Autorenblog

Autor: Bernd (Seite 7 von 22)

Che und ich

Immer die­se Kin­der­fra­gen … Jetzt woll­te mein Sohn wis­sen, war­um jun­ge Leu­te eigent­lich meis­tens »links« sind. Ich muss­te natür­lich sofort an den wahl­wei­se Win­s­ton Chur­chill oder Bert­rand Rus­sell zuge­schrie­be­nen Spruch den­ken, nach dem man kein Herz hat, wenn man mit zwan­zig kein Sozia­list ist, aber kei­nen Ver­stand, wenn man die­ser Welt­an­schau­ung mit vier­zig immer noch anhängt. Mei­ne Frau hin­ge­gen erin­ner­te mich süf­fi­sant grin­send an mein altes Che-Gue­va­ra-T-Shirt, das ich vor etli­chen Jah­ren bei den Bau­ar­bei­ten hier auf­ge­tra­gen habe. Tat­säch­lich kann ich nicht völ­lig leug­nen, in mei­ner Jugend bis zu einem gewis­sen Grad dem damals weit ver­brei­te­ten Aber­glau­ben ange­han­gen zu sein, man müs­se das, was hin­ter dem Eiser­nen Vor­hang so kra­chend und offen­sicht­lich geschei­tert war, unter dem Vor­zei­chen von Öko­lo­gie, Anti-Dog­ma­tis­mus und Jimi Hen­drix noch­mal ganz neu in Angriff nehmen.

Aber war­um? Bezie­hungs­wei­se, war­um glau­be ich das jetzt nicht mehr …? Viel­leicht spielt ja jugend­li­cher Über­mut eine Rol­le, revo­lu­tio­nä­re Begeis­te­rung, die Hor­mo­ne und so wei­ter. Die ver­strahl­ten Typen, die letz­ten Som­mer beim G20-Gip­fel in Ham­burg Bar­ri­ka­den­kampf gespielt haben, schie­nen voll davon zu sein. Aber das sind bestimmt auch »Hoo­li­gans gegen Sala­fis­mus« oder »Sala­fis­ten gegen ungläu­bi­ge Hun­de«. Das gan­ze zwan­zigs­te Jahr­hun­dert war ja eigent­lich eine ein­zi­ge Geis­ter­bahn, in der hin­ter jeder Kur­ve eine neue, wüten­de Jugend­be­we­gung her­vor­ge­sprun­gen kam, egal unter wel­cher Flag­ge. Hor­mo­ne sind, wie mir scheint, welt­an­schau­ungs­mä­ßig flexibel.

Viel eher geht es um die Kraft des rei­nen Her­zens. Als zwan­zig­jäh­ri­ger Stu­dent kann man in der Regel auf vol­le zwei Jahr­zehn­te zurück­bli­cken, in denen der eige­ne Bei­trag zum Lebens­un­ter­halt eben­so beschei­den aus­ge­fal­len ist wie die per­sön­li­che Mit­wir­kung an der Steue­rung des Gemein­we­sens, zu dem man gehört. Das ver­führt dann bei­spiels­wei­se dazu, »Reich­tum« als etwas zu betrach­ten, das irgend­wie auf über­na­tür­li­che Wei­se von selbst da sei und nur »gerecht ver­teilt« wer­den müs­se – so wie die Geschwis­ter­schar die gerech­te Ver­tei­lung des Taschen­gelds von den Eltern ein­for­dert. Und die Poli­tik gerät zum Kas­per­le­thea­ter, in dem das böse, gie­ri­ge Kro­ko­dil besiegt wer­den muss, das – als Poli­ti­ker, Ban­ker oder Arbeit­ge­ber­prä­si­dent getarnt – der gerech­ten Ver­tei­lung im Wege steht.

