Im letzt­wö­chi­gen Bei­trag für den Arch­druid Report bin ich ein wenig von mei­nem übli­chen The­men­spek­trum abge­wi­chen und habe mich mit dem beschäf­tigt, was ich die “Por­no­gra­phie der poli­ti­schen Angst” in den USA nen­ne. Für die­se Abwei­chung hat­te ich aller­dings mei­ne Grün­de: Ich woll­te die Auf­merk­sam­keit auf die reflex­haf­te Ten­denz so vie­ler Ame­ri­ka­ner rich­ten, eine letzt­end­lich para­no­ide Mytho­lo­gie des leib­haf­ti­gen Bösen auf den jeweils ent­ge­gen­ge­setz­ten Teil des poli­ti­schen Spek­trums zu pro­ji­zie­ren, und auf die­se Wei­se eine Debat­te dar­über in Gang brin­gen, wie immens tief der Gra­ben zwi­schen Erwar­tun­gen und Rea­li­tä­ten ist, der jede Initia­ti­ve zum sozia­len Wan­del lähmt, hier in Ame­ri­ka wie anderswo. 

Ich muss sagen, dass die wah­ren Gläu­bi­gen die­ser Mytho­lo­gie den Köder mit gro­ßem Enthu­si­as­mus geschluckt haben. Ich erhielt eine rekord­ver­däch­ti­ge Men­ge an wüten­den, in leb­haf­ter und teil­wei­se nicht druck­fä­hi­ger Spra­che gehal­te­nen Schimpf­ka­no­na­den, weil ich den Vor­schlag gemacht hat­te, man sol­le doch Men­schen anhand ihrer Taten beur­tei­len, nicht anhand der Absich­ten, die ihnen von ihren ärgs­ten Fein­den unter­stellt wer­den. Am meis­ten gefiel mir dar­un­ter eine don­nern­de Ankla­ge­re­de, die mit der For­de­rung been­det wur­de, ich sol­le umge­hend von mei­nem Amt als Erz­drui­de zurück­tre­ten. Der Ver­fas­ser umschiff­te irgend­wie die Fra­ge, war­um die Bereit­schaft, sei­ne extre­mis­ti­sche Ideo­lo­gie zu akzep­tie­ren, eine Vor­aus­set­zung für das Beklei­den die­ser Posi­ti­on sein soll­te, daher bin ich auf sei­nen Rat nicht eingegangen. 

Zufäl­li­ger­wei­se ver­brach­te ich dann den Groß­teil des Wochen­en­des damit, die denk­wür­dig bizar­ren Lebens­er­in­ne­run­gen Erin­ne­run­gen, Träu­me, Gedan­ken von C. G. Jung zu lesen, daher war es schwie­rig, nicht sofort an die Bedeu­tung des Jung’schen Kon­zepts der Schat­ten­pro­jek­ti­on für all dies zu den­ken. Der “Schat­ten” ist Jungs Bezeich­nung für den Müll­con­tai­ner des Geis­tes, in den ein­zel­ne Men­schen und gan­ze Gesell­schaf­ten die Aspek­te ihres Selbst packen, mit denen sie nicht kon­fron­tiert wer­den möch­ten. Wenn der Müll­con­tai­ner zu voll wird, führt einer der mög­li­chen Fluch­ten vor der dro­hen­den Selbst­er­kennt­nis dazu, den Inhalt auf jemand ande­ren abzu­la­den und zu behaup­ten, die frag­wür­di­gen Eigen­schaf­ten sei­en die jenes Sün­den­bocks und nicht die eigenen. 

Man muss sich in die­sem Zusam­men­hang vor Augen hal­ten, dass Sün­den­bö­cke nur in moder­nen Moral­dra­men unwei­ger­lich tugend­haft und unschul­dig sind. In der Wirk­lich­keit ist es hin­ge­gen häu­fig so, dass die betref­fen­de Per­son durch­aus Feh­ler hat, auch sol­che schwer­wie­gen­der Art, und die­se Feh­ler wer­den dann dafür ver­wen­det, sämt­li­che Anschul­di­gun­gen zu recht­fer­ti­gen, mit denen sie sonst noch über­häuft wird. Die­ser Mecha­nis­mus scheint bei allen Men­schen ver­brei­tet zu sein – ich zweif­le sehr dar­an, dass irgend­je­mand von uns völ­lig frei davon ist, den Men­schen, die wir nicht mögen, unse­re eige­nen schlimms­ten Eigen­schaf­ten anzu­dich­ten –, zeigt aber je nach Indi­vi­du­um, Kul­tur und his­to­ri­scher Epo­che ver­schie­den star­ke Aus­prä­gun­gen, und Jung hat­te sicher recht damit zu beto­nen, dass er dann am stärks­ten wirkt, wenn ein Ein­zel­ner oder eine Gesell­schaft von dem Gegen­satz zwi­schen dem, was sein soll, und dem, was ist, zer­ris­sen wird. 

