Die 3. Generation der RAF und ihre Helfer

Es ist nun schon über drei Jahr­zehn­te her, und immer noch weiß nie­mand, wer Alfred Herr­hau­sen auf dem Gewis­sen hat. Nie­mand außer den Tätern selbst natür­lich, aber die Mit­glie­der der »Roten Armee Frak­ti­on«, die man gefasst und vor Gericht gebracht hat, schwei­gen nach all den Jah­ren wei­ter­hin hart­nä­ckig über das Gesche­he­ne, und alle Auf­klä­rungs­ver­su­che sind irgend­wann im Sand ver­lau­fen. Dies führ­te schon weni­ge Jah­re nach der Tat zu Spe­ku­la­tio­nen – im Jahr 1992 sahen die Jour­na­lis­ten Ger­hard Wis­new­ski, Wolf­gang Land­gra­eber und Ekke­hard Sie­ker ange­sichts der lücken­haft erschei­nen­den offi­zi­el­len Dar­stel­lung des Tat­her­gangs und wei­te­rer Indi­zi­en eine Ver­schwö­rung am Werk, der sie den Namen »Das RAF-Phan­tom« gaben. Ihre Hypo­the­se: Die »3. Genera­ti­on« der Ter­ro­ris­ten­grup­pe sei in Wirk­lich­keit eine Erfin­dung, gegrün­det und gesteu­ert von Geheim­diens­ten, um unlieb­sa­me Poli­ti­ker oder Wirt­schafts­bos­se aus dem Weg zu räu­men und die öffent­li­che Mei­nung zu beein­flus­sen. Das gleich­na­mi­ge Buch erleb­te eini­ge Auf­la­gen und erfreu­te sich nicht nur unter Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­kern einer gewis­sen Beliebt­heit, die 1993 noch ver­stärkt wur­de, als allem Anschein nach das flüch­ti­ge RAF-Mit­glied Wolf­gang Grams auf dem Bahn­hof von Bad Klei­nen wäh­rend eines GSG9-Ein­sat­zes vor­sätz­lich liqui­diert wur­de. Auch die Tat­sa­che, das der wegen des Herr­hau­sen-Anschlags gesuch­te Chris­toph Seid­ler 1995 plötz­lich aus sei­nem selbst­ge­wähl­ten Liba­non-Exil wie­der auf­tauch­te und offen­bar gar nicht zur Kom­man­do­ebe­ne der RAF gehört hat­te, schien ins Bild zu passen.

Ich gebe zu, eine Zeit­lang fand auch ich selbst die The­sen des Autoren­tri­os zumin­dest nicht völ­lig abwe­gig. Das hat­te mit mei­nen dama­li­gen Lebens­um­stän­den zu tun – ich been­de­te gera­de mein Stu­di­um und lern­te durch eine Ver­ket­tung nicht wei­ter erwäh­nens­wer­ter Zufäl­le ein paar Leu­te von der Münch­ner Film­hoch­schu­le ken­nen, die einen Dreh­buch­au­tor such­ten, mit dem sie his­to­ri­sche und poli­ti­sche Stof­fe umset­zen konn­ten. Einer davon drück­te mir das »RAF-Phan­tom« in die Hand und bot mir an, gemein­sam ein Dreh­buch zu ent­wi­ckeln, das auf der dar­in ent­wi­ckel­ten Ver­schwö­rungs­theo­rie basie­ren soll­te. In die­sem Moment über­nahm der Fabu­lie­rer in mir das Kom­man­do, und der His­to­ri­ker muss­te erst ein­mal zurück­ste­hen. Was für eine Geschichte …!

Ein paar Jah­re spä­ter wur­de tat­säch­lich ein TV-Movie dar­aus, das die Vor­stel­lung eines geheim­dienst­ge­steu­er­ten »RAF-Phan­toms«, so den­ke ich, eini­ger­ma­ßen kor­rekt wie­der­gibt. Ich muss aller­dings geste­hen, dass ich selbst im Ver­lauf der Recher­che lang­sam, aber sicher den Glau­ben dar­an ver­lo­ren hat­te. Wenn die »Drit­te Genera­ti­on« nur eine Geheim­diens­t­er­fin­dung war, wer war dann Bir­git Hoge­feld? Oder Eva Hau­le? Und war­um lie­ßen sich die bei­den für Taten ver­ur­tei­len, die doch dem Buch zufol­ge irgend­wel­che »Gladio«-Untergrundkämpfer began­gen haben soll­ten? Auch ein Tref­fen mit einem der Autoren ver­tief­te eher mein Miss­trau­en, als dass es Zwei­fel besei­tig­te. Nach­dem der Film erschie­nen war, ver­lor ich das Inter­es­se an der Ange­le­gen­heit, wand­te mich der Arbeit an mei­nem Roman »Wolfs­stadt« zu und ließ die RAF in Ruhe.

Die Untoten kehren zurück

Lei­der galt dies nicht umge­kehrt. Anfang 2016 starr­te mich das angeb­li­che Phan­tom plötz­lich ohne jede Vor­war­nung aus der Lokal­zei­tung an, denn der Geld­trans­por­ter-Raub, bei dem DNA-Spu­ren der letz­ten flüch­ti­gen RAF-Ter­ro­ris­ten gefun­den wur­den, fand nur unweit mei­nes jet­zi­gen Wohn­orts statt. Wenn ich mei­ne täg­li­che Hun­de­run­de mache, sehe ich die Sil­hou­et­te der Klein­stadt, deren Staats­an­walt­schaft sich mit dem Fall befasst. Und wenn man alle Über­fäl­le, die dem Trio zuge­ord­net wer­den, auf einer Kar­te ein­trägt, lässt sich der Ein­druck nicht ganz ver­mei­den, das ich exakt in der Mit­te des Spin­nen­net­zes lebe, das die Ter­ror-Rent­ner seit 2011 gewebt haben. Sind die hier etwa irgend­wo unter­ge­taucht …? Ich konn­te nicht anders, ich muss­te wie­der an das The­ma her­an. Viel­leicht wür­de ich am Ende doch noch die rich­ti­ge Geschich­te der RAF in den Acht­zi­gern erzäh­len kön­nen, mit neu­en Infor­ma­tio­nen und völ­lig unge­hin­dert von Regis­seu­ren, Pro­du­zen­ten oder Fern­seh­re­dak­teu­ren, mit deren Vor­stel­lun­gen man sich als Autor bei einem Film­pro­jekt nun ein­mal her­um­schla­gen muss.