Etwas pom­pö­ser aus­ge­drückt: Man sieht die Welt vor allem im Ide­al gespie­gelt. Und sind Frei­heit, Gleich­heit, Brü­der­lich­keit nicht wun­der­ba­re Idea­le? Ganz zu schwei­gen von Ver­nunft, Huma­ni­tät und Gerech­tig­keit …! Wenn man jung ist, liebt man Idea­le. Sie erlau­ben es einem, in die Hel­den­rol­le zu schlüp­fen, in der man sich in die­sem Lebens­al­ter ger­ne sieht – nicht zuletzt wegen der, ähem, vor­teil­haf­ten Wir­kung auf das ande­re Geschlecht natür­lich. Man stürmt in die Welt hin­ein im Voll­ge­fühl der eige­nen Recht­schaf­fen­heit und sucht über­all nach Dra­chen, die man besie­gen kann. Und selbst­ver­ständ­lich kämpft man nicht aus Ego­is­mus, son­dern dafür, arme, unter­drück­te Proletarier/Drittweltbewohner/Minderheiten, die aus irgend­wel­chen geheim­nis­vol­len Grün­den nicht in der Lage sind, selbst für ihre Inter­es­sen ein­zu­tre­ten, aus den Klau­en der Bes­tie zu befreien …

Wenn man Glück hat, nimmt einen das Leben spä­ter sanft bei der Hand und zeigt einem anhand aus­ge­wähl­ter Bei­spie­le, dass vor dem Reich­tum meis­tens ein Rie­sen­hau­fen Arbeit steht, statt eines glän­zen­den Sie­ges häu­fig nur das klei­ne­re Übel zur Wahl steht und das Gegen­teil einer schlech­ten Idee meist eine noch schlech­te­re ist. Wenn man Pech hat, haben ein oder zwei grö­ße­re per­sön­li­che Kata­stro­phen exakt die glei­che Wir­kung. Das Ergeb­nis ist – hof­fent­lich – eine gewis­se Nüch­tern­heit und Skep­sis sowie die Erkennt­nis, dass ande­re Leu­te ihre Bedürf­nis­se meist ganz gut selbst arti­ku­lie­ren kön­nen und jedes Ide­al, das man bis in die letz­te Kon­se­quenz zu ver­wirk­li­chen sucht, mit ziem­li­cher Sicher­heit gera­de­wegs in die tota­li­tä­re Höl­le führt. Gleich­heit etwa ist eine tol­le Sache, wenn es dar­um geht, dass vor dem Gesetz nie­mand bevor­zugt wird. Wenn man aller­dings wei­ter­geht und for­dert, dass jeder Mensch tat­säch­lich gleich sein soll (obwohl doch jeder von uns eine eige­ne Welt ist), endet man aller Erfah­rung nach in der Gleich­heit des sibi­ri­schen Arbeitslagers.

Aber das weiß man natür­lich noch nicht, wenn man sei­ne Nase zum ers­ten Mal aus der Tür der Kind­heit her­aus­steckt. Ich glau­be, ich war vier­zehn oder fünf­zehn, als ich spon­tan in der Buch­hand­lung der nächs­ten Klein­stadt ein Taschen­buch mit den Wer­ken von Marx und Engels erwarb und von vor­ne bis hin­ten durch­las – ohne groß zu begrei­fen, um was es ging, ver­steht sich. Aber es kam der Satz dar­in vor, dass Reli­gi­on das »Opi­um des Vol­kes« sei, und das gefiel mir, hat­te ich doch gera­de im Ver­lauf des Kon­fir­man­den­un­ter­richts unver­se­hens mei­nen Glau­ben ver­lo­ren. Irgend so ein alter Kna­cker mit Bart, der in den Wol­ken sitzt? Was woll­te der denn …

