Eines meiner Lieblingsbücher spielt in den späten Jahren der Weimarer Republik. Sein Held (oder vielmehr Anti-Held) ist ein promovierter Germanist, der sich in der Weltwirtschaftskrise als Werbetexter durchschlägt, bis er auch diesen Job verliert und der Staat ihm »eine kleine Pension bewilligt«. Ziellos mäandert er durch ein Berlin, in dem die Polizei auf streikende Arbeiter einprügelt und dessen Bürgertum geradezu sehnsüchtig darauf wartet, endlich von seiner eigenen moralischen Verkommenheit erlöst zu werden. Was nicht heißt, dass die unteren Schichten in Erich Kästners 1931 erschienenen Roman besser davonkommen:
Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.
Beim Besuch einer Zeitungsredaktion wird Dr. phil. Jakob Fabian ungewollt Zeuge einer frühen Version der »Lügenpresse«:
»Aber«, sagte Herr Irrgang betreten, »nun sind doch in der Spalte fünf Zeilen frei.«
»Was tut man in einem so außergewöhnlichen Fall?« fragte Münzer.
»Man füllt die Spalte«, erklärte der Volontär.
Münzer nickte. »Steht nichts im Satz?« Er wühlte in den Bürstenabzügen. »Ausverkauft«, erklärte er. »Saure Gurkenzeit.« Dann prüfe er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt hatte, und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein«, schlug der junge Mann vor.
»Sie hätten Säulenheiliger werden sollen«, sagte Münzer. »Oder Untersuchungsgefangener, oder sonst ein Mensch mit viel Zeit. Wenn man eine Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie. Passen Sie mal auf!«
Am Ende sind dann in Kalkutta vierzehn Menschen bei Straßenkämpfen zwischen Muslimen und Hindus gestorben, wer wollte das damals schon so genau nachprüfen …? Fabian erhält ein Jobangebot als Zerberus eines Männerbordells, lehnt dankend ab, irrlichtert durch Amüsierhallen und Künstlerateliers und lernt schließlich eine junge Dame kennen und lieben, die dann aber doch lieber Filmkarriere im Bett eines Vorgängers von Harvey Weinstein macht. Am Ende begeht auch noch sein bester Freund Selbstmord, mit dem zusammen er kurz vorher noch am Märkischen Museum einen Kommunisten und einen Nazi davon abgehalten hat, sich gegenseitig totzuschießen. Die Aussichten sind nicht gerade rosig:
[…] nächstens wird ein gigantischer Kampf einsetzen, erst um die Butter aufs Brot, und später ums Plüschsofa; die einen wollen es behalten, die anderen wollen es erobern, und sie werden sich wie die Titanen ohrfeigen, und sie werden schließlich das Sofa zerhacken, damit es keiner kriegt. Unter den Anführern werden auf allen Seiten Marktschreier stehen, die stolze Parolen erfinden und die das eigene Gebrüll besoffen macht. Vielleicht werden sogar zwei oder drei wirkliche Männer darunter sein. Sollten sie zweimal hintereinander die Wahrheit sagen, wird man sie aufhängen.
Warum mir das gerade durch den Kopf geht? Vielleicht deshalb. Oder deshalb (dieses Mal ohne mich). Oder deshalb. Oder deshalb. Oder deshalb. Oder deshalb. Oder deshalb. Oder deshalb. Auf jeden Fall deshalb. Weitere Einzelheiten entnehmen Sie bitte Ihrem bevorzugten Internet-Nachrichtenportal.
Früher hieß es immer, ein Zusammenbruch der Demokratie wie in der Weimarer Republik sei heute nicht möglich, weil der entscheidende negative Einfluss der Weltwirtschaftskrise fehle. Wie mir scheint, kriegen wir das auch ohne hin.