Der Kurs war also gesetzt. Lei­der stell­te sich rela­tiv schnell her­aus, dass die Fak­ten­la­ge sich seit mei­nen dama­li­gen Recher­chen nicht son­der­lich ver­bes­sert hat­te. Hoge­feld und Hau­le haben sich öffent­lich zum »RAF-Phan­tom« geäu­ßert und die The­se mit deut­li­chen Wor­ten als »Unsinn«1 bzw. »schwach­sin­nig«2 abge­tan. Der Tat­her­gang beim Herr­hau­sen-Atten­tat, der sei­ner­zeit aus ermitt­lungs­tak­ti­schen Grün­den nicht völ­lig öffent­lich gemacht wor­den war, ist mitt­ler­wei­le bes­ser bekannt und ent­hält wesent­lich weni­ger Lücken, als Wis­new­ski et al. sei­ner­zeit zu ent­de­cken glaub­ten. Auch der Kom­plex »Bad Klei­nen« hat sich jüngst, da die Vor­ge­hens­wei­se des dama­li­gen SPIE­GEL-Repor­ters Hans Ley­en­de­cker bekannt gewor­den ist, mehr oder weni­ger in Luft aufgelöst.

Es bleibt die Fra­ge, war­um die Ter­ro­ris­ten in den Acht­zi­gern wesent­lich geräusch­lo­ser agie­ren konn­ten als ihre Vor­gän­ger. Auch eini­ge Tat­um­stän­de sind wei­ter­hin mys­te­ri­ös: Wie kann es sein, dass die Fake-Bau­stel­le, mit der die Spreng­fal­le vor­be­rei­tet wur­de, nicht über­prüft wur­de, obwohl dies im »Fahn­dungs­kon­zept 106« gefor­dert wur­de? War­um fuhr das ers­te Begleit­fahr­zeug so unge­wöhn­lich weit vor­aus? Wie war es den tech­nisch wohl eher unbe­darf­ten Ter­ro­ris­ten mög­lich, eine der­art kom­pli­zier­te Spreng­vor­rich­tung her­zu­stel­len? Wel­che Rol­le spiel­te der zwie­lich­ti­ge Sieg­fried Non­ne? Und – über das Herr­hau­sen-Atten­tat hin­aus – war­um gelang­ten eini­ge Beob­ach­ter des neu­er­li­chen Pro­zes­ses gegen das ehe­ma­li­ge RAF-Mit­glied Vere­na Becker, die zumin­dest zeit­wei­se als Infor­man­tin des Ver­fas­sungs­schut­zes tätig gewe­sen war, zu der Auf­fas­sung, hier habe »der Staat die Ange­klag­te ver­tei­digt«3?

Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung

Auf die Fra­ge nach der Bom­be immer­hin gibt es mitt­ler­wei­le eini­ge Ant­wor­ten. Der TV-Jour­na­list Egmont Koch recher­chier­te in einer 2014 ent­stan­de­nen Doku­men­ta­ti­on erst­mals näher die Tech­nik, die von der RAF in ihrem Beken­ner­schrei­ben als »Hohl­la­dungs­mi­ne« bezeich­net wor­den war. Tech­nisch gese­hen war das nicht ganz rich­tig, in Wirk­lich­keit han­del­te es sich um eine als »pro­jek­til­bil­den­de Ladung« (EFP, Explo­si­ve­ly For­med Pene­tra­tor) bezeich­ne­te spe­zi­el­le Art von Hohl­la­dung, bei der eine kon­kav geform­te Kup­fer­schei­be durch einen Spreng­satz aus einem Metall­topf her­aus­ge­schleu­dert und im Flug zu einem Pro­jek­til ver­formt wird. Wie Koch her­aus­fand, wur­de der liba­ne­si­sche Prä­si­dent René Moawad im Novem­ber 1989 mit einer gleich­ar­ti­gen Bom­be getö­tet, und wäh­rend der US-Beset­zung des Irak set­zen Auf­stän­di­sche ab 2004 die­sen Typ von Spreng­fal­len ein, um gepan­zer­te ame­ri­ka­ni­sche Fahr­zeu­ge zu zer­stö­ren. Medi­en­be­rich­ten zufol­ge geschah dies jeweils im Umfeld der schii­ti­schen, vom Iran finan­zier­ten His­bol­lah-Miliz. Spä­ter nutz­ten auch die Tali­ban in Afgha­ni­stan die Technik.

Über ihren Ursprung gibt es ver­schie­de­ne Theo­rien. Der ehe­ma­li­ge CIA-Agent Robert Baer behaup­tet in dem Buch, das in Kochs TV-Doku erwähnt wird4, die Ame­ri­ka­ner selbst hät­ten damit die afgha­ni­schen Mud­scha­hed­din im Kampf gegen die sowje­ti­schen Besat­zer aus­ge­rüs­tet. Von Afgha­ni­stan aus hät­ten sich die EFP in den Iran und wei­ter zur His­bol­lah ver­brei­tet. Dies wider­spricht zum einen den vor­ste­hend ange­führ­ten Medi­en­be­rich­ten, zum ande­ren gibt es auch eine wesent­lich ein­fa­che­re Erklä­rung: Wenn man die Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Hohl­la­dung wei­ter zurück­ver­folgt (zum Bei­spiel hier, hier oder hier), fin­det man rela­tiv schnell her­aus, dass die­se Tech­nik schon ab 1946 auch dazu ver­wen­det wur­de, die Bohr­loch­aus­klei­dung und das Gestein am unte­ren Ende von Ölboh­run­gen durch­läs­sig zu machen. Die Idee, auf die­ser Grund­la­ge wie­der­um ein­fa­che pan­zer­bre­chen­de Spreng­fal­len her­zu­stel­len, kann also auch unab­hän­gig von ame­ri­ka­ni­schen Ein­flüs­sen in einem Land auf­ge­kom­men sein, das über eine funk­tio­nie­ren­de ein­hei­mi­sche Ölin­dus­trie, das ent­spre­chen­de tech­ni­sche Know-how und gut aus­ge­bil­de­te Waf­fen­tech­ni­ker ver­fügt. Letz­te­re benö­tigt man, um durch Ver­su­che die opti­ma­le Form und Bau­art der Hohl­la­dung her­aus­zu­fin­den, denn nicht jede davon führt zu der gewünsch­ten Pro­jek­til­wir­kung. Nach Lage der Din­ge trifft dies im Nahen Osten vor allem auf den Iran zu (hier etwa die ent­spre­chen­de Bohr­loch-Tech­no­lo­gie bei Well Ser­vices of Iran).

Koch gibt in sei­ner Doku­men­ta­ti­on auch ers­te Ein­bli­cke in ein Netz­werk aus radi­ka­len Paläs­ti­nen­ser-Grup­pen und ihren euro­päi­schen Unter­stüt­zern, mit deren Hil­fe die Spreng­fal­le für das Herr­hau­sen-Atten­tat nach Deutsch­land gelangt sein könn­te. Eini­ge der Hand­gra­na­ten, die von der däni­schen »Ble­kin­ge­ga­de-Ban­de« aus einem schwe­di­schen Mili­tär-Arse­nal gestoh­len wor­den waren und angeb­lich an die PFLP gehen soll­ten, wur­den 1988 im Zusam­men­hang mit einem geschei­ter­ten ter­ro­ris­ti­schen Angriff auf eine US-Mili­tär­ba­sis im spa­ni­schen Rota gefun­den. Bei einem Anschlag auf ein Café für US-Mari­ne­an­ge­hö­ri­ge in Bar­ce­lo­na im Jahr davor hat­te man die­sen Waf­fen­typ eben­falls ver­wen­det. Den Anschlags­ver­such in Rota gab spä­ter Andrea Klump zu, nach der man jah­re­lang als RAF-Mit­glied gefahn­det hat­te, was sich aber vor Gericht nicht bewei­sen ließ.

