Eines abends, ich lag aus­ge­streckt auf dem Deck mei­nes Dampf­boots, hör­te ich Stim­men näher kom­men – Nef­fe und Onkel, die am Ufer spa­zie­ren gin­gen. Ich leg­te den Kopf wie­der auf den Arm und war fast ein­ge­schlum­mert, als ich jeman­den schein­bar in mei­nem Ohr reden hör­te: ‚Ich bin so gut­mü­tig wie ein klei­nes Kind, aber ich lei­de es nicht, wann man mir Vor­schrif­ten macht. Bin ich nun der Direk­tor, oder etwa nicht? Ich habe den Befehl erhal­ten, ihn dort­hin zu schi­cken. Es ist unglaub­lich.’ … Ich merk­te, dass die bei­den am Ufer neben dem Bug des Dampf­boots stan­den, genau unter mei­nem Kopf. Ich rühr­te mich nicht; es fiel mir gar nicht ein, mich zu rüh­ren, schließ­lich war ich schläf­rig. ‚Unan­ge­neh­me Sache’, grunz­te der Onkel. ‚Er hat die Ver­wal­tung dar­um gebe­ten, dort­hin geschickt zu wer­den’, sag­te der ande­re, ‚weil er zei­gen woll­te, was in ihm steckt; und ich erhielt ent­spre­chen­de Befeh­le. Was für einen Ein­fluss die­ser Mensch haben muss, ist das nicht furcht­bar?’ Sie kamen bei­de über­ein, dass es furcht­bar sei, und mach­ten selt­sa­me Bemer­kun­gen: ‚Regen oder Son­nen­schein machen – ein ein­zel­ner – den Ver­wal­tungs­rat – an der Nase her­um’ – Frag­men­te absur­der Sät­ze, die die Ober­hand über mei­ne Schläf­rig­keit gewan­nen, sodass ich fast wie­der im Voll­be­sitz mei­ner geis­ti­gen Kräf­te war, als der Onkel sag­te: ‚Viel­leicht schafft dir ja das Kli­ma die­ses Pro­blem vom Hals. Ist er allein dort drau­ßen?’ ‚Ja’, ant­wor­te­te der Direk­tor, ‚er hat sei­nen Gehil­fen mit einem Brief fluss­ab­wärts geschickt, in dem etwa Fol­gen­des stand: “Schaf­fen Sie die­sen armen Teu­fel außer Lan­des und schi­cken Sie mir bloß nicht mehr von der Sor­te. Ich arbei­te lie­ber allein als zusam­men mit den Män­nern, die Sie ent­beh­ren kön­nen.” Das war vor mehr als einem Jahr. Kannst du dir eine sol­che Frech­heit vor­stel­len?’ ‚Seit­dem irgend­wel­che Nach­rich­ten?’, frag­te der ande­re mit hei­se­rer Stim­me. ‚Elfen­bein’, stieß der Nef­fe aus, ‚Men­gen davon – ers­te Qua­li­tät – Mas­sen – und aus­ge­rech­net von ihm.’ ‚Und außer­dem?’, groll­te es fra­gend. ‚Die Rech­nung’, lau­te­te die Ant­wort, bei­na­he her­aus­ge­feu­ert. Dann Stil­le. Sie rede­ten über Kurtz.

Zu die­sem Zeit­punkt war ich hell­wach, lag aber voll­kom­men bequem und beweg­te mich nicht, da ich kei­nen Grund hat­te, mei­ne Posi­ti­on zu ändern. ‚Wie ist das Elfen­bein den gan­zen Weg hier­her gekom­men?’, knurr­te der Älte­re, der aus­ge­spro­chen irri­tiert wirk­te. Der ande­re erklär­te, es sei mit einer Flot­te von Pad­del­boo­ten unter dem Kom­man­do eines Hel­fers ange­lie­fert wor­den, eines eng­li­schen Misch­lings, den Kurtz bei sich hät­te; Kurtz hät­te offen­bar vor­ge­habt, selbst zurück­zu­keh­ren, weil die Sta­ti­on zu die­sem Zeit­punk­te bar jeder Waren und Vor­rä­te gewe­sen sei, nach drei­hun­dert Mei­len Rei­se aber plötz­lich beschlos­sen zurück­zu­keh­ren, und das allein in einem klei­nen Ein­baum mit vier Padd­lern, wäh­rend der Misch­ling mit dem Elfen­bein wei­ter fluss­ab­wärts gefah­ren sei. Die bei­den Kna­ben da unter mir schie­nen erstaunt, dass irgend­je­mand so etwas ver­su­chen könn­te. Ihnen fiel kein aus­rei­chen­des Motiv dafür ein. Was mich anging, schien ich zum ers­ten Mal ein Bild von Kurtz vor Augen zu haben. Es war nur ein flüch­ti­ger Blick: der Ein­baum, vier pad­deln­de Wil­de und der ein­sa­me Wei­ße, der plötz­lich dem Haupt­quar­tier den Rücken zukehrt, schon halb im Urlaub, mit dem Gedan­ken an die Hei­mat – jeden­falls viel­leicht –, und sich wie­der der Wild­nis, sei­ner lee­ren und ver­las­se­nen Sta­ti­on zuwen­det. Ich wuss­te nicht, was ihn dazu gebracht hat­te. Viel­leicht war er ein­fach nur ein bra­ver Jun­ge, der sei­ne Arbeit um ihrer selbst wil­len lieb­te. Sein Name, müsst ihr wis­sen, war nicht ein ein­zi­ges Mal gefal­len. Er war ‚die­ser Mensch’. Der Misch­ling, der – soweit ich das beur­tei­len konn­te – ein schwie­ri­ges Unter­fan­gen mit gro­ßer Umsicht und Tap­fer­keit zu Ende gebracht hat­te, wur­de aus­nahms­los als ‚die­ser Halun­ke’ bezeich­net. Der ‚Halun­ke’ hat­te berich­tet, ‚die­ser Mensch’ sei sehr krank gewe­sen, aber nicht voll­kom­men gene­sen. … Die zwei unter mir ent­fern­ten sich ein paar Schrit­te und spa­zier­ten dann in gerin­ger Ent­fer­nung hin und her. Ich hör­te: ‚Mili­tär­pos­ten – Arzt – zwei­hun­dert Mei­len – ziem­lich allein jetzt – unver­meid­li­che Ver­zö­ge­run­gen – neun Mona­te – kei­ne Nach­rich­ten – selt­sa­me Gerüch­te.’ Sie näher­ten sich wie­der, gera­de als der Direk­tor sag­te: ‚Nie­mand, soweit ich weiß, es sei denn eine Art fah­ren­der Händ­ler – eine wah­re Pest, die den Ein­ge­bo­re­nen Elfen­bein abgau­nert.’ Über wen rede­ten sie jetzt? Ich konn­te auf­schnap­pen, dass es sich hier­bei um irgend­je­man­den han­del­te, der sich ver­mut­lich in Kurtz’ Bezirk her­um­trieb und von dem der Direk­tor nichts hielt. ‚Es wird solan­ge unlau­te­ren Wett­be­werb geben, bis einer die­ser Bur­schen zum Exem­pel auf­ge­knüpft wird’, sag­te er. ‚Sicher’, grunz­te der ande­re, ‚an den Gal­gen mit ihm! War­um nicht? Alles – alles ist mög­lich in die­sem Land. Das sage ich doch: Nie­mand hier, hörst du, nie­mand hier kann dei­ne Posi­ti­on in Gefahr brin­gen. Und war­um nicht? Du erträgst das Kli­ma – du über­lebst sie alle. Die Gefahr kommt von Euro­pa; aber dort habe ich vor mei­ner Abrei­se Sor­ge getrof­fen –’ Sie ent­fern­ten sich und flüs­ter­ten, dann rede­ten sie wie­der lau­ter. ‚Die unge­wöhn­li­che Häu­fung von Ver­zö­ge­run­gen ist nicht mei­ne Schuld. Ich habe mein Bes­tes getan.’ Der Fet­te seufz­te. ‚Sehr trau­rig.’ ‚Und die­ses voll­kom­men absur­de Geschwa­fel’, fuhr der ande­re fort, ‚er ist mir genug auf die Ner­ven gegan­gen, als er hier war. “Jede Sta­ti­on soll­te wie ein Leucht­feu­er auf dem Weg zu einer bes­se­ren Welt sein, ein Zen­trum des Han­dels natür­lich, aber auch eines der Sitt­lich­keit, des Fort­schritts, der Leh­re.” Stell dir vor – die­ser Esel! Und der will Direk­tor wer­den! Nein, es ist –’ Hier ver­sag­te ihm vor über­gro­ßer Empö­rung die Stim­me, und ich hob mei­nen Kopf ein win­zi­ges Stück an. Ich war über­rascht, wie nah sie mir waren – genau unter mir. Ich hät­te auf ihre Hüte spu­cken kön­nen. Sie sahen gedan­ken­ver­lo­ren zu Boden. Der Direk­tor schlug mit einer dün­nen Rute gegen sein Bein: Sein scharf­sin­ni­ger Ver­wand­ter hob den Kopf. ‚Wie steht es dies­mal um dei­ne Gesund­heit hier drau­ßen?’, frag­te er. Der ande­re zuck­te zusam­men. ‚Wie? Mei­ne? Oh! Die ist geseg­net – geseg­net. Aber bei den ande­ren – du mei­ne Güte! Alle krank. Sie ster­ben so schnell, dass ich nicht genug Zeit habe, sie außer Lan­des zu schi­cken – es ist unglaub­lich!’ ‚M‑hm. Woll­te ich nur wis­sen’, grunz­te der Onkel. ‚Ach, Jun­ge! Dar­auf musst du ver­trau­en – dar­auf, sage ich.’ Ich sah, wie er sei­ne kur­ze Flos­se von einem Arm in einer Ges­te aus­streck­te, die den Wald, den Neben­arm, den Schlamm, den Fluss in sich ein­be­griff – die dem son­nen­be­schie­ne­ne Ant­litz des Lan­des einen ent­eh­ren­den Hieb ver­setz­te und so auf heim­tü­cki­sche Wei­se den lau­ern­den Tod, das ver­bor­ge­ne Böse, die tie­fe Fins­ter­nis in des­sen Her­zen her­an­zu­win­ken schien. Ich erschreck­te mich so sehr, dass ich auf die Bei­ne sprang und zurück auf den Wald­rand sah, als ob ich von dort eine Ant­wort auf die­se düs­te­re Zur­schau­stel­lung von Zuver­sicht erwar­te­te. Ihr wisst ja, was einem manch­mal für Unsinn ein­fällt. Die unbe­weg­ten Baum­wip­fel setz­te den bei­den Gestal­ten ihre unheil­schwan­ge­re Geduld ent­ge­gen, mit der sie auf das Ver­ge­hen die­ser bizar­ren Inva­si­ons­ar­mee wartete.