Womit ein wei­te­rer Fak­tor für die Beliebt­heit sozia­lis­ti­scher Vor­stel­lun­gen bei der Jugend ange­spro­chen ist. Sie glei­chen vage bestimm­ten christ­li­chen Wer­ten, ohne dass man dafür an über­na­tür­li­che Wesen glau­ben muss. Und es ist genau­so unmög­lich, sie eins zu eins in die Rea­li­tät umzu­set­zen: Rein theo­re­tisch klingt es ja abso­lut groß­ar­tig, die ande­re Wan­ge hin­zu­hal­ten und sei­nen Man­tel mit einem Bett­ler zu tei­len. Man sieht sich schon höchst­per­sön­lich selbst auf dem Pferd sit­zen und dem armen Hund da unten am Boden voll Mit­ge­fühl die hal­be Toga rei­chen … Im All­tag läuft es dann aller­dings ein biss­chen anders – wel­cher Unter­neh­mer etwa könn­te sich stets an Matth. 5, 40 hal­ten (»Und wenn jemand mit dir rech­ten will und dir dei­nen Rock neh­men, dem lass auch den Man­tel«), ohne mit­tel­fris­tig Bank­rott erklä­ren zu müs­sen? Man gibt also ab und zu ein klei­nes Stück­chen Man­tel ab und hofft, dass man dadurch das Kamel doch noch irgend­wie durchs Nadel­öhr zwängt. So, wie man für die Revo­lu­ti­on kämpft, ohne auf teu­re Zigar­ren und Rolex-Uhren zu verzichten.

Und dann gibt es natür­lich immer die Ver­lo­ckung, in die Haut des roman­ti­schen Hel­den zu schlüp­fen, der wie der Wan­de­rer über dem Nebel­meer allem Irdi­schen ent­sagt und sich ganz der Sache des Vol­kes ver­schreibt … Das letz­te Mal, als ich so rich­tig Sym­pa­thien für eine lin­ke Bewe­gung emp­fand, war in den 1990ern, als ein gewis­ser »Sub­co­man­dan­te Mar­cos« mit einer Kis­te Bücher aus Mexi­ko-Stadt in den lakan­do­ni­schen Urwald zog, um unter dem Schlacht­ruf »Alles für alle, nichts für uns!« für die Rech­te der Indi­ge­nen zu kämp­fen und »Inter­ga­lak­ti­sche Tref­fen gegen den Neo­li­be­ra­lis­mus« zu ver­an­stal­ten. Natür­lich hat­te der Mann schwer einen an der Waf­fel – aber geht’s noch poe­ti­scher …? Zur glei­chen Zeit las ich aller­dings Ches Boli­via­ni­sches Tage­buch, das mit sei­nem Exis­ten­zia­lis­mus der ver­zwei­fel­ten Iso­la­ti­on das völ­lig humor­lo­se Gegen­stück zu den drol­li­gen Aktio­nen der mexi­ka­ni­schen Zapa­tis­ten bildete.

Das war wahr­schein­lich der Anfang vom Ende. Je län­ger ich die Aben­teu­er des argen­ti­ni­schen Ex-Arz­tes nach­ver­folg­te, der in völ­li­ger Ver­ken­nung der Sach­la­ge und blin­dem Aktio­nis­mus ver­such­te, mit einer Hand­voll Despe­ra­dos, die den bom­bas­ti­schen Namen »Natio­na­le Befrei­ungs­ar­mee« trug, in Boli­vi­en eine sozia­lis­ti­sche Revo­lu­ti­on her­bei­zu­füh­ren, des­to frem­der wur­de mir das alles. Die beson­de­ren Umstän­de, die in Kuba zum Erfolg geführt hat­ten, waren eben spe­zi­fisch kuba­nisch und hat­ten nichts mit irgend­ei­ner welt­ge­schicht­li­chen Dia­lek­tik tun, als deren Erfül­lungs­ge­hil­fen sich der Coman­dan­te und sei­ne Mit­strei­ter sahen. Der Anden­staat war statt­des­sen nichts wei­ter als die Kulis­se für einen Film, in dem sie die Haupt­rol­le spiel­ten. Ich konn­te mich immer weni­ger mit die­ser beson­ders däm­li­chen Ver­kör­pe­rung von Rous­se­aus »Volon­té gene­ra­le« iden­ti­fi­zie­ren, einer selbst ernann­ten Avant­gar­de also, die mein­te, bes­ser als das Volk zu wis­sen, was das Volk wollte.

