Bin heu­te im Tag­träu­mer­mo­dus: ein­mal eine Geschich­te für das Fern­se­hen erzäh­len, die noch kei­ner erzählt hat! Mit Hand­lungs­bö­gen, die sich über meh­re­re Fol­gen erstre­cken, lebens­na­hen und doch kunst­vol­len Dia­lo­gen, rea­lis­ti­schen Figu­ren und jeder Men­ge Wut über den Zustand, in dem sich das Land und unse­re Gesell­schaft befin­den. Ein­mal wirk­lich aus dem Leben schöp­fen, wie David Simon, der sich nach dem erzwun­ge­nem Ende sei­ner Jour­na­lis­ten­kar­rie­re erst­mal ein Jahr lang an eine Stra­ßen­ecke stell­te, um die Leu­te zu ver­ste­hen, die dort Dro­gen verkauften!

Simon ist, wie inzwi­schen all­ge­mein bekannt sein dürf­te, der krea­ti­ve Kopf hin­ter der US-ame­ri­ka­ni­schen Fern­seh­se­rie “The Wire”, bei der über fünf Staf­feln hin­weg aus ver­schie­de­nen Blick­win­keln die gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Ver­hält­nis­se in Simons Hei­mat­stadt Bal­ti­more beleuch­tet wer­den. Die vom Bezahl­sen­der HBO von 2002 bis 2008 pro­du­zier­te Serie ist (zumin­dest in ihren ers­ten drei Staf­feln) tat­säch­lich das Meis­ter­werk der Erzähl­kunst, als das sie inzwi­schen land­auf, land­ab ange­prie­sen wird, und so kann es nicht ver­wun­dern, dass mitt­ler­wei­le so gut wie jeder deut­sche TV-Regis­seur, der etwas auf sich hält und mit­sch­nacken will, das Bal­ti­more-Epos im Inter­view zu sei­nem neu­es­ten Fern­seh­se­ri­en­pro­jekt als Inspi­ra­ti­ons­quel­le und Vor­bild erwähnt.

Ganz expli­zit war das bei “Im Ange­sicht des Ver­bre­chens” der Fall, einer ARD-Serie, die nicht nur einen sel­ten däm­li­chen Titel auf­wies, son­dern lei­der auch die eige­nen Ansprü­che nicht hal­ten konn­te. Ja, ja, da zogen sich “Hand­lungs­strän­ge über meh­re­re Ebe­nen”, und “ästhe­ti­sche Kame­ra­bil­der” gab es auch, aber der Plot dreht sich wie­der nur um den­sel­ben alten Quark, dies­mal dar­ge­bo­ten in einer kom­plett arti­fi­zi­el­len Welt, die von irgend­ei­ner “Rus­sen­ma­fia” han­deln soll, die in irgend­ei­ner Stadt namens “Ber­lin” eine irgend­wie gear­te­te “Unter­welt” beherrscht. Ach ja, und die Schwes­ter des Poli­zis­ten ist natür­lich mit dem Ober-Mafio­so liiert. Jim­my McNul­ty, hilf!Ich will hier nicht auf­zäh­len, wer sich hier­zu­lan­de noch alles in die Fuß­stap­fen David Simons bege­ben woll­te und dabei geschei­tert ist. Viel inter­es­san­ter ist es, die Grün­de zu beleuch­ten, war­um dies auch in Zukunft so blei­ben dürfte.

