sein, die kei­ne Lust haben, mit ihnen zu schla­fen, denn dies bedeu­tet ja, dass Letz­te­re wil­lent­lich ihre Rea­li­tät so kon­stru­ie­ren, dass sie dar­auf kei­ne Lust haben, obwohl sie doch sonst behaup­ten, auf Frau­en zu ste­hen. Klingt schräg, ist aber die logi­sche Fol­ge der Grund­an­nah­me. In Fra­gen der Moral kennt der Mensch kei­nen Spaß, und das ist sicher auch der Grund, war­um es den Bewoh­nern des Par­al­lel­uni­ver­sums egal ist, dass die Mehr­heit der Bevöl­ke­rung ihre Posi­tio­nen ablehnt – wer sich im Besitz der über­le­ge­nen Moral glaubt, für den ist eine sol­che Ableh­nung kei­ne zuläs­si­ge Mei­nung, son­dern der ers­te Stein auf dem Weg in die Höl­le von Faschis­mus und Imperialismus.

Dazu kommt eine Funk­ti­on von »Iden­ti­tät«, die ich oben nicht erwähnt habe – wir sind sozia­le Tie­re und iden­ti­fi­zie­ren uns über Sym­bo­le, Welt­an­schau­un­gen oder Reli­gio­nen mit irgend­ei­ner Grup­pe, der wir uns zuge­hö­rig füh­len. Das ist wahr­schein­lich der psy­chi­sche Mecha­nis­mus, der es uns ermög­licht, in rie­si­gen Gesell­schaf­ten zusam­men­zu­le­ben, die weit über die paar Dut­zend Indi­vi­du­en hin­aus­ge­hen, zu denen sich unse­re Pri­ma­ten­ver­wand­ten zusam­men­fin­den. Reli­gi­on spielt hier­bei offen­bar die wich­tigs­te Rol­le, und die grund­le­gen­de Groß­ge­sell­schaft, die man auf allen Kon­ti­nen­ten und zu allen Zei­ten fin­det, ist die des sakra­len König­tums, bei der eine »gesalb­te« Herr­scher­fi­gur irgend­wie reli­gi­ös legi­ti­miert erscheint, über ihr Reich zu herr­schen. Unse­re Zeit wirkt auf den ers­ten Blick are­li­gi­ös, aber was wäre die Ideo­lo­gie des Par­al­lel­uni­ver­sums anders als eine neue Glau­bens­leh­re, nicht weni­ger absurd als Jung­frau­en­geburt oder Auf­er­ste­hung der Toten, und von man­chen eben­so glü­hend geglaubt?

Auch die Exis­tenz eines Fein­des, gegen den man zusam­men­ste­hen muss, scheint von wich­ti­ger Bedeu­tung für den Zusam­men­halt einer Gemein­schaft zu sein. Den­ken Sie zurück an den Kal­ten Krieg in der Bun­des­re­pu­blik – die blo­ße Exis­tenz von Sowjet­uni­on und DDR gewähr­leis­te­te, dass die Lin­ke sich mit Ent­eig­nungs­phan­ta­sien zurück­hielt (man sah ja, wohin das führ­te) und die Rech­te zäh­ne­knir­schend den Sozi­al­staat akzep­tier­te (man konn­te ja nie wis­sen, wen die Arbei­ter sonst wäh­len wür­den). Drei­ßig Jah­re spä­ter hin­ge­gen sehen wir den Wes­ten vor unse­ren Augen zer­fal­len, und es sind ver­schie­de­ne Lager ent­stan­den, die sich gegen­sei­tig als »Nazis« und »Woke« beschimp­fen und die Pest an den Hals wün­schen. In die­sem Kon­text sind die neu­en Sprach­re­geln weni­ger eine prak­tisch ver­wend­ba­re Kom­mu­ni­ka­ti­ons­form als ein Shib­bo­leth, durch des­sen Ver­wen­dung man zu erken­nen gibt, zu wel­cher Grup­pe man gehört.