Was wie­der­um Erin­ne­run­gen an den Zwie­spalt wach­rief, in den mich die radi­ka­le Lin­ke in gewis­ser Wei­se von Anfang an gebracht hat­te. Ich bin Arbei­ter­sohn, und die ein paar Jah­re älte­ren Arzt- und Leh­rer­kin­der, die in der Fuß­gän­ger­zo­ne der erwähn­ten Klein­stadt die Kom­mu­nis­ti­sche Volks­zei­tung ver­teil­ten und mei­nen Vater zur Revo­lu­ti­on auf­sta­cheln woll­ten, erfüll­ten mich schon als Drei­zehn­jäh­ri­gen mit einer gehö­ri­gen Por­ti­on Befremd­nis. Arbei­ter sind kei­ne Arbei­ter, weil sie von bösen Mäch­ten dazu gezwun­gen wur­den, son­dern weil das eben der Weg war, der ihnen im Leben offen­stand. Und das wis­sen die meis­ten von ihnen. Wenn ihnen jemand zu erzäh­len ver­sucht, die »Arbei­ter­klas­se« sei in Wirk­lich­keit ein Vehi­kel, mit des­sen Hil­fe »die Geschich­te« vor­ha­be, den kom­mu­nis­ti­schen Him­mel auf Erden zu errich­ten, wer­den sie schnell miss­trau­isch und rie­chen den Bra­ten. Der in der Regel dar­aus besteht, dass ein paar ver­krach­te Bohe­mi­ens auf ihrem Rücken ver­su­chen, die Macht im Staat an sich zu rei­ßen. So ganz habe ich das – bei allen Sym­pa­thien für den Kampf gegen Aus­beu­tung und Unter­drü­ckung – nie vergessen.

Das Schlim­me war ja ohne­hin, dass die­ser Kampf nicht nur in Boli­vi­en in der Regel gera­de­wegs ins Nichts führ­te. Von den mexi­ka­ni­schen Zapa­tis­ten etwa war am Ende nur noch lee­re Sym­bo­lik zu hören. Hier eine Pres­se­kon­fe­renz, dort eine Demo, schließ­lich eine groß­ar­ti­ge Erklä­rung, die eine noch groß­ar­ti­ge­re Kon­fe­renz ankün­dig­te, und immer wie­der inter­na­tio­na­le Tref­fen, zu denen (um ein böses Wort zu zitie­ren) »trust-fund babies« aus aller Welt anreis­ten, also Berufs­söh­ne und ‑töch­ter, die nach San Cris­tó­bal de las Casas pil­ger­ten, um die total authen­ti­schen Indi­ge­nen ken­nen­zu­ler­nen, die sie von der Pla­ge eben jenes Neo­li­be­ra­lis­mus befrei­en soll­ten, dem sie ihren monat­li­chen Scheck ver­dank­ten. Eine Befrei­ungs­ar­mee, die nichts befrei­te. Eine Revo­lu­ti­on, die nichts revo­lu­tio­nier­te. Eine Wider­stands­be­we­gung, die sich dar­in erschöpf­te, die Jung­stein­zeit gegen die Moder­ne zu verteidigen.