Wel­chen grö­ße­ren his­to­ri­schen Aus­bruch an gewalt­tä­ti­ger und mas­sen­haf­ter Opfe­rung von Sün­den­bö­cken man auch immer betrach­tet – er fand in der Regel im Kon­text eines sozi­al akzep­tier­ten Glau­bens­sys­tems statt, das mit einer ver­än­der­ten Welt nicht mehr Schritt hal­ten konn­te. In den euro­päi­schen Hexen­ver­fol­gun­gen zeig­te sich bei­spiels­wei­se der Zusam­men­bruch der spät­mit­tel­al­ter­li­chen Welt­vor­stel­lun­gen, die sich in dem Maße zum Dog­ma ver­här­te­ten, wie sie an den Rän­dern aus den Fugen gerie­ten, und eben­so spiel­te die fata­le Kluft zwi­schen den Träu­men von einer deut­schen Welt­herr­schaft und dem tat­säch­li­chen Sta­tus Deutsch­lands als klei­nes Land ohne Ölre­ser­ven und leicht zu ver­tei­di­gen­de Gren­zen in einer Ära raum­grei­fen­der Erd­öl-Impe­ri­en eine wich­ti­ge Rol­le dabei, den Boden für die kata­stro­pha­le Geschich­te des Lan­des im 20. Jahr­hun­dert zu bereiten. 

Aus die­ser Per­spek­ti­ve gese­hen wird die Lage im heu­ti­gen Ame­ri­ka dadurch inter­es­sant, dass der dor­ti­ge Main­stream eben­so wie die ver­schie­de­nen selbst­er­nann­ten alter­na­ti­ven Gegen­kul­tu­ren in ver­gleich­ba­re emo­tio­na­le Zwick­müh­len gera­ten sind. Vie­le mei­ner Bei­trä­ge hier, und natür­lich jede Men­ge exzel­len­ter Ana­ly­sen ande­rer Autoren, dre­hen sich dar­um, wie die Nar­ra­ti­ve des heu­ti­gen kul­tu­rel­len Main­streams in den USA eine Welt­sicht des ewi­gen Fort­schritts und gren­zen­lo­sen Über­flus­ses auf der Grund­la­ge der vor­über­ge­hen­den Ver­füg­bar­keit bil­li­ger fos­si­ler Brenn­stof­fe geschaf­fen haben, die durch das Ende des Ölzeit­al­ters hoff­nungs­los irrele­vant wird. Weni­ger oft dis­ku­tiert, und mei­ner Mei­nung nach auch weni­ger häu­fig beach­tet, wird der Umstand, dass die meis­ten der gän­gi­gen Vor­schlä­ge, wie die jet­zi­ge Gesell­schafts­ord­nung durch eine bes­se­re zu erset­zen wäre, eben­so auf Vor­stel­lun­gen von der Welt basie­ren, die sich im Lich­te der Rea­li­tät als kaum halt­bar erweisen. 

Die­se Dis­kre­panz lässt sich am bes­ten ent­lang einer spe­zi­fi­schen Bruch­li­nie ver­fol­gen, die Visio­nen der Zukunft von den jet­zi­gen Rea­li­tä­ten trennt. Eine typi­sche Eigen­schaft der in letz­ter Zeit vor­ge­brach­ten Vor­schlä­ge für grund­le­gen­den sozia­len Wan­del besteht dar­in, dass die davon aus­ge­mal­te bes­se­re Welt – jeden­falls in theo­re­ti­scher Hin­sicht – in jeder von den jewei­li­gen Ver­fas­sern betrach­te­ten Hin­sicht bes­ser ist. Es ist sel­ten von Kom­pro­mis­sen die Rede, und man ver­misst jedes Gefühl für die bit­te­ren Ent­schei­dun­gen, auf die die Wahl­mög­lich­kei­ten rea­ler Gesell­schaf­ten in der rea­len Welt so oft beschränkt sind. Die Bewoh­ner der glück­li­chen Zukunft müs­sen weder zwi­schen Frie­den und Frei­heit noch zwi­schen der Ernäh­rung der Hun­gern­den und dem Umwelt­schutz wäh­len, sie müs­sen zwi­schen über­haupt nichts wäh­len – hat man erst das rich­ti­ge Gesell­schafts­sys­tem, so scheint die Schluss­fol­ge­rung, muss man offen­bar kei­ner­lei Abstri­che mehr machen. 

