Das Schlimms­te ist, dass ich die­sen Quark ver­mut­lich auch noch selbst mit ange­setzt habe: So etwa Mit­te, Ende der 90er Jah­re bas­tel­te ich an einem Dreh­buch über das Leben Klaus Stör­te­be­ckers her­um, das sei­ner­zeit diver­sen Münch­ner Film-Fuz­zis unter die Augen kam und bei die­sen für gewöhn­lich die Fra­ge pro­vo­zier­te: “Und war­um läuft er am Ende nicht ohne Kopf an sei­nen Kame­ra­den vor­bei?” Weil ich kein Fan­ta­sy-Epos erzäh­len woll­te, natür­lich, son­dern die tra­gi­sche Pas­si­on einer Schar von Auf­rüh­rern, die an ihrer Zeit schei­tern – so typisch deutsch wie Tho­mas Münt­zer, die 48er Revo­lu­ti­on oder die Baye­ri­sche Räte­re­pu­blik. Am Ende gewann ich den Ein­druck, dass sich die­se Geschich­te im der­zei­ti­gen deut­schen Film- und Fern­seh­we­sen nur als Kas­per­le­thea­ter erzäh­len lie­ße und beschloss, auf bes­se­re Zei­ten zu warten.

Umso grö­ßer war mei­ne Über­ra­schung, in der Vor­ankün­di­gung des dies­jäh­ri­gen ARD-Oster­pro­gramms einen groß ange­leg­ten, von der Münch­ner Bava­ria pro­du­zier­ten Fern­seh-Zwei­tei­ler namens “Stör­te­be­ker” zu fin­den, des­sen Inhalts­be­schrei­bung exakt die­ses Kas­per­le­thea­ter erwar­ten ließ. Hat­te mein heiß gekoch­tes Fer­ment sei­ner­zeit doch irgend­wel­che Gärungs­pro­zes­se in Gang gesetzt? Wür­de ich einen Anwalt brau­chen? Also Abend­essen vor­ver­legt, die Kin­der ins Bett gebracht und gemein­sam mit der Liebs­ten zwei freie Aben­de dem Dämon Glot­ze geop­fert. Das Ergeb­nis? Die Lei­dens­ge­schich­te war da – lei­der erleb­te ich sie.

Zunächst die posi­ti­ven Sei­ten: 1) Die Aus­stat­tung war hübsch und zeigt, dass man auch mit schlap­pen 7 Mil­lio­nen Euro ein ganz manier­li­ches Bild der Epo­che um 1400 hin­be­kom­men kann. 2) Etwai­ge Ähn­lich­kei­ten mit mei­nen Expo­sés haben sich, falls die­se im Ent­ste­hungs­pro­zess tat­säch­lich irgend­ei­ne Rol­le gespielt haben soll­ten, so weit ver­flüch­tigt, dass die Bava­ria den lan­gen Arm des Urhe­ber­rechts nicht zu fürch­ten braucht.

Jeden­falls von mei­ner Sei­te. Was die Rech­te­inha­ber der Wer­ke Wil­li Bredels angeht, eines 1964 ver­stor­be­nen, aus Ham­burg stam­men­den Arbei­ter­schrift­stel­lers, der sich in den 40er Jah­ren im Mos­kau­er Exil einen Stör­te­be­cker-Roman mit dem Titel “Die Vita­li­en­brü­der” aus­dach­te und die­sen 1950 in Ost-Ber­lin ver­öf­fent­lich­te, wäre ich mir nicht so sicher. Bredel war Trä­ger des DDR-Natio­nal­prei­ses und spä­ter dort Prä­si­dent der Aka­de­mie der Küns­te, außer­dem schrieb er Mit­te der 50er Jah­re das Dreh­buch für “Ernst Thäl­mann – Kämp­fer sei­ner Klas­se”; ein Dis­si­dent war er also nicht gera­de. Auch in ästhe­ti­scher Hin­sicht gehen “Die Vita­li­en­brü­der” aus heu­ti­ger Sicht ein wenig arg in Rich­tung tro­cke­ne Agit­prop, aber den Zuschau­ern des TV-“Ereignisses” vom ver­gan­ge­nen Wochen­en­de dürf­te doch die eine oder ande­re Ein­zel­heit des Plots bekannt vor­kom­men: Bredels Stör­te­be­cker ist eltern- und hei­mat­los, er kämpft gegen einen bösen Patri­zi­er und des­sen noch böse­ren Sohn, er heu­ert auf dem Schiff eines guten Patri­zi­ers an, der unter­des­sen von dem bösen Duo abser­viert wird und stirbt, an Bord muss er einen Zwei­kampf mit einem Mus­kel­rie­sen bestehen, die Mann­schaft meu­tert wegen der Unge­rech­tig­keit des Schiffs­füh­rers, das Schiff wird in “See­ti­ger” umbe­nannt (im Film: “See­wolf”) und segelt nun unter Stör­te­be­ckers Kom­man­do als Kape­rer, auf einer der auf­ge­brach­ten Kog­gen befin­den sich lau­ter Rats­her­ren, die gefan­gen genom­men, in Hering­s­ton­nen gesteckt und gegen Stör­te­be­ckers im Ker­ker schmach­ten­den bes­ten Freund (im Film: sei­nen Bru­der) ein­ge­tauscht wer­den, bei der Über­ga­be stellt sich her­aus, dass die­ser geblen­det wur­de. Erken­nen Sie die Melodie?