Es gibt keinen David Simon

Nein, ich bin auch kei­ner. Ich habe mal vor Jah­ren bei ein paar Dreh­bü­chern mit­ge­mischt (unter ande­rem bei dem hier, den Rest über­ge­he ich mit dezen­tem Schwei­gen) und wer­de nächs­tes Jahr einen Roman ver­öf­fent­li­chen, aber mei­ne Kennt­nis­se der orga­ni­sier­ten Kri­mi­na­li­tät in Deutsch­land beschrän­ken sich auf ein paar betrun­ke­ne Schmal­spur­ga­no­ven, die ich mei­ner lan­ge zurück­lie­gen­den Taxi­fah­rer­zeit nachts durch Mün­chen kut­schiert habe, und das, was so über den Dro­gen­han­del in der Zei­tung steht. Gesucht wäre aber jemand, der sich wirk­lich AUSKENNT. Jemand, der eine Zeit­lang bei irgend­ei­ner Pro­vinz­zei­tung den Poli­zei­be­richt betreut hat und wirk­lich WEISS, wie den ört­li­chen Gangs­tern der Schna­bel gewach­sen ist und mit wel­chen Akti­vi­tä­ten sie so ihre Tage ver­brin­gen. Jemand, der viel­leicht selbst aus einer Migran­ten­fa­mi­lie stammt und noch genug Ehr­geiz hat, über sich hin­aus­zu­wach­sen und etwas Beson­de­res zu schaf­fen. Jemand, der sei­ne Hei­mat­stadt nicht für das letz­te Pro­vinz­nest hält und mög­lichst schnell auf den Ber­li­ner Groß­stadt­spiel­platz flüch­ten möch­te, son­dern weiß, dass das Dra­ma der mensch­li­chen Exis­tenz an jedem Ort der Welt zu jeder Zeit mit der glei­chen Inten­si­tät gespielt wird.

Lei­der habe ich in mei­ner Zeit in der Film­bran­che aus­schließ­lich Leu­te ken­nen­ge­lernt, die in einer net­ten, durch­schnitt­li­chen Mit­tel­schichts­fa­mi­lie in einem net­ten, durch­schnitt­li­chen Ein­fa­mi­li­en­haus in einer net­ten, durch­schnitt­li­chen Vor- oder Klein­stadt auf­ge­wach­sen sind (meist irgend­wo im frü­he­ren West­deutsch­land) und deren wei­te­re Erfah­run­gen sich auf Abitur, Uni und/oder Film­hoch­schu­le sowie aus­gie­big Urlaub­ma­chen beschrän­ken. Das Leben ande­rer Leu­te ken­nen sie im Wesent­li­chen aus den Tau­sen­den von Fil­men und TV-Seri­en, die sie gese­hen haben, und eigent­lich möch­ten sie am liebs­ten all die­se Geschich­ten immer wie­der und immer wie­der von neu­em erzäh­len und sich dar­an ergöt­zen, dass sie alles so schön wie­der­erken­nen. Selbst­ver­ständ­lich woh­nen Sie in einer ele­gan­ten, reno­vier­ten Alt­bau­woh­nung in einem der Trend­vier­tel von Mün­chen, Köln, Ham­burg oder Ber­lin. Und selbst­ver­ständ­lich wür­den sie es für weit unter ihrer Wür­de befin­den, den oben erwähn­ten Pro­vinz­zei­tungs­re­dak­teur auch nur schief von der Sei­te anzusehen.