Und so ende­te das T‑Shirt mit el Che vor­ne drauf dann als Arbeits­klei­dung auf dem Bau. Eigent­lich ein ange­mes­sen pro­le­ta­ri­scher Rah­men, fin­de ich. Mein Vater – mitt­ler­wei­le Rent­ner – ver­lor kein Wort dar­über, wäh­rend wir Sei­te an Sei­te dar­an arbei­te­ten, die Lat­ten für die Däm­mung an die Dach­bal­ken zu schrau­ben. Wahr­schein­lich wun­der­te er sich ins­ge­heim ein biss­chen, aber letzt­end­lich war das Kon­ter­fei des berühm­ten Revo­lu­tio­närs für ihn bloß ein flüch­ti­ges Bild, das gele­gent­lich über sei­nen Fern­seh­schirm gehuscht war. Der Glückliche …

Bin ich also heu­te »rechts«? Also, bit­te … In den Schoß der Kir­che bin ich nicht zurück­ge­kehrt, und Leu­te, die ihre Stel­lung ihrem Nach­na­men, ererb­ten Mil­lio­nen oder Vit­amin B ver­dan­ken, kann ich wei­ter­hin nicht ernst neh­men. Aber ich glau­be auch, dass der Mensch einen irre­du­zi­blen Kern hat, der weder durch Erzie­hung, noch durch Arbeits­la­ger oder noch so aus­ge­klü­gel­tes »Nud­ging« ver­än­dert wer­den kann. Und dass eine funk­tio­nie­ren­de, natio­nal- und sozi­al­staat­lich orga­ni­sier­te libe­ra­le Demo­kra­tie ohne impe­ria­lis­ti­sche Ambi­tio­nen eine aus­ge­spro­chen wert­vol­le his­to­ri­sche Errun­gen­schaft ist, die man nicht leicht­fer­tig uto­pi­schen Phan­tas­te­rei­en opfern darf. Wahr­schein­lich bin ich also ein »Alt-1848er«. Nicht zufäl­lig ist die erfolg­lo­se Revo­lu­ti­on damals immer noch der Teil der deut­schen Geschich­te, der mir am meis­ten Gän­se­haut verursacht.

Und die edlen Idea­le? Sol­len mei­ne Kin­der groß wer­den, ohne jemals das süße Gift der brü­der­li­chen Gemein­schaft aller Men­schen genos­sen zu haben …? Nun, die Ableh­nung eines Extrems bedeu­tet ja nicht, dass man den zugrun­de lie­gen­den Wert ins­ge­samt ablehnt – der Mensch ist eben­so wenig ganz und gar brü­der­lich, wie er aus­schließ­lich in Kon­kur­renz zuein­an­der leben kann. Wo genau der Kom­pro­miss liegt, den man zwi­schen den bei­den Extre­men fin­det, wird immer Gegen­stand des poli­ti­schen Streits blei­ben. Und mei­nen Kin­dern wün­sche ich (inso­fern ich mich da über­haupt ein­mi­sche), dass sie im Leben ein paar Umwe­ge weni­ger gehen müs­sen als ich …

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Dem geneigten Publico zur nachdrücklichen Mahnung

Wie flei­ßig Stu­die­re­rey alter Urkund hat erge­ben, ist unser alt­be­währt Hei­lig Römisch Reich Teut­scher Nati­on nit so ter­mi­nie­ret wor­den, als der Juris­pru­den­tiae Kunst erfor­dert habe. Hat wohl sei­ne Majes­tät Kai­ser Franz der Zwey­te im Jahr acht­zehn­hun­dert­und­vier uff Bedrän­gung des schänd­lich Pre­mier Con­sul de la Répu­bli­que Napo­leo­nis nie­der­ge­legt seyn Kron, haben aber des Rei­ches Fürs­ten wie Prä­la­ten und freye Städ­te, so Reichs­stän­de genannt, nit con­vo­ci­ret einen Reichs­tag zum Beschluss der Auf­he­bung des alten Impe­rii Romano­rum wie erfor­der­lich. Soll hei­ßen, das Reich bestehe seit­her fort auch ohne Kai­ser bis heut. Anzu­mah­nen sey daher die Con­vo­ca­tio des Immer­wäh­ren­den Reich­tags zu Regen­spurg, wor­auff man beschlie­ßen möge die Ent­sen­dung des Exer­ci­ti Impe­rii, so Reichs­heer genannt, in die Preu­ßisch Haupt­stadt, um dort ein End zu berei­ten den Kaba­len, wel­che in Anse­hung des Weibs­bilds, wel­ches sich anma­ßet die Can­cel­arii Digni­tatem, und des Mise­ra­bi­lis, so vor­mals Can­cel­arii Can­di­da­tus, auf die unge­rech­tes­te Wei­se sind began­gen worden.