Bei den rest­li­chen Ver­wick­lun­gen und Ver­stri­ckun­gen des Action-Melo­drams haben sich des­sen Macher (die offen­bar zur Bernd-Eichin­ger-Schu­le der ange­wand­ten Zuschau­er­ver­ach­tung gehö­ren, deren Cre­do da lau­tet: Wir­kung vor Logik!) aller­dings mei­len­weit von Bredels Vor­la­ge ent­fernt, lei­der jedoch noch wei­ter von jeder his­to­ri­schen Wirk­lich­keit oder auch nur dra­ma­ti­schen Plau­si­bi­li­tät. Die kom­ple­xe poli­ti­sche Lage der Jah­re um 1400 – das schmerzt natür­lich den His­to­ri­ker – wur­de bis zur Unkennt­lich­keit ent­stellt: Eine höl­zer­ne Gud­run Land­gre­be als Dron­ning Mar­gret von Däne­mark kämpft angeb­lich dafür, zoll­frei­en Zugang zu den Han­se­hä­fen zu bekom­men und stellt dafür den See­räu­bern Kaper­brie­fe aus – in Wirk­lich­keit balg­te sich die Dänen-Herr­sche­rin damals mit Her­zog Albrecht von Meck­len­burg um den schwe­di­schen Thron, wobei die För­de­rung des Kaper­we­sens von bei­den Sei­ten aus­ging. Die Han­se und die Dänen hat­ten sich 30 Jah­re vor­her bekriegt, aber dabei spiel­ten Frei­beu­ter gar kei­ne Rol­le. Man kann das dau­ern­de Gejam­mer im Film dar­über, dass die See­räu­ber den Han­del zum Erlie­gen brin­gen, gar nicht ohne den Hin­ter­grund der meck­len­bur­gisch-däni­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen ver­ste­hen, denn natür­lich litt die Han­se als unbe­tei­lig­ter Drit­ter am meis­ten unter der offi­zi­ell gedul­de­ten Kaperei.

