Wer meinen Roman Sechs Tage im Herbst gelesen hat, kann sich vielleicht an folgenden kleinen Dialog erinnern, der in der Alten Nationalgalerie in Berlin stattfindet:
»Und wer hat das entschieden? Die Stasi gibt es meines Wissens nicht mehr.«
»Aber die Leute, die hinter der Stasi standen, die gibt es noch.«
»Die Russen? Und mit denen hast du ...? Warum?«
Henning erhält keine Antwort.
Letztere ergibt sich dann im weiteren Verlauf der Handlung, aber ich muss auch gestehen, dass mir beim Schreiben noch ein kleines Puzzleteilchen fehlte, um alles zu verstehen: Wie genau hatten »die Russen« (damals natürlich der KGB oder der Militärgeheimdienst GRU) in das Geschehen um die linksterroristischen Gruppen Westeuropas eingegriffen – agierten sie nur als Hintermänner der Stasi, oder hatten sie auch einen eigenen Zugang zu Grams & Co.? Für Ersteres sprach der Umstand, dass die Stasi in ihrer Jahresplanung für 1990 vier »IMs im besonderen Einsatz« (IMB) aufführte, die auf »Stern 1« angesetzt waren, was der Stasi-Deckname für die aktive RAF-Kommandoebene war (Näheres hier). Warum also hätten die Sowjets überflüssigerweise eigene Kräfte für die gleiche Unternehmung einsetzen sollen? Und für einen direkten Kontakt hätte man ja jemanden einsetzen müssen, der gut genug Deutsch oder Englisch sprach, denn Russisch konnte, soweit mir bekannt ist, von den Terroristen niemand.
Während ich noch am Manuskript saß, hat die britische Journalistin Catherine Belton ein Buch namens PUTIN’S PEOPLE: How the KGB Took Back Russia and Then Took On the West (ein Auszug hier) veröffentlicht, das einige in dieser Hinsicht interessante Informationen enthält. Belton berichtet dort von einem Gespräch mit einem namenlosen ehemaligen RAF-Mitglied, das recht offenherzig über die damaligen Verhältnisse plauderte. Demnach habe es tatsächlich einen Kontakt zu KGB-Vertretern gegeben, diese hätten aber nicht in Ost-Berlin, sondern weitab von den neugierigen Blicken westlicher Geheimdienste im »Tal der Ahnungslosen« in Dresden stattgefunden. Dies habe es auch den Stasi-Bossen Mielke und Markus Wolf, die Angst vor einer Aufdeckung ihrer blutigen Einmischung in die westdeutsche Innenpolitik gehabt hätten, ermöglicht, einen möglichst großen Abstand zu den Geschehnissen zu halten. Die Treffen hätten in einem sicheren Unterschlupf in Dresden stattgefunden, und der KGB habe keine direkten Anweisungen gegeben, sondern nur Vorschläge gemacht und gefragt, welche Art von Unterstützung die Terroristen benötigt hätten, und dergleichen mehr. Ungefähr ein halbes Dutzend solche Treffen habe es gegeben. Federführend auf russischer Seite mit dabei: der damalige – exzellent Deutsch sprechende – KGB-Resident in Dresden, Wladimir Putin.
Ist das das fehlende Puzzleteil? Es ist fraglich, wer Beltons ehemaliges RAF-Mitglied gewesen sein soll. Die Autorin verwendet ein männliches Personalpronomen für ihren Gesprächspartner, aber die noch lebenden öffentlich bekannten mutmaßlichen oder tatsächlichen Mitglieder der sogenannten »Dritten Generation«, die ab 1985 (Putins Dienstantritt in Dresden) in der DDR gewesen sein könnten, sind alles Frauen. Allerdings hatte die RAF in den späten 1980ern tatsächlich, wie von der anonymen Quelle angegeben, Probleme bei der Waffenbeschaffung (in Sechs Tage im Herbst helfen die belgischen Genossen von den Cellules Communistes Combattantes aus), und natürlich ist es möglich, dass sich Stasi und KGB die Arbeit geteilt haben: die IMB hätten es in diesem Fall bei der reinen Beobachtung belassen, während Putins Leute für die handfesteren Teile des Geschäfts zuständig gewesen wären. Auch die Finanzierung der RAF in diesen Jahren ist weiterhin ein Mysterium. Ich habe bisher auf Gaddafi getippt, aber das muss natürlich nicht stimmen.
Sagen wir es mal so: Falls der russische Präsident tatsächlich eines Tages in Den Haag vor seinem Richter stehen sollte, könnte es noch einige Überraschungen geben.