Zur Erinnerung an Paul Nellen
Vor etlichen Jahren, wir waren kurz davor, von Berlin hierher aufs Land zu ziehen, stolperte ich in der damals noch abonnierten taz auf einem Artikel mit dem geheimnisvollen Wort »Peak Oil« im Titel. Wie mittlerweile einigermaßen bekannt sein dürfte, beschreibt der Begriff die Hypothese, dass die Erdölförderung in einem bestimmten Gebiet (oder sogar der ganzen Welt) nicht einfach bis zum letzten Tropfen immer weiter steigt, bis schließlich schlagartig Schluss ist, sondern einen Scheitelpunkt erreicht – den »Peak« – und dann langsam, aber sicher wieder absinkt, bis dann irgendwann wirklich nichts mehr da ist. Ganz gut sehen kann man das zum Beispiel an den norwegischen Ölfeldern in der Nordsee:
Das Maximum der norwegischen Ölförderung lag demnach irgendwann um 2000 herum. Die Kurve ist nicht symmetrisch, und die Tatsache, dass der Abstieg nicht so steil ist wie der Anstieg und sogar seit ein paar Jahren einigermaßen konstant bleibt, ist dem technischen Fortschritt zu verdanken: Neue Techniken und Fördermethoden haben es auch in der Nordsee vermocht, die vorhandenen Felder noch länger auszubeuten, als es vor einigen Jahrzehnten möglich gewesen wäre. Aber ich greife vor – damals hatte ich noch nie etwas von diesem »Peak Oil« gehört, wurde hellhörig und begann, mich ein wenig umzuhorchen. Wie es der Zufall will, arbeitet jemand aus unserer Verwandtschaft als Geophysiker im Umfeld der erwähnten norwegischen Ölförderung. Als er mal in Berlin zu Besuch war, quetschte ich ihn aus und beendete den Abend mit einer mittleren Panikattacke. Ja, ja, das Phänomen sei in der Branche allgemein bekannt, erläuterte er ohne allzu große Emotionen, da müsse man eben schnell genug einen neuen Energieträger finden.
Schon damals hatte ich den aus heutiger Sicht nicht ganz unberechtigten Verdacht, dass es mit irgendwelchen »neuen Energieträgern« nicht allzu weit her ist. Fukushima war noch Zukunftsmusik, trotzdem waren sich alle irgendwie einig, dass Kernspaltung für die Zukunft der Energieversorgung keine Rolle spielen würde. Kernfusion ist bis heute eine Technologie geblieben, deren Realisierung immer 50 Jahre in der Zukunft liegt. Dass die gesamte Industrie und alle Privathaushalte auf Strom umgestellt werden und dann durch Solarzellen und Windräder betrieben werden könnten, erscheint mir auch heute noch – das halbe Physikstudium lässt sich halt nicht so leicht vergessen – als realitätsfernes Wunschdenken. Und die grandiosen Pläne (Stichwort »Desertec«), Solarstrom in der Sahara zu produzieren, um damit Wasserstoff zu gewinnen und per Tanker nach Europa zu verfrachten, kamen mir nicht weniger größenwahnsinnig vor als der alte »Atlantropa«-Plan des Architekten Herman Sörgel, der einen Staudamm in Gibraltar bauen wollte, um im Mittelmeer neues Land zu gewinnen.
Solcherlei Sorgen und Bedenken führten mich – es war, liebe Kinder, die Zeit, als wir alten Säcke uns in moderierten Onlineforen noch vieeeel zivilisierter stritten als ihr heute auf Twitter – in das »Peak-Oil-Forum«, eine virtuelle Debattiergruppe von Leuten, die das Phänomen entweder ebenso beunruhigte wie mich oder die auf eine Gelegenheit hofften, mit wenig Einsatz viel Geld zu verdienen, indem sie den Peak richtig vorhersehen und vorher jede Menge Rohöloptionen kaufen würden. Einer der eifrigsten Foristen damals war ein Nutzer namens »Cujo«, der offenbar tief in die Materie eingedrungen war, einen erfrischend beißenden Ton pflegte, der bestens zu seinem Pseudonym passte, und eindeutig in die Fraktion der ökologisch Motivierten gehörte. Legendär waren seine Wortgefechte mit Forist »AlexP«, einem schnöseligen Programmierer, der im Elsass lebte, jeden Tag dutzende von Postings ins Forum drückte und ständig alles besser wusste als wir anderen (wenn ich’s mir recht überlege, liebe Kinder, war das dann doch nicht so verschieden von Twitter).
