Es mag für Außenstehende etwas verwunderlich klingen, aber ich habe in den frühen 1990ern ein komplettes Geschichtsstudium absolviert, ohne dass auch nur ein einziges Mal von mir erwartet wurde, mich mit Geschichtsphilosophie oder übergeordneten Theorien zum Gang der Geschichte an sich zu befassen. Die Lehramtskandidaten standen damals in der Pflicht, sich ein möglichst großes, überblicksartiges Wissen anzueignen, während wir Magisteranwärter zur detaillierten Quellenarbeit angehalten wurden und ansonsten von einer Mikroperspektive zur nächsten sprangen, immer auf der Grundlage einer vagen Ad-hoc-Heuristik, die nie bewusst gemacht wurde und im Grunde auf der Annahme beruhte, dass man als gebildeter Zeitgenosse schon irgendwie verstand, worum es ging.
Das hatte sicher mit der Vergangenheit unserer Dozenten zu tun, die in ihrer eigenen Studienzeit einen allzu großen Schluck aus der Zaubertrankproduktion von Marx & Engels Nachf. abbekommen hatten und nun – nach dem Untergang des Sowjetreiches – peinlich berührt auf Abstand achteten, wenn es um den Lauf der Weltgeschichte und die darin wirkenden Faktoren ging. Aber auch mit der damals einsetzenden Unterwerfung der Geisteswissenschaften unter die Fuchtel der Moral. Wer sich als »links« verstand, widmete seine Studien nicht mehr dem historischen Materialismus, sondern der Emanzipation der Dritten Welt oder dem Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten aller Art; wer sich als »rechts« verstand, studierte keine Geschichte (jedenfalls habe ich keinen kennengelernt). Immer ging es um einen Perspektivenwechsel bei der Art, wie Geschichte erzählt wird (aus der Sicht der Unterdrückten, der Frauen, der Minderheiten usw. statt der des »alten weißen Mannes«), so gut wie nie um die Geschichte selbst.
Noch schwerer hatten es die Welterklärer von der anderen Seite des politischen Spektrums. Den Namen »Toynbee« kenne ich nur, weil ich damals – in einer Art Vorwegnahme des Internets – gerne in Mußestunden durch die Unibibliothek gesurft bin und beim Durchhangeln von einer Fußnote zur nächsten irgendwann bei Mankind and Mother Earth hängenblieb, was mich dann wiederum zu Toynbees Hauptwerk A Study of History brachte. Und mit jemandem wie Oswald Spengler und seinem Untergang des Abendlandes beschäftigte man sich als Akademiker einfach nicht. Es war eines dieser Bücher, von denen man vage wusste, dass es die Leute beeinflusst hatte, die für die Nazidiktatur und Auschwitz verantwortlich waren; das musste man nicht lesen, es reichte, den Namen irgendwo im Köcher mit den Polemikpfeilen parat zu haben.
Das war vielleicht ein wenig voreilig. Ich habe mir Spenglers dicke Schwarte mal irgendwann aus reiner Neugier in einer billigen Gesamtausgabe gekauft, die dann jahrelang ungelesen im Bücherregal stand, während ich mich meinen eigenen Mikroperspektiven widmete, von denen eine inzwischen zur Buchform gefunden hat (weitere werden folgen). Aber schließlich war es dann doch soweit und ich begann, mich durchzukämpfen.
Für eine abschließende Bewertung ist es durchaus noch zu früh, aber ich muss gestehen, dass ich neben allerlei goethe- und nietzscheanischem Geschwurbel und an ziemlich langen Haaren herbeigezogenen Vergleichen auch auf die eine oder andere Perle gestoßen bin, die man auf keinen Fall vor die Säue werfen sollte. Spenglers Ansatz ist ja (sehr grob gesagt), dass jede der in der Menschheitsgeschichte aufgetretenen Kulturen verschiedene Phasen durchläuft, die man als »Beutekriegertum«, »ständischen Feudalismus«, »absoluten Staat«, »Zivilisation der Weltstädte« und »Diktatur großer Männer« bezeichnen könnte.