Und dann die Details! Stadt­to­re die­nen in “Stör­te­be­cker” offen­bar nur dazu, deko­ra­tiv in der Gegend her­um­zu­ste­hen – geschlos­sen oder auch nur bewacht wer­den sie nie, und jeder­mann kann zu jeder Tages- und Nacht­zeit die Stadt betre­ten … Die Män­ner tra­gen Stul­pen­stie­fel, die erst Jahr­hun­der­te spä­ter in Mode kamen, die Patri­zi­er­toch­ter ver­lässt die Stadt mal eben so und vol­l­eman­zi­piert in frem­der Män­ner­be­glei­tung für einen Aus­ritt (voll­kom­men undenk­bar), der Patri­zi­er­sohn benimmt sich wie ein spa­ni­scher Gockel aus dem Sig­lo de oro, das Klos­ter stammt eben­so wie die Take­la­ge der Kog­gen offen­bar aus der­sel­ben Epo­che, der Guts­hof von Stör­te­be­ckers Eltern steht mit­ten den Dünen (zwei­fel­los ein frü­hes agrar­tech­ni­sches Expe­ri­ment), alle See­leu­te kön­nen schwim­men (konn­ten sie nicht!), unbot­mä­ßi­ge Matro­sen wer­den kiel­ge­holt (eben­falls erst ab dem Zeit­al­ter der Stul­pen­stie­fel üblich), ein Patri­zi­er berei­chert sich durch unrecht­mä­ßi­ge Aneig­nung eines Guts­ho­fes (dabei galt auch frü­her: und ist der Han­del noch so klein …), die Ehe­trau­ung fin­det im Frei­en statt (die Patri­zi­er waren see­ehr stolz auf ihre gro­ßen, back­stein­ro­ten Kir­chen) und und und. Ach ja, die ein­zi­ge Han­se­stadt, die es jemals gab, heißt Ham­burg. Alle Beschlüs­se der Han­se wer­den im Ham­bur­ger Rat­haus gefällt. Die Ham­bur­ger Rats­her­ren tre­ten als Ver­tre­ter der Han­se auf, ohne mit ande­ren Städ­ten Rück­spra­che zu hal­ten. Das Hoch im Nor­den. Müs­sen wir Lübeck erwäh­nen, die “Köni­gin der Han­se”? Die 70 Städ­te allein der Kern­han­se im 14. Jahr­hun­dert? Die gro­ßen Han­se­ta­ge? Hier ver­ab­schie­de­te sich die rea­le Geschich­te voll­ends ins Nir­wa­na der Dreh­buch­phan­tas­te­rei, und man konn­te sich des Ein­drucks nicht erweh­ren, irgend­je­mand hat­te kei­ne Lust, sich ins The­ma ein­zu­le­sen und woll­te eigent­lich ein Remake des “Roten Kor­sa­ren” drehen.

Ins­be­son­de­re Ken­ner der nord­eu­ro­päi­schen Geo­gra­phie muss­ten unter Kreuz­feu­er der Dreh­buch­pein­lich­kei­ten lei­den: Von Ham­burg aus kann man offen­bar locker einen Aus­ritt ans Meer machen, die alte und ehr­wür­di­ge Han­se­stadt Wis­by auf Got­land wird zu einer Ansamm­lung von Pira­ten­hüt­ten ein­ge­dampft, Got­land selbst liegt irgend­wo fern­ab von allen Schiff­fahrts­rou­ten und nicht mit­ten in der Ost­see (die Vita­lier konn­ten sich auf Got­land wegen der man­geln­den poli­ti­schen Kon­trol­le wäh­rend der dänisch-meck­len­bur­gi­schen Kriegs­hän­del fest­set­zen, nicht weil es eine unbe­wohn­te Kari­bik­in­sel war!), von Ham­burg segelt man mal so eben mir nichts, dir nichts nach Kopen­ha­gen (anstatt nach Lübeck zu fah­ren und von dort zu segeln), und über­haupt gerät jede Fahrt zum Hoch­see­aben­teu­er, obwohl doch sogar im Film selbst erwähnt wird, dass man sich sei­ner­zeit stets eng an die Küs­ten hielt. Eine ein­zi­ge Tortur.

Was den Plot angeht, fas­sen wir uns kurz – des­sen Maschen sind auch für Nicht-Fach­leu­te ersicht­lich so weit geknüpft, dass mühe­los eine gan­ze Kriegs­kog­ge hin­durch pas­sen wür­de (um von der geball­ten Anhäu­fung unwahr­schein­li­cher Schick­sals­fü­gun­gen gar nicht erst anzu­fan­gen). Ein Bei­spiel für vie­le: War­um, zum Hen­ker, ergreift Göde­ke Michels in der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Schiffs­haupt­mann dra­ma­tur­gisch völ­lig unvor­be­rei­tet für Stör­te­be­cker Par­tei und wirft sich mit sei­nem Schwert in Kampf­po­si­tur wie ein tele­pa­thisch gesteu­er­ter Cyborg? Und schmeißt sein gan­zes bis­he­ri­ges Leben über Bord, um Pirat zu wer­den? Kis­met? Erst zwei Minu­ten vor Schluss, als der Prot­ago­nist lehr­buch­mä­ßig sei­nen Gegen­spie­ler erle­digt, die schö­ne Frau erobert und mit sei­nen Man­nen die Stadt ver­las­sen hat­te, stell­te sich so etwas wie Neu­gier ein: Wie woll­te man in der ver­blei­ben­den kur­zen Zeit von die­sem glück­li­chen Ende schnell genug zur Hin­rich­tung auf den Gras­brook kom­men? Man tat es mit­tels einer auf­ge­setzt wir­ken­den Off-Erzäh­lung, die noch schnell den Tages­ord­nungs­punkt “kopf­los wan­ken­der Pira­ten­häupt­ling” abhak­te und ange­sichts des vor­an­ge­hen­den glück­li­chen Endes in dra­ma­tur­gi­scher Hin­sicht so befremd­lich wirk­te wie die elek­tro­ni­schen Mätz­chen, mit denen man sie am Schnei­de­tisch auf­ge­motzt hat­te. Man fragt sich kurz, wie Ham­let heu­te aus­sä­he: Kurz vor Schluss hei­ra­tet er Ophe­lia, rächt sei­nen Vater, wird König von Däne­mark und fällt schließ­lich in einem Epi­log einem ver­schluck­ten Hüh­ner­bein zum Opfer?

