Jetzt liegt es also im Buch­la­den. Sie zah­len zwei­und­zwan­zi­gneun­zig und kön­nen es mit nach Hau­se neh­men. Oder online bestel­len, und ein paar Tage spä­ter klin­gelt der Post­bo­te und drückt es Ihnen in die Hand. Ich soll­te mich wohl gera­de wie ein stol­zer Vater füh­len, aber um ehr­lich zu sein – ich habe mei­ne wirk­li­chen Kin­der in den Hän­den gehal­ten, als sie gera­de gebo­ren waren, und nichts auf der Welt lie­ße sich damit ver­glei­chen. Trotz­dem, ich bin sehr zufrie­den mit dem Buch.

Aber war­um soll­ten Sie es lesen? Fünf­hun­dert Sei­ten über einen längst ver­ges­se­nen Mord, der sich in der Münch­ner Nach­kriegs­zeit abge­spielt hat? Eine Haupt­fi­gur, die im Som­mer 1942 als Ange­hö­ri­ger eines Batail­lons der Ord­nungs­po­li­zei in der Ukrai­ne war? Ermitt­lun­gen unter Über­le­ben­den der Sho­ah? Um die sieb­zig Jah­re ist das nun alles her, wer will das noch wis­sen, und kann nicht end­lich mal Schluss sein …?

Nein. Es wird nie Schluss sein. Je mehr man sich mit dem „Drit­ten Reich“ und sei­nen Gräu­eln beschäf­tigt, des­to kla­rer wird einem, dass noch in tau­send Jah­ren Leu­te aus ihren Geschichts­bü­chern auf­bli­cken und miss­trau­isch das betrach­ten wer­den, was in jenen fer­nen Tagen Deutsch­land hei­ßen mag. Das haben deren Vor­fah­ren gemacht …? Ja, sie bau­en tol­le Autos (oder was auch immer), sie kön­nen gut orga­ni­sie­ren, sie wer­den erst dann pene­trant leut­se­lig, wenn sie zu viel getrun­ken haben, und im Lau­fe der Jahr­hun­der­te sind sie sogar ein wenig welt­läu­fig gewor­den. Aber – das?!? Und so wie wir heu­te mit leich­tem Schau­der von den Schä­del­py­ra­mi­den lesen, die die Mon­go­len der­einst vor Bag­dad auf­rich­te­ten, wird in spä­te­ren Genera­tio­nen das Wort „Ausch­witz“ durch die dunk­len Träu­me der Men­schen geis­tern, eine Chif­fre für das abso­lut Böse, wie sie kaum zu über­bie­ten ist. Und nie­mand, nie­mand wird das alles je ver­ges­sen, am aller­we­nigs­ten wir selbst.

Umso wich­ti­ger ist es zu ver­ste­hen, was eigent­lich pas­siert ist. Ich habe, wie man in mei­ner Bun­des­wehr­zeit sag­te, kei­ne Löcher in den Hän­den und kann nicht alle Fra­gen beant­wor­ten. Ich habe mir auch nur einen bestimm­ten Aspekt aus dem Gro­ßen Gan­zen her­aus­ge­pickt und ver­sucht, mich dem The­ma so furcht­los und unvor­ein­ge­nom­men wie mög­lich zu nähern. Aber wenn ich damit einen klei­nen Bei­trag zur Erhel­lung die­ser fins­te­ren Zei­ten geleis­tet haben soll­te, bin ich schon zufrieden.

Doch haben wir Heu­ti­gen nicht ganz ande­re Pro­ble­me? Nie­mand außer den absei­tigs­ten Spin­nern wür­de in die­se Zeit zurück­wol­len! Na ja … Wenn ich so an die Nach­rich­ten der letz­ten Mona­te zurück­den­ke, habe ich manch­mal im Gegen­teil das Gefühl, dass Wolfs­stadt aktu­el­ler gar nicht sein könn­te. Nein, nicht weil gera­de jemand einen Air­bus gegen einen Berg geflo­gen und außer sich selbst noch 149 wei­te­re Men­schen getö­tet hat. Die Medi­en nen­nen ihn einen Amok­läu­fer und mei­nen, er habe die „abso­lu­te Macht“ des Mas­sen­mords spü­ren wol­len, aber ich sehe nichts als das, was man frü­her einen rap­tus melan­cho­li­cus genannt hät­te, und einen psy­chisch Kran­ken, der nie­mals an den Steu­er­knüp­pel eines Flug­zeugs gedurft hät­te. Um abso­lu­te Macht zu spü­ren, muss man in die Augen sei­ner Opfer sehen können.