Fluchtpunkt Damaskus

Die frü­he­re Völ­ker­kun­de-Stu­den­tin und ihr Lebens­ge­fähr­te Horst Lud­wig Mey­er wur­den 1999 von der öster­rei­chi­schen Poli­zei in Wien gestellt, Mey­er kam bei dem Schuss­wech­sel ums Leben. In ihren Aus­sa­gen stell­te die Ange­klag­te sich spä­ter als unwis­sen­des »Ter­ro­ris­ten-Heim­chen« dar, die ihrem Mann den Haus­halt geführt habe, wäh­rend die­ser einen Anschlag auf rus­sisch-jüdi­sche Aus­wan­de­rer in Ungarn vor­be­rei­te­te. Sie gab außer­dem an, 1987 zusam­men mit Chris­toph Seid­ler, Horst Lud­wig Mey­er, Bar­ba­ra Mey­er und Tho­mas Simon, die damals eben­falls im Ver­dacht stan­den, der RAF anzu­ge­hö­ren, in den Liba­non gegan­gen zu sein.

Unter den genann­ten Namen fällt Tho­mas Simon auf, des­sen Fall wenig Beach­tung in den Medi­en gefun­den hat. Ähn­lich wie Seid­ler kam er Ende der 1990er mit Hil­fe des Ver­fas­sungs­schutz­be­am­ten »Hans Benz« aus dem Nahen Osten wie­der nach Hau­se, aber offen­bar sprach damals ledig­lich die jung­le world mit ihm und berich­tete dar­über 1999. Simon wird dort mit einem Satz zitiert, in dem sein »tür­ki­scher Freund Marc Rudin« vor­kommt, der in einem tür­ki­schen Gefäng­nis geses­sen habe. Dies ist offen­sicht­lich ein Feh­ler der Redak­ti­on, denn Rudin ist Schwei­zer. Er hat­te sich bereits 1979 nach einem Spreng­stoff­an­schlag in den Liba­non abge­setzt und der PFLP ange­schlos­sen, bei der er als »Dschi­had Man­sur« für den Ent­wurf von Pro­pa­gan­da­pla­ka­ten und das Lay­out der PFLP-Zei­tung Al Had­af zustän­dig war. Ende der 1980er traf der Jour­na­list und dama­li­ge BND-Agent Wil­helm Dietl, der Gerüch­ten von einer unter­ge­tauch­ten deut­schen Ter­ro­ris­tin nach­ging, nach eige­nen Anga­ben in einer Woh­nung in Damas­kus in der Nähe der Zei­tungs­re­dak­ti­on zufäl­lig auf Rudin, der aber sofort das Wei­te such­te5. Um die­se Zeit war der Schwei­zer offen­bar auch in Euro­pa aktiv, denn er unter­stütz­te die Ble­kin­ge­ga­de-Ban­de im Herbst 1988 bei einem Post­raub in Kopen­ha­gen, der mit einer Schie­ße­rei und dem Tod eines Poli­zei­be­am­ten ende­te6.

Damas­kus war damals das Haupt­quar­tier vie­ler paläs­ti­nen­si­scher Orga­ni­sa­tio­nen, die Ara­fats tak­tie­ren­der Hal­tung nicht fol­gen woll­ten und einen von Liby­en, Syri­en und dem Irak unter­stütz­ten kom­pro­miss­lo­sen Anti-Isra­el-Kurs bei­be­hiel­ten. Ähn­lich wie die PLO hat­ten die PFLP und deren Abspal­tun­gen DFLP, PPSF oder PFLP-GC sowie wei­te­re klei­ne­re Orga­ni­sa­tio­nen nach dem israe­li­schen Ein­marsch in den Liba­non 1982 das Land ver­las­sen müs­sen, sich aber anders als die paläs­ti­nen­si­sche Dach­or­ga­ni­sa­ti­on, deren Füh­rung ins tune­si­sche Exil flüch­te­te, in das öst­li­che Nach­bar­land geret­tet. Dadurch waren sie Mit­te und Ende der 1980er in der Lage, ihre Posi­tio­nen in der syrisch kon­trol­lier­ten Bekaa-Ebe­ne teil­wei­se zurück­zu­ge­win­nen und im Ver­lauf des »Kriegs der Lager« gegen Ara­fat-treue Mili­zen sogar noch auszubauen.

Die andere PFLP

Der Weg der PFLP-GCGC« steht für »Gene­ral Com­mand«) hat­te die­se Split­ter­grup­pe bereits 1967/68 von der mar­xis­tisch-leni­nis­tisch ori­en­tier­ten Mut­ter­or­ga­ni­sa­ti­on weg­ge­führt, und anders als die­se war sie 1974 im Streit mit Ara­fat aus der PLO aus­ge­tre­ten. Sie begab sich dar­auf­hin in die Schirm­herr­schaft Syri­ens und kämpft noch heu­te an der Sei­te des Assad-Clans im dor­ti­gen Bür­ger­krieg. Ihr Gene­ral­se­kre­tär, Ach­med Dschi­bril, ist in der Nähe Jaf­fas gebo­ren und in Syri­en auf­ge­wach­sen, wo er es vor sei­ner Betei­li­gung am paläs­ti­nen­si­schen Kampf gegen Isra­el zum Haupt­mann der Armee brach­te. Ein sel­te­nes Lebens­zei­chen gab er letz­tes Jahr in einer Face­book-Audio­nach­richt, in der er sich dem Ver­neh­men nach zu Pla­nungs­fra­gen im Flücht­lings­la­ger Jar­muk äußer­te, wo die PFLP-GC im Al‑K­ha­li­sa-Gebäu­de­kom­plex ihr Haupt­quar­tier hat. Das Lager, mitt­ler­wei­le eher ein Vor­ort von Damas­kus, geriet wäh­rend des Bür­ger­kriegs 2015 unter die Kon­trol­le des Isla­mi­schen Staats, sodass die Füh­rung des Gene­ral­kom­man­dos flie­hen muss­te und erst 2018 nach der Rück­erobe­rung durch Regie­rungs­trup­pen wie­der zurück­keh­ren konnte.