Wie sich nach ein paar PNs und schließlich einem Treffen in Hamburg herausstellte, handelte es sich – ich kann das jetzt wohl öffentlich machen – bei Cujo um niemand anderen als den Journalisten Paul Nellen. Zusammen mit einer Reihe von Gleichgesinnten beschlossen wir, eine norddeutsche nicht-virtuelle »Peak-Oil-Gruppe« zu gründen, die sich von nun an regelmäßig in Altona traf, um große Gedanken zu wälzen und Konzepte zu entwickeln, in der vagen Hoffnung, irgendwie die Politik auf das Phänomen aufmerksam zu machen und die Gesellschaft auf dessen negative Auswirkungen vorzubereiten. Paul, der Spiritus Rector des Ganzen, hatte davon während einer Reportage gehört, die er für den Deutschlandfunk in den USA gemacht hatte; seitdem ließ ihn das Thema nicht mehr los. Er hatte eine unfassbar unaufgeräumte Homepage, die sich um keinerlei Konventionen von Typografie und gutem Webdesign scherte, aber jede Menge interessante Links enthielt. Er war seit ewigen Zeiten bei den Grünen, aber das hielt ihn nicht vom Selberdenken ab.
Wie man sich wohl denken kann, blieben Politik und Gesellschaft von unseren Aktivitäten unbeeindruckt. Aus heutiger Sicht waren wir da sicher auch ein wenig naiv. Die meisten von uns waren alt genug, um noch die Ölkrisen der 1970er miterlebt zu haben, und so in etwa stellten wir uns auch die Auswirkungen von Peak Oil vor: eine jedes Jahr schlimmer werdende Knappheit nach Passieren des weltweiten Ölfördermaximums, Schlangen an den Tankstellen, Benzinrationierungen, die verzweifelte Suche nach einer ganz neuen Lebensweise, die mit weniger Energie auskommt. Oder, wie der irische Peak-Oil-Guru Colin Campbell düster zu dräuen pflegte, »Kannibalen in Chicago«.
Aber, wie oben schon angedeutet, der technische Fortschritt spielt natürlich eine Rolle, und die wurde von uns sträflich unterschätzt. Die USA fördern heute dank Fracking wesentlich mehr Öl als während ihres ersten Peaks, den man auf 1970 datieren kann. Unkenrufen zufolge handelt es sich bei Fracking um die letzten Überreste am Boden des Fasses, die man irgendwie noch schnell zusammenkratzt, aber die Unken rufen jetzt auch schon ziemlich lange, man wird also sehen. Schlimmer aber war, so denke ich, unsere Fixierung auf eine drohende Ölknappheit als isoliertes Phänomen. In Wirklichkeit ist die Welt natürlich viel komplexer – der panische Versuch, aufgrund einer drohenden Klimaerwärmung aus den fossilen Rohstoffen auszusteigen, verhindert Investitionen in neue Ölerschließungsprojekte; Pandemien führen zu Wirtschaftskrisen, die nichts mit der Ölförderung zu tun haben, aber trotzdem auf Angebot und Nachfrage wirken; Autokraten wie Putin nutzen den Umstand, dass gerade – ob nun aus geologischen oder aus politischen Gründen – nirgendwo in der Welt noch größere Ölförderkapazitäten brachliegen, um ihre ganz altmodisch imperialistischen Eroberungspläne umzusetzen. Im Grunde befinden wir uns gerade mitten im »Ersten Peak-Oil-Krieg«: Angesichts der ungefähr fünf Millionen Barrel Öl, die täglich von Russland nach Europa fließen, ist es ja ganz nett, dass Finnland und Schweden jetzt der NATO beitreten – aber womit wollen sie ihre Panzer antreiben, wenn es tatsächlich zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kommt? Ganz ehrlich, das haben wir damals bei unseren Sitzungen in Altona nicht vorhergesehen …
Irgendwann waren wir es, glaube ich, alle leid und trafen uns nur noch sehr sporadisch, schließlich gar nicht mehr. Paul und ich blieben lose in Kontakt, manchmal schickte er mir einen Link, manchmal telefonierten wir und debattierten, meist aber schoben sich andere Themen in den Vordergrund, die er – wie er nun einmal war – ebenso leidenschaftlich verfolgte wie die Sache mit dem Ölfördermaximum. Als er zufällig das alberne Radiointerview hörte, dass die Lokalreporterin vom NDR mit mir machte, als hier der Straßennamenkrieg tobte, rief er mich sofort an, und wir hatten eine Menge gemeinsam zu lachen. Ich komm mal mit dem Motorrad vorbei, versprach er, und schau mir euer phantastisches straßennamenloses Gemeinwesen auch persönlich an. Leider ist es anders gekommen, seine Krankheit war schneller, und jetzt ist er nicht mehr da.
Mach’s gut, Cujo, und beiß auch da oben allen, die dich nerven, kräftig in die Waden!