Wenn man nun die Wege betrach­tet, auf denen die­se bes­se­ren Wel­ten erreicht wer­den sol­len, tut sich die­sel­be Kluft auf. Ob man nun auf Orga­ni­sa­tio­nen, poli­ti­schen Aktio­nis­mus und der­glei­chen oder auf irgend­ei­nen Deus ex machi­na ver­traut, ob die gro­ße Umwäl­zung der alten Ord­nung über eine Kata­stro­phe oder auf mys­ti­sche Wei­se erreicht wer­den soll – bei­na­he immer wird vor­aus­ge­setzt, dass das ein­zi­ge Hin­der­nis auf dem Weg nach Uto­pia, der ein­zi­ge Fak­tor, der die Men­schen zu schwie­ri­gen und unlieb­sa­men Ent­schei­dun­gen zwingt, in den Insti­tu­tio­nen, Men­schen und Ein­stel­lun­gen der heu­ti­gen Welt begrün­det ist. 

Die­se selt­sa­me Denk­ge­wohn­heit beruht auf einer ein­zi­gen Annah­me, näm­lich der, dass die mög­li­che Per­fek­ti­on der mensch­li­chen Gesell­schaft durch nichts wei­ter als mensch­li­che Ent­schei­dun­gen begrenzt wäre. Der Annah­me zugrun­de liegt wie­der­um der Ver­nunft­kult des Auf­klä­rungs­zeit­al­ters mit sei­nem Pres­ti­ge und sei­ner Über­zeu­gung, dass allein die Kon­struk­ti­on einer bes­se­ren sozia­len Mau­se­fal­le aus­reicht, um die Mensch­heit schnur­stracks nach Uto­pia zu ver­set­zen. Es fällt aller­dings schwer, sich eine Annah­me vor­zu­stel­len, die von der Geschich­te gründ­li­cher wie­der­legt wor­den wäre. Kon­se­quen­ter­wei­se hat sich eine Gesell­schaft denn auch als umso desas­trö­ser in der Pra­xis erwie­sen, je uto­pi­scher sie sich in der Theo­rie aus­ge­macht hat­te. Wer immer für sozia­len Wan­del ein­tritt, beharrt in der Regel dar­auf, dass dies bei sei­ner spe­zi­el­len neu­en Gesell­schaft anders sei, aber von der heu­ti­gen geschicht­li­chen War­te aus gese­hen wirkt die­ses Behar­ren doch reich­lich abgenutzt. 

Die Crux bei den meis­ten der heu­ti­gen Ideen für sozia­len Wan­del könn­te also genau dar­in lie­gen, dass sie – auch wenn sie im Gewand öko­lo­gi­scher Schlag­wör­ter ein­her­ge­hen – auf einer fun­da­men­ta­len Ver­leug­nung öko­lo­gi­scher Prin­zi­pi­en beru­hen. Man stel­le sich für einen Moment vor, wir wür­den nicht über mensch­li­che Gesell­schaf­ten, son­dern über Öko­sys­te­me reden, die aus ande­ren Lebe­we­sen bestehen. Sol­che Öko­sys­te­me haben sich über vie­le Genera­tio­nen hin­weg in Bezie­hung zu ande­ren, leben­den wie nicht-leben­den Sys­te­men ent­wi­ckelt, und sie wer­den über kom­ple­xe Gleich­ge­wichts­me­cha­nis­men aus­ta­riert, deren Ana­ly­se die Wis­sen­schaft vor die größ­ten Her­aus­for­de­run­gen stellt. Was pas­siert, wenn Men­schen sich dar­an machen, sol­che Öko­sys­te­me so umzu­bau­en, dass sie ihnen den größt­mög­li­chen Nut­zen brin­gen, ins­be­son­de­re wenn sie glau­ben, dass die neu ent­stan­de­nen Öko­sys­te­me, wenn sie ihnen nur gefal­len, zwangs­läu­fig auch sta­bil, aus­ge­wo­gen und gesund sein müssen? 