Sie fluch­ten laut gemein­sam – aus lau­ter Angst, neh­me ich an –, taten dann, als ob sie mich nicht bemerk­ten, und wand­ten sich zur Sta­ti­on zurück. Die Son­ne stand tief; und wie sie da Sei­te an Sei­te nach vor­ne gelehnt gin­gen, schie­nen sie müh­sam ihre bei­den lächer­lich unglei­chen Schat­ten nach oben zu schlep­pen, die ihnen über das hohe Gras folg­ten, ohne einen ein­zi­gen Gras­halm zu knicken.

Ein paar Tage spä­ter ver­schwand die Eldo­ra­do-Expe­di­ti­on in der gedul­di­gen Wild­nis, die sich um sie her­um schloss wie das Meer um einen Tau­cher. Lan­ge danach erreich­te uns die Nach­richt, dass alle Esel tot sei­en. Was das Schick­sal der weni­ger wert­vol­len Tie­re angeht, ist mir nichts bekannt. Zwei­fel­los fan­den sie, wie wir alle, ihr ver­dien­tes Schick­sal. Ich frag­te jeden­falls nicht nach. Zu die­sem Zeit­punkt war ich ziem­lich gespannt dar­auf, bald Kurtz ken­nen zu ler­nen. Wenn ich ‚bald’ sage, ist das rela­tiv gemeint. Genau zwei Mona­te soll­ten von dem Tag an, als wir den Neben­arm ver­lie­ßen, ver­ge­hen, bis wir das Ufer unter­halb von Kurtz’ Sta­ti­on erreichten.

Die Fahrt strom­auf­wärts war wie eine Rei­se zu den frü­hes­ten Ursprün­gen, als die Vege­ta­ti­on über die Erde wüte­te und die gro­ßen Bäu­me die Köni­ge der Welt waren. Ein lee­rer Strom, eine gro­ße Stil­le, ein undurch­dring­li­cher Wald. Die Luft war warm, dick, schwer, trä­ge. Es lag kei­ne Freu­de im Fun­keln der Son­ne. Die end­los aus­ge­dehn­te, ver­las­se­ne Was­ser­stra­ße führ­te in eine wei­te, schat­ten­ver­han­ge­ne Düs­ter­nis hin­ein. Auf silb­ri­gen Sand­bän­ken sonn­ten sich Fluss­pfer­de und Kro­ko­di­le Sei­te an Sei­te. Das sich wei­ten­de Gewäs­ser floss durch einen Irr­gar­ten bewal­de­ter Inseln; man ver­irr­te sich auf die­sem Fluss wie in einer Wüs­te und hol­per­te den gan­zen Tag lang auf der Suche nach der Fahr­rin­ne über Untie­fen, bis man sich wie unter einem Hexen­bann fühl­te, abge­schnit­ten von allem, das man einst – irgend­wo – weit weg – viel­leicht in einem ande­ren Leben – gekannt hat­te. Es gab Momen­te, in denen einen die Ver­gan­gen­heit wie­der über­kam, wie es manch­mal der Fall ist, wenn einem über­haupt kei­ne Atem­pau­se gewährt wird; aber sie über­kam einen in Form eines ruhe­lo­sen und lär­men­den Traums, an den man sich stau­nend inmit­ten der über­wäl­ti­gen­den Wirk­lich­keit die­ser selt­sa­men Welt aus Pflan­zen, Was­ser und Stil­le erin­ner­te. Und die­se Lebens­stil­le wirk­te nicht im gerings­ten fried­voll. Es war die Stil­le einer uner­bitt­li­chen Macht, die mit undurch­schau­ba­ren Absich­ten schwan­ger geht. Sie sah einen an und trug dabei eine rache­durs­ti­ge Mie­ne. Spä­ter gewöhn­te ich mich dar­an; ich sah sie gar nicht mehr; es war auch gar kei­ne Zeit dazu. Ich muss­te wei­ter die Fahr­rin­ne erra­ten; ich muss­te, haupt­säch­lich auf­grund von Ein­ge­bun­gen, die Zei­chen ver­bor­ge­ner Sand­bän­ke auf­spü­ren; ich muss­te auf ver­sun­ke­ne Fels­bro­cken ach­ten; ich gewöhn­te mich dar­an, ele­gant mit den Zäh­nen zu klap­pern, bevor mir das Herz still­stand, wenn ich durch einen glück­li­chen Zufall an dem ver­fluch­ten Halun­ken von einem im Fluss trei­ben­den Baum­stumpf vor­bei­schramm­te, der das Kon­ser­ven­blech des Dampf­boots auf­ge­schlitzt und alle Pil­ger in den nas­sen Tod geschickt hät­te; ich muss­te Aus­schau nach Anzei­chen von Tot­holz hal­ten, das wir abends zer­ha­cken konn­ten, um am nächs­ten Tag wei­ter­damp­fen zu kön­nen. Wenn man sich um der­lei Din­ge küm­mern muss, um die rein ober­fläch­li­chen Gege­ben­hei­ten, schwin­det die Wirk­lich­keit – ja, die Wirk­lich­keit selbst – dahin. Die inne­re Wahr­heit bleibt ver­bor­gen – zum Glück, kann man nur sagen. Aber ich spür­te sie trotz­dem; oft spür­te ich ihre geheim­nis­vol­le Stil­le, wie sie mir bei mei­nen Zir­kustricks zusah, genau­so wie sie jedem von euch zusieht, wenn ihr Kunst­stü­cke auf eurem jewei­li­gen Draht­seil auf­führt, für – was zahlt man? Ein hal­be Kro­ne für jeden Purzelbaum –”

Jetzt halt mal an dich, Mar­low”, knurr­te eine Stim­me, es muss­te also noch jemand ande­res außer mir wach sein.