BENEDICTVS DOMINVS DEVS QUI DOCET MANVS!

Alkohol und Schusswaffen

Im letz­ten Post habe ich die Hoyai­sche Kir­chen­ord­nung von 1581 zitiert, in der unter ande­rem die »Meigreff­schaf­ten« ver­bo­ten wur­den. Es gab also offen­bar auch in unse­rem klei­nen, beschau­li­chen Dorf den in vie­len Gegen­den Deutsch­lands und Skan­di­na­vi­ens ver­brei­te­ten Brauch, jedes Jahr unter den jun­gen, unver­hei­ra­te­ten Män­nern einen soge­nann­ten »Mai­gra­fen« zu wäh­len, der als Anfüh­rer des Pfingst­um­gangs (in der Kir­chen­ord­nung »Pfingst­gil­de« genannt) fun­giert und – oft­mals zusam­men mit einer »Mai­grä­fin« – auch den wei­te­ren Fest­lich­kei­ten und Riten vor­sitzt, die sich im Umfeld der Früh­jahrs­bräu­che abspie­len. Ein »Graf« ist er des­we­gen, weil er sozu­sa­gen den »König« ver­tritt, das heißt den Früh­ling selbst, der in die­ser Zeit mit Macht ins Land kommt und die Geis­ter der Vege­ta­ti­on antreibt, die wie jedes Jahr für neu­es Leben sor­gen sollen.

Das Amt geriet irgend­wann in Ver­ges­sen­heit, nur den Pfingst­um­zug gibt es immer noch. Frü­her wur­den dazu in der Nacht zum Pfingst­sonn­tag jun­ge Bir­ken­bäu­me an die Häu­ser der unver­hei­ra­te­ten jun­gen Frau­en gelehnt und am fol­gen­den Tag bei einem zere­mo­ni­el­lem Zug durchs Dorf ritu­ell mit einem Eimer Was­ser »begos­sen«, wor­auf­hin der Wirt des jewei­li­gen Anwe­sens den Bur­schen eine Lage Bier oder Korn spen­dier­te. Der Brauch ist in den letz­ten Jahr­zehn­ten inso­fern etwas aus­ge­ar­tet, als dass mitt­ler­wei­le an jedes Haus eine Bir­ke gestellt wird. Offen­bar emp­fand man mit der Locke­rung der Sit­ten ab den 1960er Jah­ren die alte Regel als nicht mehr zeit­ge­mäß und sah gleich­zei­tig die Gele­gen­heit, in den Genuss grö­ße­rer Men­gen von Alko­hol zu kom­men, sodass nun nicht mehr jeder Pfingst­um­gang in völ­li­ger Ord­nung sein Ziel erreicht und vie­le Bewoh­ner dazu über­gan­gen sind, den fäl­li­gen Obo­lus in Geld­form zu entrichten.