Natür­lich brau­chen wir die Ant­wort auf die­se Fra­ge nicht zu mut­ma­ßen – die kata­stro­pha­len Ergeb­nis­se des mensch­li­chen Miss­ma­nage­ments natür­li­cher Öko­sys­te­me sind nur all­zu gut doku­men­tiert. Unse­re Spe­zi­es hat wie­der und wie­der schmerz­haft erfah­ren müs­sen, dass Ände­run­gen an Öko­sys­te­men nur mit extre­mer Vor­sicht vor­ge­nom­men wer­den dür­fen. Sol­che Ände­run­gen sind nicht unmög­lich – welt­weit haben tra­di­tio­nel­le Gesell­schaf­ten Wege gefun­den, wie sie ihre Umwelt zum mensch­li­chen Nut­zen umge­stal­ten kön­nen, ohne die Gesamt­in­te­gri­tät des Öko­sys­tems zu gefähr­den, und die heu­ti­gen Per­ma­kul­turis­ten und Ent­wick­ler ange­pass­ter Tech­no­lo­gie zie­len in die­sel­be Rich­tung –, aber sie kön­nen nur in klei­nen Schrit­ten erfol­gen, und man braucht dafür gro­ßes Wis­sen und noch grö­ße­re Geduld. 

Ich bin immer mehr der Mei­nung, dass dies auch für mensch­li­che Gesell­schaf­ten gilt. Das Stu­di­um der Öko­lo­gie des Men­schen hat gezeigt, dass unse­re Spe­zi­es und unse­re Gesell­schaf­ten von den­sel­ben Prin­zi­pi­en geformt wer­den, die auch für die Umwelt­be­zie­hun­gen ande­rer Spe­zi­es und ande­rer Gesell­schaf­ten gel­ten. Wie die­se ande­ren Lebe­we­sen sind Men­schen für ihr Über­le­ben von natür­li­chen Zyklen abhän­gig und unter­lie­gen natür­li­chen Gren­zen. Wie die Gesell­schaf­ten ande­rer Lebe­we­sen wer­den mensch­li­che Gesell­schaf­ten – vom Dorf bis zum Natio­nal­staat – von ihrer Geschich­te geformt, pas­sen sich an ihre Umwelt an, müs­sen har­te Ent­schei­dun­gen tref­fen, um zwi­schen kon­kur­rie­ren­den Gütern zu wäh­len, und reagie­ren auf radi­ka­le Ände­run­gen selbst­re­gu­lie­rend mit kom­pen­sie­ren­den Gegenbewegungen. 

Sozia­ler Wan­del ist daher – eben­so wie der Wan­del von Öko­sys­te­men – durch­aus mög­lich, muss aber mög­li­cher­wei­se ganz anders ange­gan­gen wer­den als in den uto­pi­schen Ideo­lo­gien der Gegen­wart und jüngs­ten Ver­gan­gen­heit vor­ge­se­hen. Wenn wir die mensch­li­che Öko­lo­gie ernst­neh­men, soll­ten wir wohl damit anfan­gen, die öko­lo­gi­schen Bedin­gun­gen – die Bezie­hun­gen zwi­schen Men­schen, ande­ren Lebe­we­sen und der unbe­leb­ten Natur – zu stu­die­ren, die wün­schens­wer­ten sozia­len Wan­del begüns­ti­gen könn­ten. Dann kön­nen die­je­ni­gen, die einen sol­chen Wan­del anstre­ben, sich – ganz wie die Gärt­ner in tra­di­tio­nel­len Stam­mes­ge­mein­schaf­ten, die vor­sich­tig schäd­li­che durch Nutz­pflan­zen erset­zen – dar­an machen, sol­che Bedin­gun­gen zu schaf­fen. Dabei müs­sen sie aber immer die Ergeb­nis­se im Auge behal­ten und sich von ihrer Erfah­rung lei­ten las­sen, nicht von irgend­wel­chen Ideologien. 

Soweit mir bekannt ist, keimt die Kunst der ange­wand­ten mensch­li­chen Öko­lo­gie oder sozia­len Öko­tech­nik bis­lang nur aus­ge­spro­chen spär­lich, und es wer­den kei­ne gerin­gen Anstren­gun­gen nötig sein, um ihr zukünf­ti­ges Wachs­tum zu sichern. Nichts­des­to­trotz ist der Ver­such, einer bes­se­re Gesell­schaft zu schaf­fen, indem man sie an irgend­ein ideo­lo­gi­sches Modell anpasst, so lücken­los schief­ge­gan­gen, dass es höchs­te Zeit ist, mal etwas ande­res zu probieren. 

http://thearchdruidreport.blogspot.com/2009/01/ecology-of-social-change.html

deut­sche Über­set­zung Bernd Ohm 2009, mit frdl. Geneh­mi­gung von John Micha­el Greer) 

28.1.2009