Ich bit­te um Ver­zei­hung. Ich habe den Kum­mer ver­ges­sen, der den Rest der Bezah­lung dar­stellt. Und tat­säch­lich – was küm­mert einen die Bezah­lung, wenn das Kunst­stück gelingt? Ihr ver­steht euch auf eure Kunst­stü­cke. Und ich schlug mich auch nicht so schlecht, schließ­lich gelang es mir, das Dampf­boot auf mei­ner ers­ten Rei­se vor dem Sin­ken zu bewah­ren. Ich weiß immer noch nicht wie. Stellt euch einen Blin­den vor, der ein Last­ge­spann über eine schlech­te Stra­ße len­ken soll. Die Ange­le­gen­heit brach­te mich ganz schön ins Schwit­zen und zum Zit­tern, sage ich euch. Schließ­lich stellt es für einen See­mann eine unver­zeih­li­che Sün­de dar, wenn das Gefährt über Grund schrammt, das eigent­lich unter sei­ner Obhut jeder­zeit flott zu sein hat. Es fällt viel­leicht nie­man­dem auf, aber so einen Rumms ver­gisst man nicht, hm? Der trifft einen im Inners­ten. Man erin­nert sich dar­an, träumt davon, wacht nachts auf und denkt dar­an – Jah­re spä­ter –, und es läuft einem wie­der genau­so heiß und kalt den Rücken her­un­ter. Ich will nicht so tun, als ob das Dampf­boot die gan­ze Zeit flott gewe­sen wäre. Mehr als ein­mal ging es nur mehr oder weni­ger watend wei­ter, und zwan­zig durchs Was­ser plat­schen­de und schie­ben­de Kan­ni­ba­len hal­fen dabei. Wir hat­ten eini­ge die­ser Ker­le unter­wegs als Mann­schaft ange­heu­ert. Fei­ne Bur­schen – die Kan­ni­ba­len – auf ihre Art. Das waren Män­ner, mit denen man arbei­ten konn­te, und ich bin ihnen dank­bar. Und schließ­lich aßen sie sich nicht vor mei­nen Augen auf: Sie hat­ten einen Vor­rat an Fluss­pferd­fleisch mit­ge­bracht, der fau­lig wur­de und das Geheim­nis der Wild­nis stin­kend in mei­ne Nüs­tern auf­stei­gen ließ. Puh! Ich kann es jetzt noch rie­chen. Ich hat­te den Direk­tor und noch drei oder vier Pil­ger – kom­plett mit Knüp­peln – an Bord. Manch­mal gelang­ten wir an eine Sta­ti­on, die sich in Ufer­nä­he an den Saum des Unbe­kann­ten klam­mer­te, und die Wei­ßen, die mit gro­ßen der Freu­de und Über­ra­schung und Begrü­ßung aus einem arm­se­li­gen Schup­pen gerannt kamen, mach­ten einen selt­sa­men Ein­druck – sie wirk­ten, als ob sie dort von einem Zau­ber gefan­gen gehal­ten wür­den. Für eine Wei­le hör­te man dann das Wort Elfen­bein durch die Luft schwir­ren – und wei­ter ging es in die Stil­le hin­ein, lee­re Fluss­ab­schnit­te ent­lang, um stil­le Bie­gun­gen her­um, zwi­schen den hohen Mau­ern unse­res gewun­den Pfads, und in hoh­len Schlä­gen hall­te dabei das schwe­re Stamp­fen des Heck­rads nach. Bäu­me, Bäu­me, Mil­lio­nen von Bäu­men, mas­siv, enorm groß, hoch auf­schie­ßend; und zu ihren Füßen, am Ufer vor dem Strom Schutz suchend, kroch das klei­ne, ruß­be­schmier­te Dampf­boot dahin, wie ein Insekt, das trä­ge über den Boden einer hoch­auf­ra­gen­den Säu­len­hal­le krab­belt. Man hat­te das Gefühl, sehr klein und sehr ver­lo­ren zu sein, und trotz­dem war es über­haupt nicht depri­mie­rend, die­ses Gefühl. Denn schließ­lich moch­te der ruß­be­schmier­te Käfer klein sein, aber er krab­bel­te wei­ter – und genau das soll­te er ja. Wel­che Vor­stel­lun­gen die Pil­ger davon hat­ten, wohin das Krab­beln füh­ren soll­te, weiß ich nicht. Irgend­wo­hin, wo sie erwar­te­ten, irgend­et­was zu bekom­men. Was sonst! Was mich anging, führ­te das Krab­beln zu Kurtz – aus­schließ­lich; aber als die Dampf­roh­re anfin­gen zu lecken, krab­bel­ten wir nur noch sehr lang­sam. Die Fluss­ab­schnit­te öff­ne­ten sich vor uns und schlos­sen sich hin­ter uns wie­der, als ob der Wald gemäch­lich über das Was­ser schritt, um unse­ren Rück­weg zu ver­sper­ren. Wir dran­gen tie­fer und tie­fer in das Herz der Fins­ter­nis ein. Es war sehr still dort. Nachts drang manch­mal das Wir­beln von Trom­meln hin­ter dem Vor­hang der Bäu­me den Fluss hoch und ertön­te lei­se, als ob es in der Luft über unse­ren Köp­fen hing, bis zum Mor­gen­grau­en wei­ter. Ob es Krieg bedeu­te­te, Frie­den oder Gebet, konn­ten wir nicht unter­schei­den. Die Däm­me­rung wur­de jeweils vom Ein­set­zen einer küh­len Stil­le ange­kün­digt; die Holz­fäl­ler schlie­fen, ihre Feu­er brann­ten nur noch schwach, das Kna­cken eines Zwei­ges ließ einen zusam­men­zu­cken. Wir waren Wan­de­rer auf einer prä­his­to­ri­schen Erde, auf einer Erde, die aus­sah wie ein unbe­kann­ter Pla­net. Wir konn­ten uns ein­bil­den, die ers­ten Men­schen zu sein, die ein ver­fluch­tes Erbe antre­ten woll­ten, das nur um den Preis tie­fer Qua­len und maß­lo­ser Pla­cke­rei zu haben war. Aber dann wie­der, wäh­rend wir uns um irgend­ei­ne Bie­gung her­um arbei­te­ten, konn­te man plötz­lich einen Blick auf Wän­de aus Bin­sen­ge­flecht und spit­ze Gras­dä­cher erha­schen, und da war ein Aus­bruch von Schrei­en, ein Wir­bel aus schwar­zen Glie­dern, eine Mas­se aus klat­schen­den Hän­den, stamp­fen­den Füßen, sich wie­gen­den Kör­pern, rol­len­den Augen unter dem schwer und unbe­weg­lich her­un­ter­hän­gen­den Blät­ter­werk. Das Dampf­boot plag­te sich lang­sam und mühe­voll am Rand einer schwar­zen und unbe­greif­li­chen Eksta­se ent­lang. Der Urmensch ver­fluch­te uns, bete­te uns an, hieß uns will­kom­men – wer woll­te das sagen? Wir waren vom Ver­ständ­nis unser Umge­bung abge­schnit­ten; wir glit­ten dar­an vor­bei wie Phan­to­me, stau­nend und ins­ge­heim abge­sto­ßen, wie es geis­tig gesun­de Men­schen ange­sichts eines Aus­bruchs von Enthu­si­as­mus im Irren­haus wären. Wir konn­ten nicht ver­ste­hen, weil wir uns zu weit davon ent­fernt hat­ten, und wir konn­ten uns nicht erin­nern, weil wir durch die urzeit­li­che Nacht reis­ten, durch jene Zeit­al­ter, die ver­gan­gen sind und kaum ein Zei­chen hin­ter­las­sen haben – und kei­ne Erin­ne­run­gen daran.