Der Suff spiel­te zu Pfings­ten aller­dings schon frü­her eine nicht ganz uner­heb­li­che Rol­le. Wie alten Gerichts­ak­ten vom Ende des 17. Jahr­hun­derts, die das Lan­des­ar­chiv auf­be­wahrt, zu ent­neh­men ist, war das Ver­bot von 1581 unwirk­sam geblie­ben, außer­dem erfah­ren wir dort, dass frü­her zum Abschluss des Pfingst­um­gangs ein »Gra­fen­bier« im Hau­se des Mai­gra­fen statt­fand. Im Jahr 1651 war das der Sohn eines Bau­ern, der sei­nen Hof genau in der Orts­mit­te hat­te (heu­te nicht mehr vor­han­den). Den Aus­sa­gen der Zeu­gen zufol­ge wur­de ordent­lich gebe­chert, wobei sich vor allem der Sohn des hie­si­gen Pas­tors her­vor­tat, der eigent­lich nicht mehr im Dorf wohn­te, son­dern zu den Sol­da­ten gegan­gen war und wohl über die Fei­er­ta­ge sei­ne Eltern besuch­te. Er prahl­te mit sei­ner Pis­to­le her­um, die ihn als Kaval­le­ris­ten aus­weist (die Mus­ke­tie­re schos­sen damals in der Regel – und ent­ge­gen tau­sen­den von Man­tel-und-Degen-Fil­men – mit dem Ding, nach dem sie benannt waren). Es kam zum Streit, und der jun­ge Sol­dat wank­te schließ­lich von dan­nen in Rich­tung Pastorenhaus.

Nach einer Wei­le ver­lie­ßen auch ein paar ande­re die Fei­er, die nicht weni­ger betrun­ken waren, dar­un­ter auch der frisch ver­hei­ra­te­te Jung­bau­er eines der Nach­bar­hö­fe. Brauch und Her­kom­men zufol­ge hät­te er als Ver­hei­ra­te­ter eigent­lich nicht mehr am Pfingst­um­gang teil­neh­men dür­fen und war wahr­schein­lich nur aus alter Gewohn­heit beim Gra­fen­bier auf­ge­taucht, um beim Zechen nicht leer aus­zu­ge­hen. Die bei­den Kum­pa­nen, die ihn beglei­te­ten, sag­ten spä­ter aus, das Gra­fen­bier sei zu Ende gegan­gen, und man habe nicht so recht gewusst, ob es nun nach zu Hau­se gehen soll­te oder irgend­wo­hin wei­ter­ze­chen. Wie dem man auch sein – man setz­te sich in Bewe­gung und kam bald zum nahe gele­ge­nen Kirch­hof, an des­sen Ein­frie­dung man über­ra­schend auf den Pas­to­ren­sohn traf. Kaum wur­de der Kaval­le­rist der Neu­an­kömm­lin­ge gewär­tig, hat­te er auch schon sei­ne Pis­to­le gezo­gen und woll­te in die Luft schießen.

Lei­der ging sein Püs­ter nicht los – was bei den Stein- oder Rad­schloss-Schieß­prü­geln der dama­li­gen Zeit nicht unge­wöhn­lich ist, auf die ande­ren Zech­brü­der aber genau den gegen­tei­li­gen Effekt des beab­sich­tig­ten hat­te. Eine tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Fern­dia­gno­se spa­re ich mir hier, aber der Jung­bau­er lach­te laut­hals auf und ver­höhn­te den ver­hin­der­ten Schüt­zen, es gehö­re wohl ein Becher Was­ser oder Bier auf die Pis­to­le, damit sie schie­ßen kön­ne. Der Sol­dat fühl­te sich selbst­ver­ständ­lich in sei­ner Sol­da­ten­eh­re (und wo auch sonst noch) ver­letzt und spann­te dro­hend den Hahn der Pis­to­le erneut, um dem fre­chen Ben­gel zu zei­gen, dass die Pis­to­le sehr wohl schie­ßen kön­ne, der Jung­bau­er nahm dies als Auf­for­de­rung zum Kampf und stürz­te sich auf den Kon­tra­hen­ten, ein Geran­gel ent­spann sich (wir wol­len anneh­men, dass die ande­ren bei­den Zech­brü­der den Kampf fei­xend kom­men­tier­ten), und es kam, wie es kom­men muss­te – ein Schuss lös­te sich und fuhr dem Jung­bau­ern in den Leib, dass er hilf­los zusammensackte.