Es gibt niemanden, der den Mut hätte

In Deutsch­land exis­tie­ren zwei Mög­lich­kei­ten, um eine TV-Serie zu rea­li­sie­ren: über die öffent­lich-recht­li­chen Anstal­ten oder über die Pri­vat­sen­der. In bei­den Fäl­len gerät man an Leu­te, die seeeehr vor­sich­tig sind. Bei ARD und ZDF spie­len aller­lei Beden­ken­trä­ger eine Rol­le, schließ­lich will man kei­ne Min­der­hei­ten belei­di­gen oder den poli­ti­schen Par­tei­en, die im Rund­funk­rat ver­tra­ten sind, auf die Füße tre­ten. Kri­ti­sche Gedan­ken zur Lage der Gesell­schaft, ver­packt in eine schö­ne Kri­mi-Geschich­te, viel­leicht mit regio­na­lem Bezug, und am Ende löst das Kom­mis­sar-Bud­dy-Team den Fall? Kein Pro­blem. Aber stel­len wir uns ein­mal vor, wir woll­ten einem deut­schen Fern­seh­re­dak­teur den oben erwähn­ten Jim­my McNul­ty als Haupt­fi­gur andre­hen. Flucht her­um, dass wei­land Schi­m­an­ski dage­gen wie ein Chor­kna­be klingt. Säuft im Dienst und vögelt häu­fig wech­seln­de Bett­part­ne­rin­nen, dar­un­ter Staats­an­wäl­tin­nen, Poli­tik­be­ra­te­rin­nen und unzäh­li­ge Kell­ne­rin­nen. Die Gangs­ter­jagd ist eher ein Sport für ihn, als dass er groß Mit­leid mit den Opfern hät­te. In der fünf­ten Staf­fel erfin­det er sogar einen Seri­en­mör­der, um dem Mord­de­zer­nat end­lich wie­der aus­rei­chend Mit­tel zu ver­schaf­fen. Ein, ähem, eher ambi­va­len­ter Cha­rak­ter. Im deut­schen Fern­se­hen wür­den wir ihn viel­leicht in einer düs­te­ren Cha­rak­ter­stu­die sehen, die als Abschluss­film eines Film­hoch­schul-Absol­ven­ten in Zusam­men­ar­beit mit dem “Klei­nen Fern­seh­spiel” irgend­wann um 23:30 auf Arte aus­ge­strahlt wür­de. Aber zur Hauptsendezeit?

Für die Pri­va­ten hin­ge­gen wür­de ein­fach der Trash-Fak­tor feh­len. Hier müss­te McNul­ty ein ehe­ma­li­ger Stunt­man sein, der Avon Barks­da­le in sei­nem umge­bau­ten Ford Capri durch die Stra­ßen von Dort­mund ver­folgt und für beson­de­re Tricks auf sei­ne alten Kum­pels aus der Film­bran­che zurück­greift. Und sei­ne Freun­din wäre eine aus dem Rea­li­ty-TV bekann­te Blon­di­ne mit Sili­kon­brüs­ten und auf­ge­spritz­ten Lip­pen, deren Son­nen­stu­dio als gehei­me Kom­man­do­zen­tra­le dient. (Lachen Sie nicht, ich habe im rück­wär­ti­gen Bereich von Ton­stu­di­os und Schnitt­räu­men geses­sen und muss­te mir Ideen anhö­ren, die wesent­lich beknack­ter waren.) Aber wir wol­len nicht unge­recht sein. Die Pro­duk­ti­on einer Fern­seh­se­rie ist, im Gegen­satz etwa zur Her­stel­lung eines Romans, sehr teu­er, und ein Redak­teur bei einem Pri­vat­sen­der sitzt auf einem Feu­er­stuhl. Wenn die Quo­ten nicht stim­men – der nächs­te bit­te! Und wel­che Bier­mar­ke wür­de ihren Gers­ten­saft wohl ohne Bauch­schmer­zen in einem von McNul­ty & Co. gepräg­ten Umfeld bewerben?

HBO finan­ziert sich eben anders. Auf den deut­schen Markt ist der ame­ri­ka­ni­sche Abo-Sen­der aber eige­ner Aus­sa­ge zufol­ge nicht gegan­gen, weil sein typi­sches Zuschau­er­seg­ment dort schon von den Öffent­lich-Recht­li­chen abge­deckt sei. Und die – na ja, sie­he oben.

Wir lieben Schema F

Bei­na­he jeden Sonn­tag­abend ver­sam­meln sich bis zu 13 Mil­lio­nen Deut­sche vor dem Fern­se­her, um ein mora­li­sches Rei­ni­gungs­ri­tu­al zu absol­vie­ren. Gege­ben wird der ewi­ge Mythos von den Krie­gern des Lich­tes, die gegen die Mäch­te der Fins­ter­nis kämp­fen und gegen jede Wahr­schein­lich­keit, nach vie­len Umwe­gen und unter gro­ßen Anstren­gun­gen am Ende den Sieg davon­tra­gen. Die Krie­ger des Lichts haben Moral, Ratio und gesun­den Men­schen­ver­stand auf ihrer Sei­te, ihre Geg­ner fin­det man im Auf­re­ger der Woche im Stern oder sons­ti­gen Bou­le­vard­me­di­en: die schlim­men Fol­gen der Arbeits­lo­sig­keit, die wohl­stands­ver­wahr­los­te Jugend, der Sie­ges­zug der Schön­heits­chir­ur­gie, der Raub­bau an der Natur, sogar die Klas­si­ker uner­wi­der­te Lie­be, Ver­stri­ckung ins Rot­licht­mi­lieu und Kor­rup­ti­on im Bau­ge­wer­be kom­men noch ab und zu aus der Ver­sen­kung gesprungen.