Die Erde schien unir­disch. Wir sind es gewohnt, Unge­heu­er nur in besieg­ter und ange­ket­te­ter Form zu sehen, aber dort – dort konn­te man etwas sehen, das ein Unge­heu­er und doch frei war. Es war unir­disch, und die Men­schen waren – nein, es war nicht so, dass sie kei­ne Men­schen waren. Na ja, wisst ihr, das war eigent­lich das Schlimms­te dar­an – die­se Ahnung, dass es sich auch bei ihnen um Men­schen han­del­te. Sie stell­te sich lang­sam ein. Sie jaul­ten und spran­gen umher, dreh­ten sich im Kreis und schnit­ten grau­si­ge Gesich­ter; aber eben die­ser Gedan­ke an ihre mensch­li­che Natur – der unse­ren gleich – der Gedan­ke an die ent­fern­te Ver­wandt­schaft mit die­sem wil­den und lei­den­schaft­li­chen Auf­ruhr durch­schau­der­te einen. Häss­lich. Ja, häss­lich war es aller­dings; aber wenn man Manns genug war, konn­te man sich selbst ein­ge­ste­hen, dass es da in einem drin die win­zigs­te Spur einer Reak­ti­on auf die furcht­ba­re Auf­rich­tig­keit die­ses Lärms gab, einen vagen Ver­dacht, dass er eine zugrun­de lie­gen­de Bedeu­tung hat­te, die man selbst – so fern der urzeit­li­chen Nacht – ver­ste­hen konn­te. Und war­um auch nicht? Die Psy­che des Men­schen ist zu allem fähig – denn alles ist dar­in ent­hal­ten, die gesam­te Ver­gan­gen­heit eben­so wie die gesam­te Zukunft. Was gab es dort denn schließ­lich? Freu­de, Furcht, Trau­er, Hin­ga­be, Tap­fer­keit, Zorn – wer weiß das schon? – aber die Wahr­heit – die Wahr­heit, ihrer ver­gäng­li­chen Hül­le beraubt. Lasst den Nar­ren sie anstar­ren und vor Angst zit­tern – der Mann weiß Bescheid und kann hin­se­hen, ohne auch nur zu blin­zeln. Aber er muss wenigs­ten so viel Mumm in sich haben wie jene dort am Ufer. Er muss die­ser Wahr­heit mit dem begeg­nen, was an ihm selbst wahr ist – mit sei­ner eige­nen ange­bo­re­nen Stär­ke. Prin­zi­pi­en rei­chen nicht. Ange­eig­ne­te Din­ge, Klei­der, hüb­sche Fet­zen – Fet­zen, die beim ers­ten ernst­haf­ten Wind­hauch davon­flie­gen. Nein, um was es hier geht, ist eine bewuss­te Über­zeu­gung. Erhebt da jemand Ein­spruch aus eurer teuf­li­schen Schar – ja? Sehr wohl; ich höre; ich gebe es zu, aber ich habe auch etwas zu sagen, und was ich zu sagen habe, lässt sich nicht unter­drü­cken, was auch immer die Kon­se­quen­zen sind. Natür­lich, ein Narr, mit sei­ner schie­ren Angst und sei­ner edlen Gesin­nung, ist immer sicher. Wer grunzt da? Ihr fragt euch wohl, ob ich an Land gegan­gen bin, um ein biss­chen mit­zu­jau­len und mit­zu­tan­zen? Nun, nein – das bin ich nicht. Edle Gesin­nung, sagt ihr? Zum Teu­fel mit der edlen Gesin­nung! Ich hat­te ein­fach kei­ne Zeit. Ich muss­te mich mit Blei­weiß und in Strei­fen geris­se­nen Woll­de­cken her­um­schla­gen, um die lecken Dampf­roh­re zu umwi­ckeln – so war das. Ich muss­te auf das Steu­er­rad Acht geben und besag­te Baum­stümp­fe umschif­fen, die Kon­ser­ven­do­se auf Bie­gen und Bre­chen auf ihrem Weg vor­an­brin­gen. In die­sen Din­gen lagen so vie­le rein ober­fläch­li­che Gege­ben­hei­ten, dass sie auch einen klü­ge­ren Mann als mich geret­tet hät­ten. Und ab und zu muss­te ich auch nach dem Wil­den sehen, der als Hei­zer arbei­te­te. Es han­del­te sich um ein ver­edel­tes Exem­plar; er konn­te einen Steh­kes­sel befeu­ern. Er arbei­te­te direkt unter mir, und, mein Wort dar­auf, sein Anblick war so erbau­lich wie der eines Hun­des in Reit­ho­sen und mit Feder­hut, der auf sei­nen Hin­ter­läu­fen geht. Ein paar Mona­te Aus­bil­dung hat­ten die­sen wirk­lich fei­nen Bur­schen in eine der­ar­ti­ge Par­odie ver­wan­delt. Er blin­zel­te das Dampf­druck­m­a­no­me­ter und den Was­ser­stands­an­zei­ger mit offen­kun­dig gewoll­ter Uner­schro­cken­heit an, abge­feil­te Zäh­ne hat­te er auch, in die Wol­le auf sei­nem Schä­del waren selt­sa­me Mus­tern rasiert, und auf jeder sei­ner Wan­gen prang­ten drei Schmuck­nar­ben. Eigent­lich hät­te er am Ufer sein und die Hän­de klat­schen und mit den Füßen stamp­fen müs­sen, statt­des­sen arbei­te­te er hier schwer, durch frem­de Hexe­rei zur Knecht­schaft gezwun­gen, voll des ver­edeln­den Wis­sens. Er war nütz­lich, weil man ihn dazu aus­ge­bil­det hat­te; und eines wuss­te er – soll­te das Was­ser in dem durch­sich­ti­gem Ding da ver­schwin­den, wür­de der böse Geist im Innern des Kes­sels wegen sei­nes gro­ßen Durs­tes böse wer­den und furcht­ba­re Rache neh­men. Also schwit­ze er und befeu­er­te den Kes­sel und betrach­te­te angst­voll den Anzei­ger (mit einem impro­vi­sier­ten Talis­man aus Lum­pen, den er an den Arm gebun­den hat­te, sowie einem Stück blank­po­lier­ten Kno­chen, so groß wie eine Uhr, das flach durch sei­ne Unter­lip­pe gesteckt war), wäh­rend die bewal­de­ten Ufer lang­sam an uns vor­beiglit­ten und der kur­ze Lärm, die unzähl­ba­ren Mei­len der Stil­le hin­ter uns zurück­blie­ben – so kro­chen wir vor­an, Kurtz ent­ge­gen. Aber die Baum­stümp­fe waren zahl­reich, das Was­ser trü­ge­risch und seicht, der Kes­sel schien tat­säch­lich von einem mür­ri­schen Teu­fel bewohnt zu sein, und so hat­ten weder der Hei­zer noch ich Zeit, uns auch nur flüch­tig mit unse­ren schau­ri­gen Gedan­ken zu befassen.