Die Zeu­gen­aus­sa­gen sind ein wenig wirr, aber danach ist der Täter wohl über den Zaun des Kirch­hofs gesprun­gen und hat das Wei­te gesucht. Der Ver­wun­de­te hin­ge­gen wur­de auf sei­nen Hof gebracht, und man schick­te nach dem »Bal­bie­rer« in Hoya (die Bart­sche­rer waren damals neben­her als Wund­hei­ler tätig), der aber nichts mehr ret­ten konn­te, denn nächs­ten Tag ver­starb der Jung­bau­er unter star­ken Schmer­zen. Die Akten sind lei­der nur bruch­stück­haft über­lie­fert, sodass nicht klar ist, ob der Täter spä­ter gefasst wur­de oder sich gestellt hat; in jedem Fall hat er sich zwei Jah­re spä­ter mit dem Argu­ment ver­tei­digt, alles sei nur zufäl­lig so pas­siert und der Schuss habe sich von selbst gelöst. Auch das Urteil ken­nen wir lei­der nicht, kön­nen uns aber aus­ma­len, dass der voll­trun­ke­ne Zustand der Zeu­gen zur Tat­zeit nicht gera­de dazu bei­getra­gen hat, den Sach­ver­halt zu klären.

Und was ler­nen wir dar­aus? Ergibt sich ja eigent­lich von selbst …

Damals unter den Taliban (4)

Deut­lich här­ter als in den bis­he­ri­gen Fund­stü­cken ging es Ende des 16. Jahr­hun­derts zu. Damals hat­te sich die Refor­ma­ti­on in unse­ren Brei­ten nach eini­gen mehr oder weni­ger tur­bu­len­ten Jahr­zehn­ten end­gül­tig durch­ge­setzt, und der letz­te Graf von Hoya-Bruch­hau­sen ließ für sei­nen Herr­schafts­be­reich 1581 eine Kir­chen­ord­nung aus­ar­bei­ten, in der auch mora­lisch uner­wünsch­te Hand­lun­gen sei­ner Unter­ta­nen eine gewis­se Berück­sich­ti­gung fanden:

Ehe­bruch / öffent­li­che / mut­wil­li­ge stras­sen­rüch­ti­ge / unver­schemnde hure­rey / Meg­de- / Jung­frawn- und Wit­wen­schen­der / heim­lich zusam­men lauf­fen / blut­schen­de­rey / und ande­re unehr­li­che und unziem­li­che / unzüch­ti­ge miß­hand­lung und las­ter / umb wel­cher wil­len der Zorn Got­tes über die welt / land und leu­te / kompt / Ord­nen wir mit gefeng­nis / mit ver­wei­sung des Lands / Kack­strei­chen / und mit dem Schwerd / nach gele­gen­heit der that / zu straf­fen / dar­nach sich jeder­mann wis­se zu richten.

»Kack­strei­chen« ist jetzt nicht das, was man denkt, son­dern bedeu­tet »jeman­dem Strei­che ver­set­zen, der am Kack (=Pran­ger) steht«, also die öffent­li­che Aus­peit­schung. Immer­hin erlaub­te die Obrig­keit so eine Art Schüt­zen­fest (das also hier­zu­lan­de eine älte­re Tra­di­ti­on hat, als man gemein­hin denkt):

Nach­dem die hohen Fest / son­der­lich Ostern und Pfings­ten / durch die Oster feu­er / Meigreff­schaf­ten / Pfingst­gil­de / Vogel­schies­sen / und ande­re unnüt­ze Zeh­rung / miß­brauch­tet und pro­pha­nie­ret wer­den / Ord­nen wir /das sol­che mißb­reu­che gent­z­lich sol­len nach­blei­ben / Doch wol­len wir unsern Untertha­nen ver­güns­ti­gen / das sie zur Übung / den letz­ten tag in den Pfings­ten / oder sonst auff einen werckel­tag / nach altem her­gen­brach­ten gebrauch / den Vogel schies­sen mögen.

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