In die­ser Hin­sicht ist wohl auch das um sich grei­fen­de Gen­dern in den Medi­en zu ver­ste­hen: Man zeigt unüber­hör­bar, dass man einer von den Guten ist – ganz wie frü­her die bigot­ten Bür­gers­frau­en, die dar­um wett­ei­fer­ten, ihre Mild­tä­tig­kei­ten so öffent­lich wie mög­lich dar­zu­bie­ten. Und auch für das Geschäft ist es nicht schlecht, denn da die post­mo­der­ne Lin­ke nicht mehr die Inter­es­sen der Arbei­ter ver­tritt, ist es für die inter­na­tio­nal agie­ren­den Kon­zer­ne eine offen­bar unwi­der­steh­li­che Ver­su­chung, sich die Posi­tio­nen des Neu­en Kon­sen­ses zu eigen zu machen, denn a) ver­kauft sich Moral immer gut und b) hat man damit wie durch Zau­ber­hand ein neu­es Dis­zi­pli­nie­rungs­in­stru­ment in der Hand, mit dem man sein Per­so­nal in Angst und Schre­cken ver­set­zen kann. Arbei­ter sind, glau­ben Sie’s einem Arbei­ter­sohn, in der Regel das, was man heu­te »sozi­al kon­ser­va­tiv« nennt und damit vom Par­al­lel­uni­ver­sum aus schwer erreich­bar. Umso bes­ser für die Bos­se, wenn ihre Beleg­schaft des­we­gen stets in Gefahr schwebt, gegen die neu­en, alle Geschlech­ter und Iden­ti­tä­ten mit­neh­men­den Fir­men­richt­li­ni­en zu ver­sto­ßen … Auf Dau­er wird das kei­ne beson­ders posi­ti­ven Aus­wir­kun­gen auf die Pro­duk­ti­vi­tät haben, aber das war im real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus auch nicht anders, und es hat nur dazu geführt, dass die dort ton­an­ge­ben­den Füh­rungs­schich­ten mit noch mehr Elan wei­ter gegen die glei­che Wand gelau­fen sind. Und wie die natur­wis­sen­schaft­li­che Kom­pe­tenz zukünf­ti­ger Phy­si­ker sich ent­wi­ckelt, wenn sie einen Teil ihres Stu­di­ums dar­auf ver­schwen­den müs­sen, über die ras­sis­ti­schen Impli­ka­tio­nen des Begrif­fes »Schwar­zes Loch« zu sin­nie­ren (ich erspa­re mir den Link, Sie haben sicher davon gehört), wer­den wir auch erst in zwan­zig Jah­ren wis­sen. Aber dann, wenn Sie mir das Wort­spiel ver­zei­hen, wer­den mit Sicher­heit längst ganz ande­re Säue durchs Dorf getrieben.

Man ver­gleicht unse­re Zeit ja ger­ne mit wahl­wei­se dem unter­ge­hen­den Römi­schen Reich oder dem Ende der Römi­schen Repu­blik; ich füh­le mich eher an die Kin­der­bri­ga­den Savo­na­ro­las und die Zeit zwi­schen Refor­ma­ti­on und Drei­ßig­jäh­ri­gem Krieg erin­nert. Die alten Links­li­be­ra­len spie­len die Rol­le von Luthe­ra­nern und Cal­vi­nis­ten, die zunächst erfolg­reich den Weg zur Macht fan­den, dann aber einer­seits von der katho­li­schen Reak­ti­on, ande­rer­seits von Wie­der­täu­fern, Puri­ta­nern und Rosen­kreu­zern her­aus­ge­for­dert wur­den, denen die Refor­ma­ti­on noch nicht refor­miert genug war. Wer deren Rol­le heu­te spielt, brau­che ich wohl nicht zu erläu­tern. Sor­gen berei­tet mir außer­dem das jet­zi­ge Pen­dant zur katho­li­schen Kir­che, denn wäh­rend die­se damals noch auf die Jesui­ten zurück­grei­fen und sich selbst einer gründ­li­chen Reform unter­zie­hen konn­te, sind die heu­ti­gen Kon­ser­va­ti­ven – von Ein­zel­kämp­fern wie Roger Scrut­on ein­mal abge­se­hen – in einem intel­lek­tu­ell der­art jäm­mer­li­chen Zustand, dass aus die­ser Rich­tung kei­ne grö­ße­ren Impul­se zu erwar­ten sind.