Etwa fünf­zig Mei­len unter­halb der Bin­nen­sta­ti­on stie­ßen wir auf eine Schilfhüt­te, einen schie­fen und melan­cho­li­schen Fah­nen­mast, an dem nicht mehr iden­ti­fi­zier­ba­ren Fet­zen hin­gen, die ein­mal irgend­ei­ne Flag­ge gewe­sen waren, und einen sau­ber auf­ge­sta­pel­ten Stoß Holz. Das hat­ten wir nicht erwar­tet. Wir gin­gen ans Ufer, und dort fan­den wir auf dem Sta­pel Feu­er­holz ein fla­ches Brett mit ein paar ver­bli­che­nen Blei­stift­buch­sta­ben dar­auf. Nach­dem wir sie iden­ti­fi­ziert hat­ten, lasen wir: ‚Holz für euch. Beeilt euch. Vor­sich­tig nähern.’ Es gab eine Unter­schrift, aber man konn­te sie nicht ent­zif­fern – es war nicht Kurtz – das Wort war viel län­ger. ‚Beeilt euch’ Wohin? Fluss­auf­wärts? ‚Vor­sich­tig nähern.’ Das hat­ten wir nicht getan. Aber die War­nung konn­te nicht für den Ort selbst gel­ten, an dem man sie erst fand, wenn man bereits da war. Irgend­et­was wei­ter fluss­auf­wärts stimm­te nicht. Aber was – und in wel­chem Umfang? Das war die Fra­ge. Wir schüt­tel­ten den Kopf über den schwach­sin­ni­gen Tele­gra­phen­stil. Der Busch um den Ort her­um sag­te nichts und gewähr­te auch kei­ne all­zu tie­fen Ein­bli­cke. Ein zer­ris­se­ner Vor­hang aus rotem Twill­stoff hing am Ein­gang der Hüt­te und flat­ter­te uns trau­rig ins Gesicht. Die Behau­sung war ver­las­sen, aber wir konn­ten sehen, dass hier vor nicht all­zu lan­ger Zeit ein Wei­ßer gelebt hat­te. Es gab noch einen pri­mi­ti­ven Tisch – ein Brett auf zwei Pfos­ten –, einen Abfall­hau­fen, der in einer dunk­len Ecke ruh­te, und neben der Tür fand ich ein Buch. Es hat­te kei­nen Umschlag mehr, und die Sei­ten waren so abge­grif­fen, dass sie einen Zustand extrem schmut­zi­ger Weich­heit ange­nom­men hat­ten, aber den Buch­rü­cken hat­te man sorg­fäl­tig neu mit wei­ßem, noch sau­ber aus­se­hen­dem Baum­woll­garn zusam­men­ge­hef­tet. Es war ein außer­or­dent­li­cher Fund. Sein Titel lau­te­te ‚Eine Unter­su­chung ver­schie­de­ner Fra­gen der See­manns­kunst’ von einem Mann namens Tow­ser, Tow­son – irgend­et­was in der Art –, Kapi­tän in der Mari­ne Ihrer Majes­tät. Das The­ma sah nach aus­ge­spro­chen tro­cke­ner Lek­tü­re aus, es gab erläu­tern­de Dia­gram­me und abschre­cken­de Zah­len­ta­bel­len, und die Aus­ga­be war sech­zig Jah­re alt. Ich behan­del­te die­se erstaun­li­che Anti­qui­tät mit der größt­mög­li­chen Vor­sicht, damit es nicht in mei­nen Hän­den aus­ein­an­der fiel. Ihr Inhalt bestand dar­aus, dass Tow­son oder Tow­ser ernst­haf­te Unter­su­chun­gen zur Bruch­fes­tig­keit von Schiffs­ket­ten und Take­la­ge und ähn­li­chen Din­gen anstell­te. Kein beson­ders fes­seln­des Buch, aber auf den ers­ten Blick fiel einem eine gewis­se Ziel­stre­big­keit auf, ein ech­tes Inter­es­se dar­an, die rich­ti­ge Arbeits­wei­se zu fin­den, wodurch die­se beschei­de­nen Sei­ten, die vor so vie­len Jah­ren erdacht wor­den waren, in mehr als nur dem All­tags­licht des Berufs erschie­nen. Die­ser ein­fa­che alte See­mann mit sei­nen Über­le­gun­gen zu Ket­ten und Ankäu­fen ließ mich durch das kost­ba­re Gefühl, auf etwas unver­kenn­bar Ech­tes gesto­ßen zu sein, Dschun­gel und Pil­ger ver­ges­sen. Dass es dort über­haupt solch ein Buch gab, war Wun­der genug; noch erstaun­li­cher aber waren die Anmer­kun­gen, die mit Blei­stift an den Rand geschrie­ben waren und sich offen­bar auf den Text bezo­gen. Ich trau­te mei­nen Augen nicht! Es war eine Geheim­schrift! Ja, es sah aus wie eine Geheim­schrift. Stellt euch einen Men­schen vor, der ein Buch mit der­ar­ti­gen Beschrei­bun­gen an die­sen Ort mit­ten im Nichts mit­nimmt und es stu­diert – und Anmer­kun­gen macht – und dann auch noch in Geheim­schrift! Es war ein Geheim­nis der außer­ge­wöhn­li­chen Art.

Mir war seit eini­ger Zeit ein vager, beun­ru­hi­gen­der Lärm ins Bewusst­sein gedrun­gen, und als ich die Augen hob, sah ich, dass der Holz­stoß ver­schwun­den war und der Direk­tor, unter Mit­wir­kung aller Pil­ger, mir von Bord aus zubrüll­te. Ich steck­te das Buch in mei­ne Tasche. Ich ver­si­che­re euch, dass der Abbruch der Lek­tü­re wie der erzwun­ge­ne Abschied aus dem geschütz­ten Hort einer alten und bestän­di­gen Freund­schaft war.

Ich brach­te die lah­me Maschi­ne wie­der auf Vor­wärts­kurs. ‚Das muss die­ser elen­de Händ­ler gewe­sen sein – die­ser Ein­dring­ling,’ rief der Direk­tor, wäh­rend er hass­erfüllt auf den Ort zurück­blick­te, den wir gera­de ver­las­sen hat­ten. ‚Er muss Eng­län­der sein’, sag­te ich. ‚Das wird ihn nicht davor bewah­ren, Ärger zu bekom­men, wenn er nicht auf­passt’, mur­mel­te der Direk­tor düs­ter. Ich bemerk­te vor­ge­täusch­ter Unschuld, dass kein Mensch auf die­ser Welt Ärger aus dem Weg gehen könne.

Die Strö­mung war jetzt schnel­ler, das Dampf­boot schien sei­nen letz­ten Seuf­zer zu tun, das Heck­rad flapp­te trä­ge ins Was­ser, und ich ertapp­te mich dabei, wie ich auf Zehen­spit­zen auf den nächs­ten Schlags des Boo­tes war­te­te, denn, um der Wahr­heit die Ehre zu geben, erwar­te­te ich von dem elen­den Ding jeden Moment, dass es sei­nen Geist auf­ge­ben wür­de. Es war, als ob man die letz­ten Lebens­zei­chen betrach­te­te. Aber wir krab­bel­ten immer noch wei­ter. Manch­mal such­te ich mir einen Baum aus, der ein klei­nes Stück vor­aus stand, um unse­re Fort­schrit­te in Rich­tung Kurtz zu mes­sen, aber bevor wir dwars kamen, hat­te ich ihn aus­nahms­los wie­der aus den Augen ver­lo­ren. Kein Mensch konn­te sei­nen Blick so lan­ge auf ein ein­zel­nes Objekt hal­ten. Der Direk­tor leg­te eine vor­treff­li­che Resi­gna­ti­on an den Tag. Ich schäum­te vor Wut und fing an, mit mir selbst dar­über zu strei­ten, ob ich offen mit Kurtz reden soll­te oder nicht; aber bevor ich zu einem Ergeb­nis kam, fiel mir ein, dass es voll­kom­men egal war, ob ich reden oder schwei­gen oder über­haupt irgend­et­was tun wür­de. Was mach­te es aus, ob irgend­je­mand irgend­et­was wuss­te oder nicht? Was mach­te es aus, wer der Direk­tor war? Man hat manch­mal sol­che blitz­ar­ti­gen Erkennt­nis­se. Das Wesent­li­che die­ser Ange­le­gen­heit lag tief unter der Ober­flä­che ver­bor­gen, außer­halb mei­ner Reich­wei­te, und jen­seits mei­ner Mög­lich­kei­ten, mich einzumischen.