Der Spie­gel schätz­te die Stär­ke der PFLP-GC im Jahr 1993 auf unge­fähr 300 Kämp­fer, für die PFLP selbst wur­den 2000 ver­an­schlagt7. Trotz­dem wäre die Split­ter­grup­pe damals in man­cher­lei Hin­sicht wesent­lich bes­ser als die Mut­ter­or­ga­ni­sa­ti­on in der Lage gewe­sen, eine Spreng­vor­rich­tung ira­ni­scher Her­kunft auf klan­des­ti­nen Wegen Ende der 1980er nach Euro­pa zu brin­gen. Dies erklärt sich zum einen aus der auf­fäl­lig gro­ßen Nähe der Orga­ni­sa­ti­on zur His­bol­lah, die bereits 1985 ers­te Früch­te trug, als dem Gene­ral­kom­man­do als ein­zi­ger Paläs­ti­nen­ser­grup­pe von den Schii­ten erlaubt wur­de, die Stel­lun­gen im Süden Liba­nons wie­der ein­zu­neh­men, die es vor der israe­li­schen Inva­si­on inne­ge­habt hat­te8. Die Zusam­men­ar­beit blieb über die Jah­re bestehen, so nah­men bei­de Orga­ni­sa­tio­nen im Okto­ber 1991 an der »Inter­na­tio­nal Con­fe­rence to Sup­port the Isla­mic Revo­lu­ti­on of Pales­ti­ne« in Tehe­ran teil, führ­ten 1993 gemein­sa­me Angrif­fe auf Isra­el durch9 und schmug­gel­ten Anfang der 2000er zusam­men Waf­fen nach Gaza (sie­he auch hier).

Zum ande­ren betrieb das Gene­ral­kom­man­do in den 1980ern vom Liba­non aus nach Grie­chen­land und von dort wei­ter über den Bal­kan eine Schmug­gel­rou­te, über die Waf­fen und Spreng­stoff nach West­eu­ro­pa gelang­ten. Zweck der Ope­ra­ti­on waren offen­bar Anschlä­ge gegen ame­ri­ka­ni­sche und israe­li­sche Zie­le in der BRD und West­ber­lin im Auf­trag Liby­ens oder des Iran, zur Aus­füh­rung kamen aller­dings ledig­lich zwei Spreng­stoff­at­ten­ta­te auf US-Mili­tär­zü­ge 1987 und 1988 in der Nähe des nie­der­säch­si­schen Hede­mün­den. Als die Grup­pe 1988 den jor­da­ni­schen Spreng­stoff­ex­per­ten Mar­wan Khree­sat anheu­er­te, der bereits Anfang der 1970er für die PFLP-GC Bom­ben mit baro­me­tri­schen Aus­lö­sern gebaut hat­te, um Pas­sa­gier­flug­zeu­ge wäh­rend des Flugs in die Luft zu spren­gen, geriet sie ins Visier des BKA und wur­de in der soge­nann­ten »Ope­ra­ti­on Herbst­laub« von den deut­schen Behör­den aus­ge­ho­ben. Behaup­te­ten die­se zunächst, die Akti­on sei allein auf einen Hin­weis des Mos­sad und ihre eige­nen Ermitt­lun­gen zurück­zu­füh­ren10, kam spä­ter her­aus, dass Khree­sat sofort nach der Kon­takt­auf­nah­me durch die Ter­ro­ris­ten­grup­pe den jor­da­ni­schen Geheim­dienst und die­ser dar­auf­hin den BND infor­miert hat­te11.

Die mög­li­che Rol­le des Gene­ral­kom­man­dos bei der Pla­nung und Aus­füh­rung des Anschla­ges auf den Flug Pan Am 103 soll hier nicht näher behan­delt wer­den, aber im Ver­lauf des Locker­bie-Pro­zes­ses erhielt das Gericht im Jahr 2000 ein Schrift­stück, das der Resi­dent der Grup­pe in Jugo­sla­wi­en, Mob­di Goben, kurz vor sei­nem Tod 1996 im nor­we­gi­schen Asyl dik­tiert hat­te12. In die­sem als »Goben-Memo­ran­dum« bekannt gewor­de­nen Papier skiz­ziert der Paläs­ti­nen­ser, der zum Stu­di­um nach Jugo­sla­wi­en gekom­men war, die Ent­ste­hung der Schmug­gel­rou­te über den Bal­kan, nennt die Namen eini­ger Betei­lig­ter und geht kurz auf ein­zel­ne Aktio­nen ein, die nichts mit Locker­bie zu tun hat­ten; die Anga­ben sind also durch­aus glaub­wür­dig. Geschmug­gelt wor­den sei­en rus­si­sches Dyna­mit, schwe­re Mör­ser­gra­na­ten, Kalasch­ni­kows und sogar Lenk- bzw. Flug­ab­wehr­ra­ke­ten. Der Trans­port sei in eigens prä­pa­rier­ten Kfz per Fäh­re zum grie­chi­schen Hafen Salo­ni­ki erfolgt, dann wei­ter zu Gobens Wohn­ort Kruše­vac, von dort schließ­lich durch einen gewis­sen Mas­soud (ande­rer Name: Nidal Abboud) und den Deutsch-Paläs­ti­nen­ser Mar­tin K. per Kfz oder Zug nach West­deutsch­land. Der Waf­fen­schmug­gel geschah offen­bar unter den Augen der jugo­sla­wi­schen Poli­zei, die laut Goben auch 1988 ein Tref­fen in Bel­grad abhielt, an dem Dschi­bril und der liby­sche Mili­tär­at­ta­ché Jumaa teil­nah­men. Hier soll der Gene­ral­kom­man­do-Chef damit geprahlt haben, durch Goben »alle Befrei­ungs­or­ga­ni­sa­tio­nen welt­weit mit Waf­fen zu ver­sor­gen«. Die Kon­tak­te zu die­sen Orga­ni­sa­tio­nen soll der erwähn­te Mas­soud gehal­ten haben, der einen Wohn­sitz in Spa­ni­en gehabt habe13.