Immer­hin schei­nen die Schau­spie­ler gro­ßen Spaß am Pirat-Spie­len gehabt zu haben. Nach Her­zens­lust rau­fen und intri­gie­ren, tur­nen und gri­mas­sie­ren, fech­ten und char­gie­ren sie, was das Zeug hält. Dies war sicher umso schö­ner, als offen­bar kein Regis­seur in der Nähe war, der ihnen bei ihrem mun­te­ren Trei­ben Ein­halt gebo­ten hät­te. Im Alter wer­den sie ihre Enkel auf den Schoß neh­men und von den Zei­ten schwär­men, als das Augen­rol­len noch gehol­fen hat.

Und Stör­te­be­cker? Offen­bar total­ly fit-for-fun und mar­ti­al-arts-taug­lich. War­um der Mann auf das glei­che Auf­tei­len der Beu­te bestand, war­um er “Got­tes Freund” genannt wur­de, war­um er nicht nur Fürs­ten, Prä­la­ten und Pfef­fer­sä­cken, son­dern der gesam­ten Welt den Krieg erklär­te, war­um er zum Freund des Vol­kes wur­de – Pus­te­ku­chen, bil­li­ge Kli­schees. Wohl wahr, aus dem Leben des nord­deut­schen Volks­hel­den ist außer sagen­haf­ten Erzäh­lun­gen nicht all­zu viel bekannt (immer­hin lau­te­te sein Vor­na­me in Wirk­lich­keit ver­mut­lich “Johann” …), aber jede his­to­ri­sche Fik­ti­on muss sich doch zumin­dest die Auf­ga­be stel­len, ein plau­si­bel in sei­ner Epo­che rekon­stru­ier­tes Leben wie­der­zu­ge­ben; was wir am Wochen­en­de gese­hen haben, war hin­ge­gen ein abstru­ser Kos­tüm­schin­ken mit der hier­zu­lan­de seit jeher gän­gi­gen Mischung aus Bru­ta­li­tät, Sen­ti­men­ta­li­tät und Kla­mauk, fern­ab jeder his­to­ri­schen Wirk­lich­keit und – noch schlim­mer – Wahrhaftigkeit.

Am Ende bleibt eine bit­te­re Erkennt­nis: Wenn der deut­sche Unter­hal­tungs­film ganz bei sich ist, lan­det er offen­bar unwei­ger­lich in einer voll­kom­men künst­li­chen Welt vol­ler holz­schnitt­ar­ti­ger Figu­ren, vor­her­seh­ba­rer Ent­wick­lun­gen und fader Wit­ze – kurz: beim Karl-May-Film. Irgend­wann in der Mit­te des ers­ten Teils sagt mir mei­ne Frau: Wenn du bei die­sem Stuss mit­ge­macht hät­test, wür­de ich dir jetzt aber den Kopf waschen. Da habe ich wohl noch­mal Glück gehabt.

(Hin­weis: Dies ist die Ori­gi­nal­ver­si­on eines Arti­kels, der zuerst 2006 in der jun­gen welt erschien. Er bezieht sich auf den Stör­te­be­cker-Zwei­tei­ler, der damals in der ARD lief.)