Gegen Abend des zwei­ten Tages mein­ten wir, etwa acht Mei­len von Kurtz’ Sta­ti­on ent­fernt zu sein. Ich dräng­te dar­auf wei­ter­zu­fah­ren, aber der Direk­tor mach­te ein erns­tes Gesicht und sag­te mir, dass die Navi­ga­ti­on wei­ter auf­wärts so gefähr­lich sei, dass wir, da ja die Son­ne schon sehr tief ste­he, bes­ser bis zum nächs­ten Mor­gen hier war­te­ten. Dar­über hin­aus mach­te er mich dar­auf auf­merk­sam, dass wir uns bei Befol­gung der War­nung, vor­sich­tig zu sein, bei Tages­licht nähern müss­ten – nicht in der Abend­däm­me­rung oder im Dun­keln. Das war nur ver­nünf­tig. Acht Mei­len bedeu­te­ten fast drei Stun­den unter Dampf für uns, und außer­dem konn­te ich am Ende des Fluss­ab­schnitts ein ver­däch­ti­ges Kräu­seln sehen. Trotz­dem war ich über alle Maßen ver­är­gert über die Ver­zö­ge­rung, und das ganz ohne Grund, denn eine Nacht mehr konn­te kaum einen Unter­schied machen, nach so vie­len Mona­ten. Da wir jede Men­ge Holz hat­ten und die Paro­le Vor­sicht lau­te­te, dreh­te ich in der Mit­te des Stroms bei. Der Fluss war hier eng, gera­de und wies hohe Sei­ten auf, wie bei einem Eisen­bahn­ein­schnitt. Die Abend­däm­me­rung glitt lang­sam dort hin­ein, lan­ge bevor die Son­ne unter­ge­gan­gen war. Die Strö­mung war gleich­mä­ßig und schnell, aber auf den Ufern saß eine dump­fe Unbe­weg­lich­keit. Die leben­den Bäu­me, anein­an­der­ge­bun­den mit Schling­pflan­zen und allen leben­den Büschen des Unter­hol­zes, wirk­ten wie ver­stei­nert, bis hin zum dünns­ten Zweig, bis hin zum kleins­ten Blatt. Es war nicht Schlaf – es wirk­te unna­tür­lich, wie ein Tran­ce­zu­stand. Nicht der gerings­te Laut irgend­ei­ner Art war zu hören. Man sah stau­nend dar­auf und fing an, sich für taub zu hal­ten – dann kam plötz­lich die Nacht und ließ einen auch noch erblin­den. Etwa um drei Uhr nachts schoss irgend­ein gro­ßer Fisch aus dem Was­ser, und das lau­te Auf­klat­schen ließ mich hoch­fah­ren, als ob man ein Gewehr abge­feu­ert hät­te. Bei Son­nen­auf­gang lag wei­ßer Nebel über dem Fluss, sehr warm und klamm, der einen noch weni­ger sehen ließ als die Dun­kel­heit der Nacht. Er änder­te weder die Form, noch beweg­te er sich; er war ein­fach da und stand um einen her­um wie eine fes­te Mas­se. Um acht oder neun viel­leicht hob er sich wie ein Roll­la­den. Wir erhasch­ten einen Blick auf die auf­ra­gen­de Mas­se der Bäu­me, den gewal­ti­gen, in sich ver­filz­ten Dschun­gel, den grel­len klei­nen Son­nen­ball, der dar­über hing – alles voll­kom­men still – und dann senk­te sich der wei­ße Roll­la­den wie­der so sanft, als ob er in geöl­ten Schie­nen lief. Ich befahl, die Anker­ket­te, die wir begon­nen hat­ten ein­zu­zie­hen, wie­der aus­zu­wer­fen. Bevor Sie mit einem unter­drück­ten Rat­tern zum Still­stand kam, stieg lang­sam ein Schrei, ein sehr lau­ter Schrei, wie aus unge­heue­rer Ver­zweif­lung, in der undurch­dring­li­chen Luft auf. Dann hör­te er auf. Ein kla­gen­des Geschreie, modu­liert in pri­mi­ti­ven Dis­har­mo­nien, erfüll­te unse­re Ohren. Es geschah so voll­kom­men uner­war­tet, dass mir die Haa­re unter mei­ner Müt­ze zu Ber­ge stan­den. Ich weiß nicht, wie die ande­ren dar­auf reagier­ten: Mir schien es, als ob der Nebel selbst geschrie­en hät­te, der­art plötz­lich, und offen­bar von allen Sei­ten gleich­zei­tig, war die­ser tumult­ar­ti­ge und kla­gen­de Auf­ruhr los­ge­bro­chen. Er gip­fel­te in dem über­stürz­ten Aus­bruch eines fast uner­träg­lich lau­tem Krei­schens, der plötz­lich abbrach und uns starr vor Angst in einer Rei­he alber­ner Posen daste­hen ließ, hart­nä­ckig der fast nicht weni­ger uner­träg­li­chen lei­sen Stil­le lau­schend. ‚Gro­ßer Gott! Was bedeu­tet –’ stam­mel­te einer der Pil­ger neben mir – ein klei­ner dicker Mann mit sand­far­be­nem Haar und rotem Backen­bart, der Stie­fel mit Sei­ten­schnal­len und rosa Pyja­ma­ho­sen in sei­ne Socken gesteckt trug. Zwei ande­re blie­ben mit offe­nen Mün­dern eine gan­ze Minu­te ste­hen, stürz­ten dann in die klei­ne Kabi­ne, um Hals über Kopf wie­der her­aus­zu­stür­zen und mit feu­er­be­rei­ten Win­ches­ter-Geweh­ren in der Hand angst­vol­le Bli­cke um sich zu wer­fen. Alles, was wir sehen konn­ten, war das Dampf­boot, auf dem wir uns befan­den und des­sen Umris­se ver­schwam­men, als ob es sich gleich auf­lö­sen woll­te, sowie ein neb­li­ger Strei­fen Was­ser, viel­leicht zwei Fuß breit, um das Boot her­um – das war alles. Der Rest der Welt exis­tier­te nicht, jeden­falls was unse­re Augen und Ohren anging. Exis­tier­te ein­fach nicht. Weg, ver­schwun­den; weg­ge­fegt ohne den Hauch eines Schat­tens zurückzulassen.