Die letzte Phase wurde von Spengler selbst in Anlehnung an die Verhältnisse im Römischen Reich nach dem Ende der Republik als »Cäsarismus« bezeichnet. Da unsere Kultur (er nannte sie die »faustische«) denselben Weg gehen werde wie die anderen, sei auch ihr langsames Vergehen in einer solchen Entwicklung vorgezeichnet, Spengler erwartete dies für einen Zeitraum, der sich vom 20. Jahrhundert bis etwa 2200 erstrecken würde. Es geht also gar nicht um einen schlagartigen »Untergang«, und der Autor bemerkte später selber, er hätte sein Buch lieber »Die Vollendung des Abendlandes« nennen sollen, weil es sich hier um Vorgänge handele, die einerseits zwangsläufiger Art und andererseits von größeren historischen Dimensionen seien.
Interessant ist dabei, wie er den Weg zu einem neuen Cäsarentum aus der liberalen, bürgerlichen Demokratie heraus entwickelt (natürlich wiederum in Anlehnung an das Ende der römischen Republik). Demnach lauert bei dieser Staatsform stets die Gefahr, dass aus der ursprünglichen Idee der »Volksvertretung« früher oder später (für Spengler eher früher) eine abgeschlossene Politikerkaste hervorgeht, die die idealistischen Vorstellungen der jeweiligen Verfassungsväter ad absurdum führt:
Dass die gesamte Masse der Wählerschaft aus einem gemeinsamen Antrieb heraus Männer entsendet, die ihre Sache führen sollen, wie es in allen Verfassungen ganz naiv gemeint ist, war nur im ersten Anlauf möglich und setzt voraus, dass nicht einmal die Ansätze zur Organisation bestimmter Gruppen vorhanden sind. […] Mit dem Dasein einer Versammlung ist aber sofort die Bildung taktischer Einheiten verbunden, deren Zusammenhalt auf dem Willen beruht, die einmal errungene herrschende Stellung zu behaupten, und die sich nicht im geringste mehr als Sprachrohr ihrer Wähler betrachtet, sondern umgekehrt diese mit allen Mitteln der Agitation gefügig machen, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. (S. 1126)
Neben der Tendenz der gewählten Abgeordneten, sich zu einer abgehobenen Elite zusammenzuschließen, die es besser weiß als das gewöhnliche Volk, kommt noch der starke Einfluss wirtschaftlicher Kräfte:
In den Anfängen der Demokratie gehört dem Geiste das Feld allein. Es gibt nichts Edleres und Reineres als die Nachtsitzung des 4. August 1789 und den Schwur im Ballhaus oder die Gesinnung in der Frankfurter Paulskirche […] Bald danach indessen meldet sich die andere Größe jeder Demokratie und mahnt an die Tatsache, dass man von seinen verfassungsmäßigen Rechten nur Gebrauch machen kann, wenn man Geld hat. Die frühe Demokratie, die der hoffnungsvollen Verfassungsentwürfe, die für uns etwa bis zu Lincoln, Bismarck und Gladstone reicht, muss diese Erfahrung machen; die späte, für uns die des reifen Parlamentarismus, geht von ihr aus. Da haben sich Wahrheiten und Tatsachen in Gestalt von Parteiideal und Parteikasse endgültig getrennt. Der echte Parlamentarier fühlt sich eben durch das Geld von der Abhängigkeit befreit, die in der naiven Auffassung des Wählers vom Gewählten enthalten ist. (S. 1131)
Die Wahlen verkommen infolgedessen zu einer Art »Zensurenvergabe«, in deren Verlauf der Wähler alle paar Jahre die herrschenden Eliten bewerten kann, ohne wirklichen Einfluss auf die maßgeblichen Prozesse zu haben. Um die Zensuren nicht unangemessen schlecht ausfallen zu lassen, wird durch die politische Klasse ein möglichst starker Einfluss auf die Medien ausgeübt (Spengler kannte natürlich noch kein Fernsehen oder Internet und spricht von »Pressekampagnen«). Und da die Eliten letztendlich vor allem an der Aufrechterhaltung ihres eigenen Status interessiert sind, verlieren sie nach und nach die Fähigkeit, sich mit den allfälligen Problemen auseinanderzusetzen.