Die meis­ten von ihnen glau­ben wahr­schein­lich immer noch an die gott­ge­ge­be­nen »Din­ge an sich« und trau­en sich nur nicht mehr, das auch öffent­lich zu ver­tre­ten. Wie wir gese­hen haben, ist das auch gar nicht das Pro­blem, son­dern viel­mehr, dass die neu­en Sprach­re­ge­lun­gen eine sinn­vol­le Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­hin­dern. Die Libe­ra­len hin­ge­gen sind lan­ge der Selbst­täu­schung erle­gen, das Gan­ze als Blöd­sinn abzu­tun, der sich dem­nächst auf­grund sei­ner offen­kun­di­gen Irr­sin­nig­keit von allei­ne erle­di­gen wird – ein Feh­ler, des­sen ich mich wie oben schon ange­deu­tet auch selbst bezich­ti­gen muss. Lei­der wis­sen wir aus der Geschich­te, dass auch offen­kun­di­ger Irr­sinn manch­mal ziem­lich lan­ge braucht, um wie­der aus den Köp­fen der Men­schen zu ver­schwin­den. Die euro­päi­schen Kon­fes­si­ons­krie­ge des 16. und 17. Jahr­hun­derts sind im Grun­de erst seit ein paar Jahr­zehn­ten vor­bei, genau­er gesagt, seit­dem gemischt kon­fes­sio­nel­le Ehen kein grö­ße­rer Stein des Ansto­ßes mehr sind. Und um die seit den Ende des 19. Jahr­hun­derts in vie­len Köp­fen spu­ken­de Inter­pre­ta­ti­on der Geschich­te als »Ras­sen­kampf« wie­der los­zu­wer­den, muss­te es erst einen Welt­krieg geben, in dem Impe­ri­en unter­gin­gen, Völ­ker ihre Frei­heit ver­lo­ren und ein gan­zer Kon­ti­nent in Schutt und Asche versank.

*

Kann man das noch ver­hin­dern? Ich weiß es nicht. Ich wer­de auch wei­ter­hin poli­tisch zwi­schen allen Stüh­len blei­ben, aber wenn es kei­ne gemein­sa­me, von allen geteil­te Rea­li­tät mehr gibt, auf deren Grund­la­ge eine poli­ti­sche Debat­te über­haupt erst mög­lich ist, bleibt mir nur noch die Rol­le des komi­schen Alten, der wei­ter sei­ne komi­sche alt­mo­di­sche Spra­che ver­wen­det und auch sonst irgend­wie nicht so ganz auf der Höhe der Zeit ist. Ganz ehr­lich – so alt füh­le ich mich noch gar nicht. Und die Schei­ße schwappt jeden Tag ein biss­chen höher an die Mau­ern mei­nes Elfen­bein­turms. Die Ras­sen­fra­ge ist offen­bar nicht tot­zu­krie­gen und wur­de gera­de wie­der in den Spiel­plan des Kas­per­le­thea­ters auf­ge­nom­men, aller­dings mit umge­kehr­tem Vor­zei­chen, sodass man als »Wei­ßer« jetzt zwar immer noch eine Son­der­rol­le spielt (Puh, Gott­sei­dank…), aber nun eben die­je­ni­ge, unheil­bar böse zu sein. Vie­le Ange­hö­ri­ge des Bil­dungs­bür­ger­tums haben auf die neu­en gesell­schaft­li­chen Zwän­ge reagiert wie mei­ne Vor­fah­ren auf das Ende der kol­lek­ti­ven Land­be­wirt­schaf­tung: sie haben sich ange­passt. Statt Schwei­ne zu hal­ten, sind sie aller­dings ins Par­al­lel­uni­ver­sum umge­zo­gen und akzep­tie­ren die dor­ti­ge Haus­ord­nung als neu­en Stan­dard, jen­seits des­sen nur noch die Welt des Kro­ko­dils war­tet. Ein Freund, der in der Ver­wal­tung einer Groß­stadt arbei­tet, berich­tet uns von Arbeits­kon­fe­ren­zen, in denen jeder der Teil­neh­mer pein­lich bemüht ist, ja kei­nen Gen­der-Schluck­auf zu ver­pas­sen. In den ers­ten Bun­des­län­dern wer­den Über­le­gun­gen ange­stellt, wie man auch im Grund­schul­un­ter­richt gegen­der­te Spra­che ein­füh­ren kann. Die Grü­nen for­dern in ihrem Wahl­pro­gramm eine »Ver­än­de­rung des Gesund­heits­sys­tems hin zu einer medi­zi­nisch-the­ra­peu­ti­schen Behand­lung und Betreu­ung [sic] die ohne geschlecht­li­che Deu­tung aus­kommt«. In den angel­säch­si­schen Län­dern, uns wie immer um ein paar Nasen­län­gen vor­aus, kann man sich mit­un­ter schon straf­bar machen, wenn man das gefühl­te Geschlecht eines ande­ren nicht durch die kor­rek­te Anre­de hono­riert, und Pro­mi­nen­te, die öffent­lich bekun­den, an der her­kömm­li­chen Bedeu­tung der Wör­ter »Mann« und »Frau« fest­hal­ten zu wol­len, sind über Nacht kei­ne Pro­mi­nen­ten mehr. In ein paar Jah­ren wird man schief ange­guckt wer­den, wenn man noch Deutsch redet und schreibt, wie man es gewohnt ist, und die Jün­ge­ren wer­den ori­en­tie­rungs­los zwi­schen den Trüm­mern einer halb abge­räum­ten Tra­di­ti­on, einer in der Öffent­lich­keit erfor­der­li­chen Unspra­che und dem gewöhn­li­chen »Zuhau­se-Deutsch« hin und her irren. Und da fra­gen Sie sich wirk­lich, war­um ich Angst habe, mei­ne Spra­che zu verlieren?