Von beson­de­rem Inter­es­se sind eini­ge Aus­sa­gen Gobens, die ein Zusam­men­wir­ken mit ande­ren Paläs­ti­nen­ser­grup­pen bele­gen: Schon der ers­te Auf­trag 1986 sei im Auf­trag der PFLP-Mut­ter­or­ga­ni­sa­ti­on erfolgt, die Goben meh­re­re Pis­to­len und 5 Kilo Dyna­mit zum Wei­ter­trans­port über­ge­ben habe. Auch Ange­hö­ri­ge der Pales­ti­ni­an Libe­ra­ti­on Front (PLF) von Abu Abbas, die sich 1976 von der PFLP-GC abge­spal­ten hat­te, hät­ten des Öfte­ren sei­ne Diens­te in Anspruch genom­men. Dann erwähnt Goben einen Auf­trag im Som­mer 1988, bei dem er ein Maschi­nen­ge­wehr und 5 Kilo Spreng­stoff von Buda­pest nach Jugo­sla­wi­en schmug­geln soll­te, was aber nicht geklappt habe, weil der prä­pa­rier­te Hohl­raum des vor­ge­se­he­nen Mer­ce­des zu klein für die Waf­fe gewe­sen sei. Das End­ziel wird nicht genannt, aber Nutz­nie­ßer der Akti­on war auch hier­bei offen­bar nicht das Gene­ral­kom­man­do selbst, son­dern ein gewis­ser Abu Hana­fi, von dem Goben expli­zit angibt, er habe frü­her zu Wadi Had­dads Leu­ten gehört. Ver­mut­lich han­delt sich um den Ter­ro­ris­ten glei­chen Namens (auch: »Abu Han­na­feh«), der 1976 mit meh­re­ren ande­ren ver­geb­lich ver­sucht hat­te, in Enteb­be ein israe­li­sches Flug­zeug abzu­schie­ßen, und dann unter unge­klär­ten Umstän­den fest­ge­nom­men und nach Isra­el ver­bracht wur­de. Er muss durch den gro­ßen Gefan­ge­nen­aus­tausch 1985, bei dem die PFLP-GC drei gekid­napp­te israe­li­sche Sol­da­ten gegen über tau­send paläs­ti­nen­si­sche Gefan­ge­ne ver­schie­de­ner Grup­pie­run­gen aus­lös­te14, wie­der frei­ge­kom­men sein. Laut Goben hat­ten die ehe­ma­li­gen Mit­kämp­fer des wich­ti­gen RAF-Hel­fers Wadi Had­dad damals immer noch Agen­ten in Bel­grad und unter­hiel­ten »eine offe­ne Ver­bin­dung zu den Jugo­sla­wen«, womit wohl der Geheim­dienst oder die Bun­des­po­li­zei gemeint war. Ein Name für die Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tur wird von Goben nicht genannt, aber es könn­te sich um die Orga­ni­sa­ti­on des 15. Mai, die PFLP-SC oder die LARF gehan­delt haben, in denen sich die Über­res­te von Wadi Had­dads PFLP-EO gesam­melt hat­ten und von denen vor allem die LARF dadurch auf­fällt, dass sie enge Ver­bin­dun­gen zur Action Direc­te, den Roten Bri­ga­den und der His­bol­lah unter­hielt. Ein vom bri­ti­schen Eco­no­mist in den 1980ern her­aus­ge­ge­be­ner News­let­ter namens »For­eign Report« sagt der von dem Liba­ne­sen Geor­ge Ibra­him Abdal­lah gelei­te­ten Grup­pe sogar Ver­bin­dun­gen zum däni­schen »Kom­mu­nis­ti­sk Arbejds­kreds« nach, aus dem die Ble­kin­ge­ga­de-Ban­de her­vor­ging15.

Und noch etwas ist auf­fäl­lig: Wie eine Sta­si-Notiz von 1988 nahe­legt, ver­such­te Abu Hana­fi zu die­ser Zeit, das frü­he­re RAF-Mit­glied Moni­ka Haas zu töten, die er für eine Mos­sad-Agen­tin und die Ver­ant­wort­li­che für sei­ne Ergrei­fung hielt. Dafür erscheint ein Maschi­nen­ge­wehr etwas über­di­men­sio­niert, aber wie es der Zufall will, erfolg­te kurz nach der miss­glück­ten Schmug­gel­ak­ti­on in Buda­pest der eben­so miss­glück­te RAF-Mord­an­schlag auf den Staats­se­kre­tär im Finanz­mi­nis­te­ri­um Hans Tiet­mey­er, bei dem an Waf­fen­tech­nik nur eine (klem­men­de) Maschi­nen­pis­to­le und eine Schrot­flin­te zum Ein­satz kamen. Zudem nann­te sich das RAF-Kom­man­do, das die­se Akti­on aus­führ­te, aus­ge­rech­net nach dem PFLP-GC-Kämp­fer Kha­led Aker, der im Jahr zuvor bei einem mit Hil­fe von Dra­chen­flie­gern aus­ge­führ­ten ter­ro­ris­ti­schen Angriff auf Isra­el erschos­sen wor­den war. Es erscheint mit­hin nicht aus­ge­schlos­sen, dass das betref­fen­de Maschi­nen­ge­wehr bzw. der Spreng­stoff eigent­lich für den Tiet­mey­er-Anschlag vor­ge­se­hen war.

Wie der oben erwähn­te Wil­helm Dietl schreibt, ver­füg­te er in sei­ner Zeit als BND-Agent über eine Quel­le im Liba­non, deren Anga­ben zufol­ge sich Wolf­gang Grams im Okto­ber 1989 in einem Aus­bil­dungs­camp der PFLP-GC in Deir Zanoun in der Bekaa-Ebe­ne auf­hielt. Der RAF-Chef sei dann nach einem israe­li­schen Luft­an­griff in das Lager Jan­ta gewech­selt und schließ­lich im Janu­ar 1990 in das Lager Bre­tal in der Nähe Baal­beks wei­ter­ge­zo­gen16. Dietl konn­te die­se Anga­ben sei­ner­zeit nicht über­prü­fen, von daher ist ihr Wahr­heits­ge­halt unsi­cher. Nichts­des­to­trotz pas­sen sie in das Gesamt­bild, das eine Unter­stüt­zung der RAF durch ande­re Paläs­ti­nen­ser-Grup­pie­run­gen als die PFLP-Mut­ter­or­ga­ni­sa­ti­on plau­si­bel macht17.

Es ist aller­dings unwahr­schein­lich, dass auch die Herr­hau­sen-Bom­be über die Bal­kan-Schmug­gel­rou­te nach Deutsch­land gekom­men ist. Dreh- und Angel­punk­te des Gan­zen war Mob­di Gobens Haus in Kruše­vac, das sich nach dem Auf­flie­gen der west­deut­schen Zel­le in der »Ope­ra­ti­on Herbst­laub« nicht mehr hal­ten ließ, da die jugo­sla­wi­schen Behör­den um ihr inter­na­tio­na­les Anse­hen fürch­te­ten und der PFLP-GC ihre Unter­stüt­zung ent­zo­gen. Goben wur­de nach Damas­kus beor­dert und kehr­te nach eige­nen Anga­ben nur noch weni­ge Male für ein paar Tage nach Jugo­sla­wi­en zurück, bevor er schließ­lich in Nor­we­gen Asyl bean­trag­te. Es ist eben­falls unwahr­schein­lich, dass die RAF-Kom­man­do­ebe­ne bis zum Herbst 1988 wuss­te, dass es die oben beschrie­be­ne Bom­ben­tech­nik über­haupt gab. Im Juni die­ses Jah­res fan­den die ita­lie­ni­schen Behör­den in einer kon­spi­ra­ti­ven Woh­nung der Roten Bri­ga­den einen Brief, in dem die deut­schen Genos­sen noch vage nach »möglichkeiten/methoden zur pan­zer­bre­chung« frag­ten18. In dem betref­fen­den Abschnitt wird ein Anschlags­ver­such der IRA in Gibral­tar erwähnt, der im März 1988 statt­ge­fun­den hat­te, der Brief müss­te also aus dem April oder Mai jenes Jah­res stam­men. Da man dann im Som­mer ver­mut­lich mit den Pla­nun­gen für das Tiet­mey­er-Atten­tat beschäf­tigt war, dürf­te es bis zum Herbst oder Win­ter gedau­ert haben, bis man im Liba­non oder in Syri­en die EFP-Tech­nik kennenlernte.