Ich mache mich jetzt mal unbe­liebt: Mein Name ist Bernd Ohm, und ich gucke nie Tat­ort. Nie, nie, nie. Nicht mal, wenn Nick Tschil­ler ermit­telt. War­um ich das dann alles weiß? Du mei­ne Güte – ich müss­te den Kopf dau­er­haft in den Sand ste­cken oder auf den Mars aus­wan­dern, um igno­rie­ren zu kön­nen, was da sonn­tag­abends jeweils gespielt wird. Stän­dig wird in allen mög­li­chen Medi­en, online oder off­line, der Inhalt der letz­ten oder der nächs­ten Fol­ge rezen­siert, all­über­all pran­gen die Gesich­ter der Ermitt­ler und ihrer Aben­teu­er auf Zeit­schrif­ten- und Inter­net­sei­ten, und als Till Schwei­ger neu­lich unter dem oben erwähn­ten Rol­len­na­men in die Rie­ge der auf­rech­ten deut­schen Ver­bre­chens­be­kämp­fer auf­ge­nom­men wur­de, hat­te man den Ein­druck, hier gin­ge es um einen Sitz im bri­ti­schen Ober­haus in Ver­bin­dung mit dem Titel des Barons von Heuchelheim.

Wir mögen noch so viel jam­mern, dass es unse­rem Fern­se­hen an inno­va­ti­ven For­ma­ten man­gelt, in Wirk­lich­keit lie­ben wir das Kli­schee. Und von einem Kri­mi erwar­ten wir kein auf­re­gen­des und ver­stö­ren­des Por­trait unse­rer Gesell­schaft, son­dern die beru­hi­gen­de Gewiss­heit, dass wir zwar in einer von aller­lei Kri­sen und dem Ver­bre­chen zer­ris­se­nen Zeit leben (ob das nun stimmt oder nicht), am Ende aber alles noch mal hin­krie­gen und uns zu einem gut­ge­laun­ten Bier­chen in der Wurst­bu­de tref­fen werden.

Dazu kom­men noch all die ame­ri­ka­ni­schen Dreh­buch­gu­rus, die in den letz­ten zwan­zig, drei­ßig Jah­ren das Kom­man­do über das Dreh­buch­ge­schäft über­nom­men haben und mit erzähl­theo­re­ti­schen Model­len irgend­wo zwi­schen Aris­to­te­les und Gus­tav Frey­tag sämt­li­che erzähl­ba­ren Geschich­ten in das Pro­krus­tes­bett ihrer drei oder fünf Akte gelegt und auf den Rest ein­ge­hau­en haben, bis nichts mehr übrig geblie­ben ist. Ihre Rat­ge­ber ste­hen auf den Schreib­ti­schen der TV-Redak­teu­re, sie sind Unter­richts­stoff an den Film­hoch­schu­len, sie wer­den land­auf, land­ab in hun­der­ten von “Dreh­buch­se­mi­na­ren” wie­der­ge­käut, und der blo­ße Gedan­ke, dass irgend­je­mand eine Geschich­te anders als Syd Field oder Robert McKee erzählt, kann wahr­schein­lich schlicht nicht mehr gedacht werden.