Die Chan­ce, die­se Ent­wick­lun­gen wie­der rück­gän­gig zu machen, sind wohl kurz­fris­tig eher gering. Ich ver­ra­te Ihnen wahr­schein­lich nichts Neu­es, wenn ich Ihnen die trau­ri­ge Mit­tei­lung mache, dass in der indus­tria­li­sier­ten Land­wirt­schaft von heu­te nicht ein­mal mehr die Bau­ern­kin­der zusam­men mit Nutz­tie­ren auf­wach­sen. Und ihre Müt­ter haben auch kei­ne Bau­ern­gär­ten mehr, in denen sie ler­nen könn­ten, dass der Anbau von Nah­rungs­mit­teln eine ziem­lich anstren­gen­de und not­wen­di­ger­wei­se gegen die Natur gerich­te­te Arbeit ist. Statt­des­sen sit­zen lau­ter ver­wirr­te Zwan­zig­jäh­ri­ge vor einer Kame­ra und strea­men ihre Idee von sich selbst in die Welt hin­aus. Im Grun­de bräuch­te es einen ver­bind­li­chen »Rea­li­täts­dienst« für alle, ein unfrei­wil­li­ges öko­lo­gisch-sozi­al-mili­tä­ri­sches Jahr, das sämt­li­che Geschlech­ter damit ver­brin­gen müss­ten, beim Bio­bau­ern Unkraut zu hacken, Bett­lä­ge­ri­gen im Alten­heim die Win­deln zu wech­seln oder für das Vater­land im Schlamm der Lüne­bur­ger Hei­de her­um­zu­krie­chen. Ich habe jetzt nicht nach­ge­schaut, aber wahr­schein­lich for­dert mal wie­der nur die AfD so etwas, und wenn das Kro­ko­dil irgend­et­was for­dert, ist es selbst­ver­ständ­lich höchst ver­dam­mens­wür­dig und kommt nicht mal in die Nähe einer ernst­haf­ten Dis­kus­si­on. Dabei ist die Spra­che nicht der ein­zi­ge Bereich, in denen unse­re herr­schen­den Schich­ten den Kon­takt zur Rea­li­tät ver­lo­ren haben. In Afgha­ni­stan ver­sinkt gera­de der jüngs­te Ver­such des Wes­tens, eine libe­ra­le Demo­kra­tie aus der Retor­te zu schaf­fen, im Cha­os und der erneu­ten Macht­über­nah­me des reli­giö­sen Obsku­ran­tis­mus. Und wäh­rend wir uns hier um Drag­queens im Kin­der­gar­ten strei­ten, hän­gen wir bei der Pro­duk­ti­on kri­tisch wich­ti­ger tech­ni­scher Infra­struk­tur mitt­ler­wei­le der­art heil­los von Chi­na ab, dass wir uns gar nicht mehr trau­en dür­fen, dort noch groß wegen Men­schen­rechts­fra­gen auf­zu­trump­fen. Wir hät­ten ein wenig Rea­li­täts­sinn bit­ter nötig.