Ich ging nach vorn und befahl, die Anker­ket­te anzu­ho­len, um nöti­gen­falls schnell den Anker auf­ho­len und das Dampf­boot in Bewe­gung set­zen zu kön­nen. ‚Wer­den sie angrei­fen?’ flüs­ter­te eine ein­ge­schüch­ter­te Stim­me. ‚Man wird uns alle abschlach­ten in die­sem Nebel’, mur­mel­te eine ande­re. In den Gesich­tern zuck­te es vor Anstren­gung, die Hän­de zit­ter­ten leicht, die Augen ver­ga­ßen zu blin­zeln. Es war sehr selt­sam, den Gegen­satz in den Mie­nen der Wei­ßen und der Schwar­zen in unse­rer Beset­zung anzu­se­hen, denen die­ser Teil des Flus­ses genau­so fremd war wie uns, obwohl ihr Zuhau­se nur acht­hun­dert Mei­len ent­fernt lag. Die Wei­ßen, natür­lich stark erregt, mach­ten außer­dem den Ein­druck, außer­or­dent­lich scho­ckiert von die­sem uner­hör­ten Auf­ruhr zu sein. Die ande­ren tru­gen eine alar­mier­te, natür­lich auf­merk­sa­me Mie­ne; aber in ihren Gesich­ter war es im Wesent­li­chen ruhig, selbst bei einem oder zwei­en, die beim Anho­len der Anker­ket­te grins­ten. Eini­ge wech­sel­ten kur­ze, gegrunz­te Wor­te, mit denen die Ange­le­gen­heit zu ihrer Zufrie­den­heit erle­digt schien. Ihr Vor­mann, ein jun­ger Schwar­zer mit brei­ter Brust, der schlicht in dun­kel­blaue, gefrans­te Tücher gehüllt war und wil­de Nüs­tern sowie eine extra­va­gan­te Fri­sur aus geöl­ten Löck­chen trug, stand neben mir. ‚Aha!’, sag­te ich, der rei­nen Gesel­lig­keit hal­ber. ‚Fan­gen’, bell­te er, und dabei wei­te­ten sich sei­ne Augen blut­un­ter­lau­fen und sei­ne schar­fen Zäh­ne blitz­ten auf, ‚Fan­gen. Uns geben.’ ‚Euch, ja?’, frag­te ich ihn. ‚Was wür­det ihr mit ihm tun?’ ‚Essen!’, sag­te er knapp und blick­te, die Ell­bo­gen auf die Ree­ling gestützt, in wür­de­vol­ler und zutiefst gedan­ken­vol­ler Hal­tung in den Nebel hin­aus. Ich wäre zwei­fel­los ange­mes­sen scho­ckiert gewe­sen, wäre mir nicht ein­ge­fal­len, dass er und sei­ne Freun­de ja gro­ßen Hun­ger haben muss­ten, dass ihr Hun­ger wahr­schein­lich sogar seit wenigs­tens einem Monat immer grö­ßer gewor­den war. Man hat­te sie für sechs Mona­te ange­heu­ert (Ich glau­be nicht, dass auch nur einer von ihnen über­haupt eine kla­re Vor­stel­lung von Zeit hat­te, die der unse­ren, im Lau­fe unzäh­li­ger Zeit­al­ter erwor­be­nen, ent­spricht. Sie gehör­ten noch in die Anfän­ge der Zeit hin­ein – waren sozu­sa­gen ohne ererb­te Tra­di­tio­nen, die ihnen ein Zeit­ge­fühl bei­gebracht hät­ten.), und solan­ge es ein Stück Papier gab, das den Bestim­mun­gen irgend­ei­nes wei­ter fluss­ab­wärts auf­ge­stell­ten Geset­zes ent­sprach, scher­te sich selbst­ver­ständ­lich nie­mand auch nur im Gerin­ges­ten dar­um, von was sie sich ernähr­ten. Sie hat­ten sicher eini­ges von dem fau­li­gen Fluss­pferd­fleisch mit­ge­bracht, das aber selbst dann nicht all­zu lan­ge vor­ge­hal­ten hät­te, wenn die Pil­ger nicht in einem gräss­li­chen Tohu­wa­bo­hu den Groß­teil davon über Bord gewor­fen hät­ten. Das hat­te reich­lich will­kür­lich gewirkt, aber in Wirk­lich­keit war es ein Akt legi­ti­mer Selbst­ver­tei­di­gung. Man kann kein ver­faul­tes Fluss­pferd­fleisch rie­chen, wo man geht und steht und schläft und isst, und gleich­zei­tig die stets pre­kä­re Ver­bin­dung zur Rea­li­tät auf­recht erhal­ten. Davon abge­se­hen hat­te man ihnen jede Woche drei Stück Mes­sing­draht gege­ben, jeder etwa neun Zoll lang, und theo­re­tisch hät­ten sie sich mit die­ser Wäh­rung ihre Ver­pfle­gung in den Dör­fern am Fluss kau­fen sol­len. Ihr könnt euch vor­stel­len, was dar­aus gewor­den ist. Ent­we­der es gab kei­ne Dör­fer, oder die Men­schen waren feind­lich gesinnt, oder der Direk­tor, der sich, wie wir ande­ren auch, von Kon­ser­ven und als gele­gent­li­cher Zuga­be etwas altem Zie­gen­bock­fleisch ernähr­te, woll­te das Dampf­boot aus irgend­ei­nem mehr oder weni­ger uner­forsch­li­chen Grund nicht hal­ten las­sen. Wenn sie also nicht gleich den Draht selbst schluck­ten oder dar­aus Schlin­gen zum Angeln von Fischen mach­ten, nutz­te ihnen, soweit ich das beur­tei­len kann, ihr üppi­ger Lohn über­haupt nichts. Ich muss aller­dings sagen, dass die­ser mit der Pünkt­lich­keit aus­be­zahlt wur­de, die einer gro­ßen und ehren­wer­ten Han­dels­ge­sell­schaft wür­dig ist. Ansons­ten hat­ten sie an Ess­ba­rem – obwohl es kei­nen sehr ess­ba­ren Ein­druck mach­te – nur ein paar Bro­cken einer Sub­stanz dabei, die wie halb­ga­rer Teig aus­sah und eine schmut­zig lila Far­be hat­te; sie war in Blät­tern ein­ge­wi­ckelt, und von Zeit zu Zeit schluck­ten sie etwas davon, aber in so klei­nen Stü­cken, dass es weni­ger der tat­säch­li­chen Ernäh­rung als mehr dem Anschein davon zu die­nen schien. War­um, bei allen Teu­feln des boh­ren­den Hun­gers, sie sich nicht auf uns stürz­ten – sie waren drei­ßig gegen fünf –, um sich wenigs­tens ein­mal einen nahr­haf­ten Imbiss zu gön­nen, ver­blüfft mich noch heu­te. Es waren gro­ße, star­ke Män­ner, nicht unbe­dingt des Abwä­gens von Kon­se­quen­zen mäch­tig, aber mutig und stark, selbst jetzt noch, wo ihre Haut nicht mehr glänz­te und ihre Mus­keln nicht mehr hart waren. Und ich sah, dass hier irgend­ei­ne Hem­mung, eines die­ser Geheim­nis­se des Men­schen, die der Wahr­schein­lich­keit zuwi­der lau­fen, im Spiel war. Ich betrach­te­te sie mit plötz­lich erwa­chen­dem Inter­es­se – nicht, weil ich den Ein­druck hat­te, dass ich über kurz oder lang von Ihnen geges­sen wür­de, obwohl ich euch geste­hen muss, dass mir gera­de in die­sem Moment – sozu­sa­gen in einem neu­en Licht – auf­fiel, wie unge­sund die Pil­ger eigent­lich aus­sa­hen, und ich hoff­te, ja, ich hoff­te wirk­lich, dass mein Anblick nicht so – wie soll ich sagen? – so – so unap­pe­tit­lich war: ein Anflug aber­wit­zi­ger Eitel­keit, der gut zu der traum­ar­ti­gen Emp­fin­dung pass­te, von der damals alle mei­ne Tage durch­drun­gen waren. Viel­leicht hat­te ich auch leich­tes Fie­ber. Man kann nicht so leben, dass man stän­dig den eige­nen Puls abhört. Ich hat­te oft ‚leich­tes Fie­ber’ oder ande­re klei­ne Weh­weh­chen – spie­le­ri­sche Pran­ken­schlä­ge der Wild­nis, die klei­nen Baga­tel­len im Vor­feld der ernst­haf­ten Atta­cke, die zur gege­be­nen Zeit kom­men wür­de. Ja, ich betrach­te­te sie, wie man es mit Men­schen eben macht, neu­gie­rig, was ihre Antrie­be, Moti­ve, Fähig­kei­ten, Schwä­chen ange­sichts der Prü­fung durch uner­bitt­li­che phy­si­sche Anfor­de­run­gen anging. Hem­mung! Wel­che Art von Hem­mung konn­te das sein? War es Aber­glau­be, Abscheu, Geduld, Furcht – oder gar irgend­ei­ne Art pri­mi­ti­ven Ehr­ge­fühls? Kei­ne Furcht kann sich mit dem Hun­ger mes­sen, kei­ne Geduld ihn über­dau­ern, Abscheu gibt es nicht, wo Hun­ger ist; und was Aber­glau­be, Reli­gi­on und das, was man Grund­sät­ze nen­nen könn­te, angeht – weni­ger als Wei­zen­spreu in einem Wind­hauch. Kennt ihr den Teu­fel des schlei­chen­den Ver­hun­gerns nicht, sei­ne ver­zwei­fel­ten Qua­len, sei­ne schwar­zen Gedan­ken, sei­ne düs­te­re und grüb­le­ri­sche Grim­mig­keit? Ich für mei­nen Teil schon. Ein Mann braucht die gan­ze ihm inne­woh­nen­de Stär­ke, um sich dem Hun­ger zu stel­len. Es ist wirk­lich ein­fa­cher, mit dem Tod gelieb­ter Men­schen, dem Ver­lust der Ehre und der Ver­damm­nis sei­ner See­le fer­tig zu wer­den als mit die­ser Art schlei­chen­den Hun­gers. Trau­rig, aber wahr. Und die­se Bur­schen hat­ten wirk­lich nicht den gerings­ten Grund für irgend­wel­che Skru­pel. Hem­mung! Man hät­te eben­so gut Hem­mun­gen von Hyä­nen erwar­ten kön­nen, die auf einem Schlacht­feld um die Lei­chen her­um­streu­nen. Aber so waren nun mal die Tat­sa­chen – schil­lernd anzu­se­hen wie der Schaum auf den Tie­fen des Mee­res, wie ein Kräu­seln an der Ober­flä­che eines uner­gründ­lich tie­fen Mys­te­ri­ums, eines Rät­sels, das – wenn man dar­über nach­dach­te – unver­ständ­li­cher war als der selt­sa­me, uner­klär­li­che Anflug ver­zwei­fel­ter Trau­er in jenem wil­den Auf­ruhr, der am Fluss­ufer, hin­ter der blin­den Wei­ße des Nebels, an uns vor­beige­braust war.