Ich erin­ne­re mich noch gut an einen gera­de­zu magi­schen Moment beim Münch­ner Film­fest irgend­wann in den 1990ern, als eine ame­ri­ka­ni­sche Regis­seu­rin, die mit ihrem Film zum “Ame­ri­can Indie”-Programm ein­ge­la­den war, vor der Vor­stel­lung ihre über­gro­ße Freu­de kund­tat, nun end­lich in der Stadt wei­len zu dür­fen, in der ihr gro­ßes Vor­bild FASSBINDER gelebt hat­te. Aus­ge­rech­net! Der Schöp­fer von “Kat­zel­ma­cher” und “Lili Mar­le­en” war mehr oder weni­ger der ein­zi­ge deut­schen Film­ma­cher, der es in den Jahr­zehn­ten nach dem Krieg zu so etwas wie Aus­lands­ruhm gebracht hat, und das mit einer Film­spra­che uhd Geschich­ten, die eben­so von Brecht wie von Dou­glas Sirk beein­flusst waren – mit ande­ren Wor­ten: weit ent­fernt von “Plot Points” und “Hel­den­rei­sen”. Und was taten die wacke­ren Film­schü­ler und Jung­re­gis­seu­re, mit denen ich damals abhing, ange­sichts die­ser trans­at­lan­ti­schen Lie­bes­er­klä­rung? Starr­ten mit lee­ren Bli­cken in das Dun­kel vor der Lein­wand. Fass­bin­der, wel­cher Fassbinder…?

Die meis­ten deut­schen Dreh­buch­au­toren und Regis­seu­re zeich­nen sich durch eine gera­de­zu beängs­ti­gen­de Unfä­hig­keit aus, eine Geschich­te nicht aus ande­ren Geschich­ten oder Kli­schee­si­tua­tio­nen, son­dern aus dem Leben her­aus zu ent­wi­ckeln. Und wor­an liegt das? Wahr­schein­lich daran:

Wir haben Angst vor dem eigenen Spiegelbild

Wir haben kei­ne beson­ders ange­neh­me Ver­gan­gen­heit. Der Name “Deutsch­land” wird bis in die abseh­ba­re Zukunft damit ver­bun­den sein, dass unse­re Groß­el­tern Mil­lio­nen von Men­schen auf bes­tia­li­sche Wei­se ermor­de­ten und bei dem Ver­such, die Welt zu beherr­schen, halb Euro­pa in Schutt und Asche leg­ten. Das ist eine schwe­re Bür­de, und man kann ver­ste­hen, dass der eine oder ande­re ver­sucht, ihr zu ent­flie­hen, indem er sich in eine frem­de Tra­di­ti­on hineinimaginiert.

Was ich damit mei­ne? Nun, stel­len wir uns mal vor, in Rumä­ni­en gäbe es plötz­li­che eine neue Genera­ti­on von Fil­me­ma­chern und Roman­au­toren, die ihr Rumä­nisch­sein has­sen und sich eif­rig auf das gro­ße Erbe der deut­schen Kul­tur stür­zen wür­den. Es gäbe bei­spiels­wei­se eine Neu­ver­fil­mung von Emil und die Detek­ti­ve, aus Kos­ten­grün­den in Buka­rest gedreht, Berg­fil­me im Luis-Tren­ker-Stil, ver­schie­de­ne Ver­fil­mun­gen von Gaby-Haupt­mann-Roma­nen mit rumä­ni­schen Schau­spie­lern an deut­schen Ori­gi­nal-Schau­plät­zen, Roma­ne von rumä­ni­schen Autoren, die aber in Ber­lin, Mün­chen oder Ham­burg spiel­ten und den Stil Joseph Roths oder Hans Fal­la­das imi­tier­ten, sowie eine extrem ambi­tio­nier­te Umset­zung von Ber­lin, Alex­an­der­platz, mit rumä­ni­schen Schau­spie­lern in Ber­lin gedreht. Klingt bizarr? Na gut, aber was sind dann die deut­schen Tom Sawy­er- oder Fünf Freun­de-Ver­fil­mun­gen, Wild-West-Schmon­zet­ten à la In einem wil­den Land, die Rosa­mun­de-Pil­cher-Fil­me, ein Roman wie Fran­ka Poten­tes All­mäh­lich wird es Tag oder Letz­te Aus­fahrt Brook­lyn von Edel/Eichinger? Rüh­ren­de Ver­su­che, etwas ande­res zu sein, als man ist.