Die Mauerspringer

Aber der Weg über den Bal­kan war nicht die ein­zi­ge Mög­lich­keit, wie die Bom­be nach ihrer Anfer­ti­gung im Liba­non nach Deutsch­land gelan­gen konn­te. Der Groß­teil der deut­schen PFLP-GC-Zel­le über­stand die »Ope­ra­ti­on Herbst­laub« rela­tiv unge­scho­ren – nach eini­gen Ver­hö­ren und Haus­durch­su­chun­gen kamen die meis­ten Mit­glie­der wie­der auf frei­en Fuß, nur die Anfüh­rer Hafez Kas­sem Dal­ka­mo­ni und Abdel Fattah Ghad­an­far wur­den wegen der Bom­ben­an­schlä­ge auf die US-Mili­tär­zü­ge schließ­lich zu mehr­jäh­ri­gen Haft­stra­fen verurteilt.

Völ­lig intakt blie­ben allem Anschein nach vor allem die Struk­tu­ren des Gene­ral­kom­man­dos in West-Ber­lin, die bei den Ermitt­lun­gen der deut­schen Behör­den nicht im Fokus gestan­den hat­ten. Der Ber­li­ner His­to­ri­ker Lutz Mae­ke ist in sei­nem umfang­rei­chen Werk über die Zusam­men­ar­beit der DDR mit der PLO19 auch auf ver­schie­de­ne Zel­len der paläs­ti­nen­si­schen Split­ter­grup­pen in Ber­lin ein­ge­gan­gen, deren Mit­glie­der im Ost- bzw. West­teil der Stadt stu­dier­ten oder (im Wes­ten) poli­ti­sches Asyl gefun­den hat­ten. Da die Sta­si in all die­sen Grup­pen IMs plat­ziert hat­te20, sind ihre dama­li­gen Akti­vi­tä­ten heu­te rela­tiv gut nach­voll­zieh­bar. Mae­ke kon­zen­triert sich dabei vor allem auf die Rol­le einer von der Sta­si als »Ori­ent« bezeich­ne­ten Grup­pie­rung von PFLP-GC-Mit­glie­dern, die zu Ara­fats Fatah über­ge­lau­fen waren und eigent­lich den syri­schen Bot­schaf­ter in Ost-Ber­lin ent­füh­ren soll­ten (was die Sta­si unter­band), spä­ter aber eine ent­schei­den­de Rol­le bei dem Bom­ben­an­schlag auf die West-Ber­li­ner Dis­ko­thek »La Bel­le« im Jahr 1986 spie­len soll­ten21.

Erwähnt wird dabei aller­dings auch einer der Hel­fers­hel­fer, die die Ori­ent-Zel­le für ihre Akti­vi­tä­ten in der Mau­er­stadt anheu­er­te, ein gewis­ser »M. al O.«, der eben­falls vom Gene­ral­kom­man­do zur Fatah gewech­selt war, im Janu­ar 1982 laut Sta­si-Anga­ben einen Spreng­stoff­an­schlag auf das israe­li­sche Restau­rant Mif­gash in Ber­lin-Wil­mers­dorf ver­übt hat­te und neben ver­schie­de­nen ande­ren Deck­na­men auch den des »Moham­med Toman« führ­te. Ein Paläs­ti­nen­ser die­ses Namens mit Wohn­sitz West-Ber­lin wur­de im März 1983 in Paris ver­haf­tet, als er – mit einem Kom­pa­gnon aus Kopen­ha­gen kom­mend – ver­such­te, ille­gal 6 Mil­lio­nen däni­sche Kro­nen ins Land zu schmug­geln22. Da die­se Fest­nah­me nur weni­ge Tage nach einem erfolg­rei­chen Über­fall auf einen Geld­trans­por­ter durch die Ble­kin­ge­ga­de-Ban­de im däni­schen Lyng­by erfolg­te, dürf­te es sich um Geld aus der Beu­te gehan­delt haben, Toman wäre also in die­sem Fall weder für Fatah noch für das Gene­ral­kom­man­do, son­dern für die PFLP tätig gewe­sen. Die Ori­ent-Zel­le arbei­te­te laut Sta­si-Akten auch mit ande­ren Paläs­ti­nen­sern zusam­men, die nicht der Fatah, son­dern einer der Split­ter­grup­pen ange­hör­ten. Offen­bar war es also gang und gäbe, sich im Aus­land unter die Arme zu grei­fen, auch wenn die jewei­li­gen Orga­ni­sa­tio­nen im Nahen Osten in blu­ti­ge Kämp­fe gegen­ein­an­der ver­strickt waren.

Die bei­der­seits der Mau­er agie­ren­de PFLP-/PFLP-GC-Zel­le war aller­dings nicht die ein­zi­ge Facet­te klan­des­ti­ner paläs­ti­nen­si­scher Akti­vi­tä­ten im Ber­lin der 1980er, die im Hin­blick auf mög­li­che Schmug­gel­we­ge von Inter­es­se ist. Hin­zu kommt die Prä­senz zwei­er ara­bi­scher Fir­men im »Inter­na­tio­na­len Han­dels­zen­trum« im Ost­teil der Stadt, die »in der Bun­des­re­pu­blik oder West-Ber­lin gestoh­le­ne Fahr­zeu­ge und Auto­er­satz­tei­le ex- sowie impor­tier­ten und dar­über hin­aus ille­ga­le Devisen‑, Gold- und Edel­me­tall- oder Edel­stein­ge­schäf­te betrie­ben«, außer­dem in ille­ga­le Waf­fen­ge­schäf­te ver­strickt waren23. Bei­de unter­hiel­ten nach Sta­si-Erkennt­nis­sen Kon­tak­te zur Fatah und ver­schie­de­nen Split­ter­grup­pen, der Ver­tre­ter einer der Fir­men – ein Geschäfts­mann mit paläs­ti­nen­si­schen Wur­zeln und ver­schie­de­nen Päs­sen – ver­füg­te auch nach­weis­lich über Bezie­hun­gen zur PFLP-GC, der sei­ne Fir­ma im Jahr 1983 DDR-Waf­fen ver­kauft hat­te24.