Wie man sich denken kann, führt dieser Zustand mit der Zeit zu einer gewissen Ermüdung seitens des Wahlvolks und diversen Sehnsüchten nach den »alten Werten«:
Durch das Geld vernichtet die Demokratie sich selbst, nachdem das Geld den Geist vernichtet hat. Aber eben weil alle Träume verflogen sind, dass die Wirklichkeit sich jemals durch die Gedanken irgendeines Zenon oder Marx verbessern ließe, und man gelernt hat, dass im Reiche der Wirklichkeit ein Machtwille nur durch einen anderen gestürzt werden kann – das ist die große Erfahrung im Zeitalter der kämpfenden Staaten –, erwacht endlich eine tiefe Sehnsucht nach allem, was noch von edlen, alten Traditionen lebt. Man ist der Geldwirtschaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine Erlösung irgendwoher, auf einen echten Ton von Ehre und Ritterlichkeit, von innerem Adel, von Entsagung und Pflicht. Und nun bricht die Zeit an, wo in der Tiefe die formvollen Mächte des Blutes wieder erwachen, die durch den Rationalismus der großen Städte verdrängt worden sind. (S. 1143)
Diese Sehnsüchte machen sich nun skrupellose und machthungrige Einzelne zu Nutzen, die große Geldmittel und die große Schmierenkomödie der Propaganda dazu einsetzen, sich – noch mithilfe der demokratischen Mechanismen, aber gegen die traditionellen Eliten – selbst an die Spitze des Staates zu setzen, den sie dann umgehend zu einer Diktatur umformen (gegebenenfalls ohne die äußere Form zu ändern). Spengler schrieb vor 1920 und hatte die Heerführer der späten römischen Republik vor Augen, aber natürlich kann man genauso gut an Mussolini und Hitler denken, die in dieser Sichtweise sozusagen den ersten Versuch zur Etablierung dieser Herrschaftsform in unserer Kultur darstellen würden.
[…] die Form der regierenden Minderheit entwickelt sich vom Stand über die Partei zur Gefolgschaft von Einzelnen. Das Ende der Demokratie und ihr Übergang zum Cäsarismus äußert sich deshalb darin, dass nicht etwa die Partei des Dritten Standes, der Liberalismus verschwindet, sondern die Partei als Form überhaupt. Die Gesinnung, das volkstümliche Ziel, die abstrakten Ideale aller echten Parteipolitik lösen sich auf, und an ihre Stelle tritt die Privatpolitik, der ungehemmte Machtwille weniger Rassemenschen. (S. 1125f, unter »Rasse« verstand Spengler nicht die biologische, sondern eine bestimmte Qualität von Persönlichkeit, man denke an Begriffe wie »Rasseweib«)
Man muss nicht an Spenglers Geschichtsmorphologie insgesamt glauben, aber hier war er offensichtlich einem Mechanismus auf der Spur, dem (bei aller Überspitzung) eine gewisse Gültigkeit nicht abzusprechen ist. Die Abgehobenheit der Eliten in der alten BRD hat man mal durch den Begriff »Raumschiff Bonn« gekennzeichnet, heute von einem »Raumschiff Berlin« zu sprechen, wäre schon fast zu niedlich. Der Einfluss der Wirtschaft auf die Gesetzgebung wird immer wieder skandalisiert, aber ändern tut sich dadurch eigentlich nichts. Manchmal werden Gesetzesentwürfe gleich von den Lobbyisten selbst geschrieben.
Und erleben wir nicht gerade, dass sich die Parteien von den einigermaßen verlässlichen Interessenvertretungen bestimmter Teile der Gesellschaft, wie sie sich beim »Neustart« nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs herausgebildet hatten, in Kanzlerwahlvereine und Plattformen des gefühligen Aktionismus jenseits der »abstrakten Ideale aller echten Parteipolitik« verwandelt haben? Die SPD steht nicht mehr für die kleinen Leute, die CDU nicht mehr für das Bürgertum, und schon tauchen Profiteure auf, die auf einer Welle der Unzufriedenheit in die Parlamente reiten. (Man haut momentan gerne auf den »Rechtspopulismus« ein, aber was wären die SED-Erben von der Linken, wenn nicht »linkspopulistisch«?) Die Kanzlerin führt das Land präsidentinnengleich mit einer großen Koalition, die keine Parteien mehr kennt, und Wahlergebnisse folgen nicht mehr aus Überzeugungen, sondern aus der Beliebtheit dieses oder jenes Landesfürsten.