Aber wür­den wir den Blick auf uns selbst über­haupt aushalten?

Ver­set­zen wir doch “The Wire” mal in Gedan­ken nach Deutsch­land. Wo könn­te die Serie spie­len? Wir bräuch­ten eine tra­di­tio­nel­le Hafen­stadt, in der der Hafen­be­trieb eben­so wie die alten Indus­trien vor die Hun­de gegan­gen sind. (Die Wirt­schaft müss­te aber nicht ganz am Boden lie­gen, Bal­ti­more hat ja auch noch das John Hop­kins Hos­pi­tal und das eine oder ande­re ver­blie­be­ne Indus­trie­un­ter­neh­men.) Es müss­te eine eth­ni­sche Min­der­heit geben, deren Ange­hö­ri­ge über­pro­por­tio­nal am Dro­gen­han­del und sons­ti­ger orga­ni­sier­ter Kri­mi­na­li­tät betei­ligt sind. Die Stadt müss­te stän­dig kurz vor der Plei­te ste­hen und könn­te nur mit Gel­dern des Bun­des und Trans­fer­leis­tun­gen aus ande­ren Tei­len des Lan­des über­le­ben. Die ört­li­che Poli­tik müss­te sich durch Filz, Vet­tern­wirt­schaft und all­um­fas­sen­de Ideen­lo­sig­keit aus­zeich­nen. Die Poli­zei hät­te sich mit Gehalts­kür­zun­gen und Beför­de­rungs­stopps her­um­zu­schla­gen. Wei­te Tei­le der Mit­tel­schicht wären seit lan­gem in das Umland geflüch­tet und wür­den dort das Steu­er­sä­ckel fül­len. Wah­len wären haupt­säch­lich Gele­gen­hei­ten, der Welt die rich­ti­ge Gesin­nung zu zei­gen. Aber alle fän­den sich prima.

Natür­lich, ich rede von Bremen.

Aber, noch­mal, wür­den Sie Bre­men aus­hal­ten? Nicht die­se Geschich­ten mit Lür­sen und Stede­freund, die Sie ken­nen, die aber genau­so gut in jeder ande­ren deut­schen Groß­stadt spie­len könn­ten. Son­dern böse Sto­ries mit unver­ständ­li­chem nord­deut­schem Genu­schel. Mit über­for­der­ten Behör­den, völ­lig ver­peil­ten Dro­gen­süch­ti­gen, ori­en­tie­rungs­lo­sen Jugend­li­chen. Mit furcht­ba­rer Nach­kriegs-Archi­tek­tur, Indus­trie­bra­chen und häss­li­chen neu­en Moscheen. Mit Gewer­be­ge­bie­ten, Pend­lerstaus und einer voll­kom­men ver­bau­ten Fluss­land­schaft fern jeder Natur. Mit bor­nier­ten Urein­woh­nern, die nicht wis­sen wol­len, dass es jen­seits der Stadt­gren­zen auch ganz inter­es­san­te Mög­lich­kei­ten gibt. (Sie erin­nern sich in die­sem Zusam­men­hang sicher an den Moment, als D’An­ge­lo Barks­da­le zum ers­ten Mal im Leben Bal­ti­more ver­lässt.) Mit Men­schen, denen sie erst ein­mal eine Wei­le zuhö­ren müss­ten, um ihre Geheim­nis­se zu ergrün­den. Oder doch lie­ber der end­lo­se High­way und eine Sli­de-Gui­tar darüber…?