Doch noch ein Geheimdienst

Die ver­blie­be­nen Res­te der PFLP-GC-Zel­le in Deutsch­land hät­ten also durch­aus die Mög­lich­keit gehabt, über die vor­han­de­nen Han­dels- bzw. Schmug­gel­we­ge ein paar Spreng­zün­der sowie Metall­töp­fe mit Kup­fer­de­ckeln, die ohne Spreng­stoff kaum Arg­wohn erregt hät­ten, nach Ber­lin zu brin­gen. Aber wie hät­te man das Mate­ri­al dann nach West­deutsch­land geschmug­gelt? Ver­schie­de­ne in den letz­ten Jah­ren erschie­ne­ne Arbei­ten legen nahe, dass die Zusam­men­ar­beit der RAF mit der DDR nicht damit ende­te, dass die kamp­fes­mü­den Ter­ro­ris­ten der zwei­ten Genera­ti­on dort Unter­schlupf fan­den. So nimmt etwa die Jour­na­lis­tin Regi­ne Igel an25, dass die Sta­si auch deren Nach­fol­gern Unter­stüt­zung leis­te­te und in ihren Rei­hen Spit­zel plat­ziert hat­te. In der Tat sind etwa bis 1984 Auf­ent­hal­te von akti­ven RAF-Kämp­fern (Sta­si-Deck­na­me »Stern 1«) im »Objekt 74« der Sta­si in Brie­sen belegt, und da die Akte nur bis 1985 geht, kann eine spä­te­re Zusam­men­ar­beit nicht aus­ge­schlos­sen wer­den. Inter­es­sant ist auch eine in Igels Buch Ter­ro­ris­mus-Lügen abge­bil­de­te Kos­ten­ab­rech­nung der Abtei­lung 2 der HA XXII aus dem Jahr 198626, nach der die oben erwähn­te Ori­ent-Zel­le und ver­schie­de­ne Ange­hö­ri­ge der zwei­ten RAF-Genera­ti­on (Sil­ke Mai­er-Witt, Hen­ning Beer, Inge Viett, Susan­ne Albrecht und Wer­ner Lot­ze) offen­bar aus dem­sel­ben Topf Geld­zu­wen­dun­gen erhiel­ten. Und dann gibt es noch eine von Igel offen­bar über­se­he­ne Auf­stel­lung im bereits 1996 erschie­ne­nen MfS-Hand­buch zur HA XXII des His­to­ri­kers Tobi­as Wunschik. Die zuge­hö­ri­gen Daten stam­men aus der »Ana­ly­se des Lei­ters der Abtei­lung XXII/8, Oberst­leut­nant Hel­mut Voigt, vom 22.2.1989 zur IM-Arbeit auf der Grund­la­ge der 1988 erziel­ten Ergeb­nis­se« und bele­gen, dass die Sta­si 1988 nicht weni­ger als vier IMB führ­te, deren »Ein­satz­rich­tung« die noch akti­ven Kämp­fer der Roten Armee Frak­ti­on waren27. Ob es sich dabei – wie im Fal­le der Japa­ni­schen Roten Armee, deren Anfüh­rer sämt­lich IMB waren – um tat­säch­li­che Ter­ro­ris­ten oder nur um Kon­takt­per­so­nen in deren Umfeld han­del­te, bleibt eine offe­ne Frage.

Um sol­che mut­maß­li­chen Kon­takt­per­so­nen oder Unter­stüt­zer (im RAF-Jar­gon die »Ver­wandt­schaft«, die Kom­man­dos wur­den als »Fami­ly« bezeich­net), könn­te es in den Sta­si-Akten gehen, die von Jour­na­lis­tin Patri­zia Schlos­ser bei ihrer Suche nach den letz­ten flüch­ti­gen RAF-Mit­glie­dern durch­ge­se­hen wur­den28. Dem­nach gab es bis 1989 in Ost-Ber­lin unter den wach­sa­men Augen der Sta­si Geheim­tref­fen zwi­schen die­sen Per­so­nen und PFLP-Ver­tre­tern. Lei­der ist nichts über die dabei bespro­che­nen The­men oder eine mög­li­che Ver­wick­lung der PFLP-GC bekannt, aber wie aus den obi­gen Aus­füh­run­gen ersicht­lich sein soll­te, waren die Gren­zen zwi­schen bei­den Orga­ni­sa­tio­nen in Ber­lin ohne­hin rela­tiv stark durch­läs­sig. Die genau­en Ver­hält­nis­se sind noch von der his­to­ri­schen For­schung zu klären.

Es ist in jedem Fall plau­si­bel, dass die beschrie­be­nen Struk­tu­ren irgend­wann 1989 dazu genutzt wur­den, die EFP-Vor­rich­tung (wahr­schein­lich zur Sicher­heit meh­re­re) nach Ost-Ber­lin und von dort aus wei­ter in die BRD zu brin­gen. Die Sta­si könn­te inso­fern Unter­stüt­zung geleis­tet haben, dass sie die Erpro­bung der Tech­nik in einem ihrer gehei­men Objek­te ermög­lich­te, aber dies kann auch bereits im Nahen Osten gesche­hen sein, und die Rol­le des DDR-Geheim­diens­tes hät­te sich in die­sem Fall drauf beschränkt, die Paläs­ti­nen­ser bei ihren deutsch-deut­schen Schmug­gel­ak­ti­vi­tä­ten nicht zu stö­ren und den Grenz­trup­pen ent­spre­chen­de Anwei­sun­gen zu geben. Ein »Phan­tom« war dazu nicht erforderlich.

Alle Fragen geklärt?

Das beschrie­be­ne Sze­na­rio hat ein klei­nes Pro­blem: Es kann nicht alle der oben auf­ge­führ­ten merk­wür­di­gen Umstän­de des Herr­hau­sen-Atten­tats erklä­ren. Die Sta­si mag Ein­fluss auf radi­ka­le Paläs­ti­nen­ser­grup­pen genom­men und der RAF bei deren Aktio­nen Hil­fe­stel­lung gege­ben haben, aber das klärt nicht die offe­nen Fra­gen bezüg­lich der Über­prü­fung der Bau­stel­le oder des Begleit­fahr­zeugs. Hat­ten auch west­li­che Geheim­diens­te ihre Fin­ger noch irgend­wie mit im Spiel? Die Fra­ge ist beim der­zei­ti­gen Wis­sens­stand nicht zu beant­wor­ten, aber es wäre wohl aus­ge­spro­chen selt­sam, wenn nicht auch die CIA oder ihre west­eu­ro­päi­schen Part­ner­diens­te ver­sucht hät­ten, V‑Leute in die links­ra­di­ka­le Unter­stüt­zer­sze­ne oder nah­öst­li­che Ter­ror­or­ga­ni­sa­tio­nen ein­zu­schleu­sen. Hier und da erhascht man eine Ahnung, wie dies von­stat­ten gegan­gen sein könn­te, etwa bei der Rol­le des »Roten Prin­zen« Ali Hassan Sala­meh, Sicher­heits­chef der Fatah in den 1970ern, der in die­ser Zeit offen­bar auch als CIA-Infor­mant tätig war. Ein wei­te­res Bei­spiel wird von der His­to­ri­ke­rin Ste­fa­nie Was­ke in ihrem Buch über den in den Jah­ren der sozi­al-libe­ra­len Koali­ti­on von Hans-Chris­toph Stauf­fen­berg im Auf­trag von CDU und CSU unter­hal­te­nen »Par­al­lel-Nach­rich­ten­dienst« erwähnt: Eine Quel­le die­ses Diens­tes namens »Spi­ri­tus«, die offen­bar über exzel­len­te Ver­bin­dun­gen in PLO-Krei­se ver­füg­te, berich­te­te in den spä­ten 1970ern über Kon­tak­te des RAF-Füh­rungs­tri­os unter Bri­git­te Mohn­haupt mit Majed Muh­sin von der paläs­ti­nen­si­schen Split­ter­grup­pe as-Sai­qa.29 Zuletzt soll­te die unlängst breit publi­zier­te »Ope­ra­ti­on Rubi­kon« nicht uner­wähnt blei­ben, bei der eine Schwei­zer Tarn­fir­ma von CIA und BND in den 1970ern und 1980ern vor­geb­lich siche­re Ver­schlüs­se­lungs­ge­rä­te an inter­na­tio­na­le Kun­den ver­kauf­te, die dann über eine Back­door in den Gerä­ten aus­spio­niert wur­den. Zu den Abneh­mern der Gerä­te zähl­ten aus­ge­rech­net die bei­den Staa­ten, die den paläs­ti­nen­si­schen Ter­ror­grup­pen in die­ser Zeit die größ­te Unter­stüt­zung zukom­men lie­ßen, näm­lich Syri­en und Liby­en.