Die von Spengler angesprochene Sehnsucht nach dem »echten Ton von Ehre und Ritterlichkeit« spiegelt sich in der ungeheuren Popularität der Fantasy-Literatur mit ihrem sozusagen »konzentrierten Mittelalter« wider (dessen Sog, um Missverständnissen vorzubeugen, auch ich selbst mich nicht entziehen kann) ebenso wie in den jungen Leuten mit ihren Manga-Kostümen, die einem in Leipzig auf der Buchmesse allenthalben über den Weg laufen. (Was wären Mangas anderes als ein Patchwork aus Mythenfragmenten, Kostümen und Haltungen, das man sich auf der großen Resterampe der europäischen Kultur zusammengeklaubt hat? Und alles mit unschuldig großen Kinderaugen, als sei man für das alles gar nicht verantwortlich.)
Das ist noch nicht alles: Jenseits des Atlantiks hat sich, uns wie immer einige Jahre oder Jahrzehnte voraus, ein echter Cäsar mit »ungehemmtem Machtwillen« aufgemacht, um sich mithilfe seiner Dollarmilliarden an die Spitze des Staates zu setzen wie einst der bekannte Feldherr aus der Familie der Julier. Donald Trump glaubt erkennbar an nichts weiter als an seine eigene Unübertrefflichkeit, aber er ist sehr geschickt darin, sich die Wut der unteren Mittelklasse und der Arbeiterschicht in den USA zu Diensten zu machen. (Glaubt wirklich jemand, dass er sich keinen besseren Friseur leisten könnte, wenn er wollte? Das ist einfach eine Arbeiterklassen-Solidaritäts-Tolle.) Es ist nicht ausgemacht, dass die dabei wirkenden Kräfte ausreichen werden, ihn in das Weiße Haus zu bringen, aber wenn nicht ihn, dann vielleicht irgendjemanden, der nach ihm kommt und auf dem gleichen Ticket fährt. Die Wut jedenfalls wird unter einer Präsidentin Clinton nicht geringer werden.
Und die Fähigkeit, die allfälligen Probleme zu lösen? Während ich dies hier schreibe, ist es in Brüssel zu einem neuen islamistischen Anschlag gekommen, und so langsam weiß man schon, was passiert: Politiker und Journalisten aller Art melden sich umgehend zu Wort, um »Betroffenheit« über die »Tragödie« und »Solidarität« mit den Opfern zu verkünden, auf der Linken und bei den Grünen wird ebenso schnell davor gewarnt, die Anschläge für »Hetze« gegen die »Flüchtlinge« zu »instrumentalisieren«. Anschließend werden die »feigen« Anschläge verurteilt, dann wird unsere »freie« Lebensweise und die »Verteidigung unserer Werte« beschworen und einmal mehr »Entschlossenheit« beim »Kampf gegen den Terrorismus« angekündigt, nicht ohne zu erwähnen, dass es in einer »offenen Gesellschaft« natürlich »keinen Schutz« davor geben könne. Mit anderen Worten: Man weiß eigentlich nicht, was man machen soll, und drescht leere, gefühlvolle Phrasen.
Angesichts dieses geschwätzigen Unvermögens muss man sich nicht wundern, wenn die Wähler sich mehr und mehr nach anderen Lösungen umsehen. Die Gesellschaft radikalisiert sich, irgendwann wird vielleicht das Chaos so groß, dass die Leute jedem aus der Hand fressen, der den Eindruck macht, sie davor beschützen zu können. Was uns zur Vollendung dieses Prozesses fehlt, ist eigentlich nur noch eine größere Wirtschaftskrise. Der neue Cäsar müsste dabei mitnichten AfD-Mitglied oder Pegida-Anhänger sein, Mussolini hat seine Karriere schließlich auch als Redakteur einer sozialistischen Parteizeitung begonnen. Also – irgendwelche Vorschläge?
Immerhin können wir beten, dass wir nicht Nero, sondern Mark Aurel bekommen … Noch lieber wäre mir allerdings, wenn Spengler am Ende doch noch widerlegt würde.