Den­ken Sie statt­des­sen an jenes Land, das man Dok­tor Sal­kind zufol­ge betrat, wenn man an der Ram­pe des Bahn­hofs von Ausch­witz ankam: den Bann­kreis des rei­nen Ter­rors, in dem die Zehn Gebo­te nicht mehr gal­ten, son­dern nur noch die Will­kür und das Gesetz des Stär­ke­ren, das­sel­be Land, in das es Haupt­wacht­meis­ter Leh­mann 1942 in der Ukrai­ne ver­schlägt. Leh­mann ist nur auf Befehl dort, nicht frei­wil­lig, aber er erliegt – wie fast alle sei­ne Kame­ra­den – den Ver­lo­ckun­gen, die dort zu fin­den sind.

Die­ses Land hat nie auf­ge­hört zu exis­tie­ren. Es fin­det sich etwa in den Tag­träu­men einer Genera­ti­on von jun­gen Män­nern, die nicht mehr zum Mili­tär muss und in den fried­volls­ten Zei­ten lebt, die Euro­pa seit Men­schen­ge­den­ken erlebt hat. Und trotz­dem sit­zen sie jeden Tag vor ihren Traum­ma­schi­nen und mähen mit Pixel­waf­fen Hor­den von Pixel­zom­bies oder Pixel­na­zis nie­der, die sich ihrem Ziel in den Weg stel­len, das Eli­xier der Unsterb­lich­keit zu fin­den oder auch nur die Mis­si­on zum Abschluss zu brin­gen. (Nein, nein – ich beken­ne mich schul­dig, ich bin weiß Gott nicht mehr jung, aber ich gehö­re auch noch halb dazu.)

Lei­der hat das Land inzwi­schen den Bereich der Ima­gi­na­ti­on ver­las­sen und brei­tet sich wie­der in der Wirk­lich­keit aus, im Grenz­ge­biet zwi­schen dem Irak und Syri­en zum Bei­spiel, wohin es die Abge­häng­ten und Halt­lo­sen Euro­pas treibt, auf der Suche nach einer Idee, die ihrem Leben Sinn ver­leiht. Aber viel­leicht auch auf der Suche nach einer Gele­gen­heit, ohne Furcht vor Stra­fe alle Regeln fah­ren zu las­sen, mit Skla­vin­nen und Plün­der­gut als Drein­ga­be. „Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mor­det?“, so Büch­ners berühm­te Fra­ge, auf die es immer noch kei­ne befrie­di­gen­de Ant­wort gibt. Aber es lügt, hurt, stiehlt und mor­det in Nini­ve und Mos­sul, in der Sir­te und in Tunis, in Baga und Mai­d­ugu­ri. Jiha­di John hat Infor­ma­tik stu­diert und köpft west­li­che Gei­seln, Deso Dogg hält grin­send deren abge­schla­ge­ne Köp­fe in die Kame­ra. „Natio­nal­so­zia­lis­mus, was für ein Dreck, von Men­schen­hand erschaf­fen“, rapp­te Denis Cus­pert vor Zei­ten – ob er ahnt, wie nahe er in sei­ner neu­en Rol­le den wirk­li­chen Nazis kommt?

Und aus­ge­rech­net in der Ukrai­ne haben sich die Pfor­ten der Höl­le nun eben­falls wie­der geöff­net. Russ­land­deut­sche und ver­wirr­te Putin-Jün­ger zie­hen nach „Neu­russ­land“, um sich den Sepa­ra­tis­ten anzu­schlie­ßen und Russ­lands hei­li­ge Erde vor den Zumu­tun­gen der Moder­ne zu schüt­zen. In Wirk­lich­keit öff­nen sie nur ein wei­te­res Kapi­tel im blu­ti­gen Buch der Geschich­te die­ses Land­strichs, in das sich außer den deut­schen Ein­satz­grup­pen und Poli­zei­ba­tail­lo­nen – unter ande­rem – die Gol­de­ne Hor­de, Boh­dan Chmiel­ni­ckis Kosa­ken, Sta­lins GPU und die Ukrai­ni­sche Auf­stands­ar­mee ein­ge­schrie­ben haben. „Bloo­d­lands“ nennt der US-His­to­ri­ker Timo­thy Sny­der die Gegend, wie wahr …!

Dies ist das Land, in dem Leh­mann und all die ande­ren waren, die in „Wolfs­stadt“ auf­tau­chen, als Täter oder als Opfer. Wir hat­ten in den letz­ten Jahr­zehn­ten das unglaub­li­che Glück, zu einer Zeit und an einem Ort zu leben, die jenes fins­te­re Reich nur als altes Schau­er­mär­chen kann­ten. Die­se Epo­che scheint nun vor­bei zu sein, gera­de ist in Paris in der Redak­ti­on von „Char­lie Heb­do“ sogar mit­ten unter uns ihre Toten­glo­cke geläu­tet wor­den, und wir müs­sen nun alle unser Mög­lichs­tes tun, die Wie­der­kehr der alten Dämo­nen zu verhindern.