Von den Fra­gen um die »Drit­te Genera­ti­on« der RAF und das Herr­hau­sen-Atten­tat blei­ben also vie­le wei­ter­hin unbe­ant­wor­tet. Wie es gewe­sen sein könn­te? Hier muss­te nun wie­der der Fabu­lie­rer über­neh­men – das Ergeb­nis, der Polit­thril­ler »Sechs Tage im Herbst« ist seit dem 24. April über­all erhältlich.

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1Der Spie­gel, Nr. 42, 1997, S. 169

3Kraus­haar, W.: Ein RAF-Pro­zess als Far­ce. In: Die Tages­zei­tung, 7. Juni 2011.

4Baer, R.: The Per­fect Kill: 21 Laws for Assas­sins, New York 2013, S. 63f

5Dietl, W.: Deck­na­me Dali — Ein BND-Agent packt aus, 1997, S. 93f

6Knud­sen, P. Ø.: Der inne­re Kreis, Ber­lin 2010, S. 378ff

7Der Spie­gel, 36/1993, S. 152. In Aus­ga­be 2/1989 (S .18) sprach das Maga­zin aller­dings noch von 1000 Kämp­fern. Die Zeit ging1989 von nur 200 Kämp­fern aus, (https://www.zeit.de/1989/52/pflp-die-sippe-des-terrors), im Goben-Memo­ran­dum (s. u.) wie­der­um wer­den Mit­glieds­num­mern über 500 erwähnt.

8Katz, S. M.: Isra­el Ver­sus Jibril: The Thir­ty-Year War Against a Mas­ter Ter­ro­rist, New York 1993, S. 117

9Deve­lo­p­ments in the Midd­le East, July 1993:  Hea­ring Befo­re the Sub­com­mit­tee on Euro­pe and the Midd­le East of the Com­mit­tee on For­eign Affairs, House of Repre­sen­ta­ti­ves, One Hund­red Third Con­gress, First Ses­si­on, July 27, 1993, Band 4, 1993, S. 13

10Der Spie­gel, 2/1989, S. 26ff

11Der Spie­gel, 16/1994, S. 98ff, sie­he auch Ashton, J.: Meg­rahi: You Are My Jury: The Locker­bie Evi­dence, Edin­burgh 2012, S. 34, und Dietl. W.: Die BKA-Sto­ry, Mün­chen 2000, S. 246ff.

13Es ist nicht ganz klar, ob damit Abdel Fattah Ghad­an­far gemeint ist, der zur deut­schen PFLP-GC-Zel­le gehör­te, laut Ver­hör­pro­to­kol­len (https://de.scribd.com/document/318902140/Lockerbie-Pan-Am-103-Scottish-Police-Report-5th-June-1989) gele­gent­lich den Deck­na­men »Mas­sud« ver­wen­de­te und sich zur Zeit der »Ope­ra­ti­on Herbst­laub« zeit­wei­se in Spa­ni­en aufhielt.

14Katz, S. 92ff

16Dietl 1997, S. 124

17Bereits 1985 hielt sich laut der RAF-nahen Flug­schrift Zusam­men kämp­fen (Nr. 4, Sept. 1985) eine unge­nann­te »Genos­sin« im Lager Jar­muk auf berich­te­te über Akti­vi­tä­ten der PNSF (Pales­ti­ni­an Natio­nal Sal­va­ti­on Front), zu der sich PFLP, PFLP-GC und ande­re PLO-feind­li­che Grup­pen damals zusam­men­ge­schlos­sen hatten.

18Der Spie­gel, 49/1989, S. 17; Wort­laut in Peters, Butz: Töd­li­cher Irr­tum: Die Geschich­te der RAF, Ber­lin 2004, S. 654 (Der Brief ist auch kurz sicht­bar in Egmont Kochs TV-Bei­trag ab 13:01)

19Mae­ke, Lutz: DDR und PLO: Die Paläs­ti­na­po­li­tik des SED-Staa­tes, Ber­lin 2017

20etwa »IM Alfre­do« und »IM Wolf« in der Ber­li­ner PFLP-Zel­le, vgl. ebd. S. 135

21vgl. ebd. S. 390ff

22vgl. Knud­sen, S. 201Ff; Madsen, Frank: Trans­na­tio­nal Orga­ni­zed Crime, Oxon 2009, S. 76F; Jac­quard, Roland: Les dos­siers secrets du ter­ro­risme: tueurs sans fron­tiè­res, Paris 1985, S. 171

23vgl. Mae­ke, S. 283ff und S. 329ff, außer­dem Beng­t­son-Kral­lert, Mat­thi­as: Die DDR und der inter­na­tio­na­le Ter­ro­ris­mus, Mar­burg 2017, S. 339ff

24Beng­t­son-Kral­lert, S. 348, Mae­ke, S. 326

25Igel, R.: Ter­ro­ris­mus-Lügen, Wie die Sta­si im Unter­grund agier­te, Mün­chen 2012; Igel schießt aller­dings übers Ziel hin­aus, indem sie die durch die Sta­si regis­trier­ten INPOL-Anfra­gen der west­deut­schen Poli­zei zu ver­schie­de­nen gesuch­ten Ter­ro­ris­ten als deren tat­säch­li­ches Bewe­gungs­pro­fil interpretiert.

26Igel 2012, unpa­gi­nier­tes E‑Book, Posi­ti­on 3969 von 6726

27Wunschik, T.: Die Haupt­ab­tei­lung XXII: “Ter­ror­ab­wehr” (MfS-Hand­buch). Hg. BStU. Ber­lin 1996. (http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292–97839421301414), S. 47

28Schlos­ser, P.: Im Unter­grund: Der Arsch von Franz Josef Strauß, die RAF, mein Vater und ich, Ham­burg 2019

29Was­ke, Ste­fa­nie: Nach Lek­tü­re ver­nich­ten! Der gehei­me Nach­rich­ten­dienst von CDU und CSU im Kal­ten Krieg, Mün­chen 2013, S.194