Es wäre politisch inkorrekt

Stel­len wir uns mal vor, um was es bei einer sol­chen in Bre­men spie­len­den Serie gehen könn­te: Wir haben dort bei­spiels­wei­se eine Groß­fa­mi­lie liba­ne­sisch-kur­disch-ara­bi­scher Her­kunft, von deren Mit­glie­dern laut Wiki­pe­dia vie­le “Schutz­geld­erpres­sun­gen, Dro­gen- und Waf­fen­han­del betrie­ben oder im Rot­licht­mi­lieu aktiv sind”, wir haben “Frie­dens­rich­ter”, die in einer eth­nisch abge­schot­te­ten Par­al­lel­welt Kon­flik­te lösen wie ein ana­to­li­scher Dorf­äl­tes­ter, wir haben einen ver­lo­re­nen Stadt­teil im Nor­den der Stadt, wo frü­her die Werf­ten waren und heu­te isla­mis­ti­sche Ver­ei­ne Kon­ver­ti­ten locken, wir haben eine Amü­sier­mei­le, die man erst nach Ein­füh­rung eines Waf­fen­ver­bots eini­ger­ma­ßen unter Kon­trol­le bekam, wir haben neu­rei­che Ree­der, deren Fir­men­im­pe­ri­um samt groß­spu­ri­ger Kunst­för­de­rung in sich zusam­men­fällt wie ein Kar­ten­haus, und zu all dem haben wir noch ein voll­kom­men rot-grün durch­wirk­tes Bür­ger­tum, das sei­nen wich­tigs­ten Lebens­sinn dar­in sieht, gegen Ras­sis­mus, Natio­na­lis­mus und Aus­beu­tung zu kämp­fen, aber die Kri­se kriegt, sobald in der Nach­bar­schaft ein Asyl­be­wer­ber­heim ein­ge­rich­tet wird.

Wol­len wir aus die­sem Stoff wirk­lich eine Fern­seh­se­rie machen? Wir wür­den es uns mit allen poli­ti­schen Lagern ver­der­ben. Die Lin­ken wür­den auf­heu­len, weil wir nahe­le­gen, dass man­che Flücht­lin­ge, die in Deutsch­land lan­den, nicht wirk­lich poli­tisch ver­folgt sind, son­dern allein ihrem wirt­schaft­li­chen Vor­teil fol­gen und nicht wirk­lich vor­ha­ben, sich zu “inte­grie­ren”. Die Rech­ten wür­den wohl­mög­lich noch lau­ter schrei­en, weil wir die­se Flücht­lin­ge, ganz wie in “The Wire”, als das dar­stel­len wür­den, was sie sind: Men­schen in zutiefst mensch­li­chen Ver­stri­ckun­gen. David Simon zeigt die Bal­ti­morer Dro­gen­ma­fia nicht als has­sens­wer­ten Abschaum, die Gangs­ter ver­fol­gen ihre Zie­le mit nicht mehr und nicht weni­ger Wür­de als ihre Geg­ner auf der ande­ren Seite.

Alle wür­den ihr Fett abbe­kom­men, allen vor­an die Poli­ti­ker, die seit Jahr­zehn­ten eine Stadt regie­ren, ohne zu wis­sen, wie es mit ihr wei­ter­ge­hen soll. Die öffent­li­che Pro-Kopf-Ver­schul­dung des Stadt­staa­tes Bre­men ist nicht gerin­ger als die des Euro-Pari­as Grie­chen­land, aber im Gegen­satz zu den armen Hel­le­nen muss man sich an der Weser kein neu­es Geld lei­hen, um alte Schul­den zu bedie­nen, schließ­lich fließt ja das Trans­fer­geld aus Bay­ern und Baden-Würt­tem­berg jedes Jahr weiter.

Was natür­lich ganz neue Finan­zie­rungs­mög­lich­kei­ten eröff­net: Ob man nicht mal den Baye­ri­schen Rund­funk…? Radio Bre­men hat ja frü­her auch immer Sen­dun­gen mit Ringsgwandl und Bru­no Jonas gemacht, da könn­te sich doch Mün­chen mal revanchieren…

Okay, Traum vor­bei. Zurück zu den Mühen der Ebe­ne. Es wird kein deut­sches “The Wire” geben. Nie nicht kei­nes, nim­mer­mehr. Aber der Gedan­ke ist schon nett…