Zwei der Pil­ger strit­ten sich has­tig flüs­ternd über das Ufer. ‚Links.’ ‚Nein, nein, was redest du da? Rechts, rechts natür­lich.’ ‚Das ist sehr ernst’, sag­te die Stim­me des Direk­tors hin­ter mir. ‚Ich wäre untröst­lich, wenn Mon­sieur Kurtz irgend­et­was zustie­ße, bevor wir ankom­men.’ Ich sah ihn an und hat­te nicht den gerings­ten Zwei­fel, dass er es auf­rich­tig mein­te. Er war genau die Sor­te Mensch, der es auf das Wah­ren des Scheins ankommt. Dar­aus bestand sei­ne Hem­mung. Aber als er etwas davon mur­mel­te, sofort wei­ter­zu­fah­ren, mach­te ich mir gar nicht erst die Mühe zu ant­wor­ten. Ich wuss­te, und er wuss­te, dass das unmög­lich war. Wenn wir unse­re Ver­bin­dung zum Grund kapp­ten, wür­den wir voll­kom­men in der Luft hän­gen – im Welt­all. Wir hät­ten nicht gewusst, in wel­che Rich­tung wir uns beweg­ten – fluss­auf­wärts, fluss­ab­wärts oder quer dazu –, bis wir an einem der Ufer auf­ge­lau­fen wären, ohne auch nur zu wis­sen, wel­ches es sein wür­de. Selbst­ver­ständ­lich beweg­te ich das Schiff nicht von der Stel­le. Mir war nicht danach, es in ein Wrack zu ver­wan­deln. Ihr könn­tet euch kei­nen schlim­me­ren Ort für einen Schiff­bruch vor­stel­len. Ob wir gleich ertran­ken oder nicht – unser bal­di­ger Tod auf die eine oder ande­re Wei­se wäre so gut wie sicher gewe­sen. ‚Ich ermäch­ti­ge Sie, alle nöti­gen Risi­ken ein­zu­ge­hen’, sag­te er nach kur­zer Stil­le. ‚Ich wei­ge­re mich, auch nur eines davon ein­zu­ge­hen’, ant­wor­te­te ich knapp, und genau die­se Ant­wort hat­te er erwar­tet, obwohl ihr Ton ihn viel­leicht etwas über­rasch­te. ‚Nun, ich muss mich Ihrem Urteils­ver­mö­gen beu­gen. Sie sind der Kapi­tän’, sag­te er betont höf­lich. Ich wand­te ihm zum Zei­chen mei­ner Wert­schät­zung die Schul­ter zu und blick­te in den Nebel. Wie lan­ge wür­de er andau­ern? Einen hoff­nungs­lo­se­ren Aus­blick kann man sich nicht vor­stel­len. Die Fahrt zu die­sem Kurtz, der in sei­nem ver­ma­le­dei­ten Urwald Elfen­bein an sich raff­te, war von so vie­len Gefah­ren bedroht, als ob er eine ver­zau­ber­te, schla­fen­de Prin­zes­sin in einem ver­wun­sche­nen Schloss wäre. ‚Wer­den sie angrei­fen, was den­ken Sie?’, frag­te der Direk­tor in einem ver­trau­li­chen Ton.

Ich erwar­te­te nicht, dass sie angrei­fen wür­den, aus meh­re­ren offen­sicht­li­chen Grün­den. Einer davon war der dich­te Nebel. Wenn Sie in ihren Pad­del­boo­ten vom Ufer los­fuh­ren, wür­den sie dar­in die Ori­en­tie­rung ver­lie­ren, genau wie wir, wenn wir ver­sucht hät­ten, wei­ter­zu­fah­ren. Ande­rer­seits war mir auch der Dschun­gel auf bei­den Ufern mehr oder weni­ger undurch­dring­lich erschie­nen, und doch hat­te es Augen gege­ben, die uns gese­hen hat­ten. Die Büsche direkt am Fluss waren zwei­fels­oh­ne sehr dicht, aber das Unter­holz dahin­ter war offen­sicht­lich durch­läs­sig. Aller­dings hat­te ich, als sich der Nebel kurz hob, nir­gend­wo Pad­del­boo­te in die­sem Abschnitt gese­hen, und ganz sicher nicht quer­ab vom Dampf­boot. Aber was mir die Vor­stel­lung eines Angriffs wirk­lich unmög­lich mach­te, war die Art des Lärms – der Schreie, die wir gehört hat­ten. Sie waren nicht von der kämp­fe­ri­schen Art, die sofor­ti­ge feind­se­li­ge Hand­lun­gen befürch­ten lie­ßen. So uner­war­tet, wild und gewalt­tä­tig sie auch geklun­gen hat­ten, hat­te sich mir doch unwei­ger­lich der Ein­druck von Trau­er auf­ge­drängt. Der kur­ze Anblick des Dampf­boots hat­te die­se Wil­den aus irgend­ei­nem Grund mit unbän­di­ger Trau­er erfüllt. Die Gefahr, falls über­haupt wel­che bestand – so führ­te ich aus –, bestand dar­in, dass wir uns nahe einer unge­heu­ren mensch­li­chen Erre­gung befan­den, die kei­ne Gren­zen mehr kann­te. Selbst tiefs­te Trau­er kann sich schließ­lich in Gewalt ent­la­den – aber in der Regel zeigt sie sich als Apathie.…

Da hät­tet ihr sehen sol­len, wie die Pil­ger glotz­ten! Sie brach­ten es nicht über sich, zu lächeln, nicht ein­mal, mich zu beschimp­fen – aber sie nah­men sicher an, ich sei ver­rückt gewor­den, vor Angst viel­leicht. Ich hielt ihnen einen regel­rech­ten Vor­trag. Mein Lie­ben, ich hät­te mich gar nicht bemü­hen müs­sen. Wache hal­ten? Nun, ihr könnt euch sicher vor­stel­len, dass ich den Nebel betrach­te­te wie eine Kat­ze eine Maus und nach Anzei­chen für sein bal­di­ges Anhe­ben forsch­te, aber für alle ande­ren Zwe­cke waren unse­re Augen so nutz­los, als ob wir unter Mei­len von Baum­wol­le begra­ben gewe­sen wären. So fühl­te er sich auch an: warm und sti­ckig. Davon abge­se­hen ent­sprach alles, was ich sag­te, so über­spannt es sich anhö­ren moch­te, abso­lut und voll­kom­men der Wahr­heit. Was wir spä­ter einen Über­fall nen­nen soll­ten, war in Wirk­lich­keit ein Ver­such, uns abzu­schre­cken. Die Hand­lung war weit davon ent­fernt, aggres­siv zu sein – sie war nicht ein­mal abweh­rend, jeden­falls im übli­chen Sinn: Ihre Wur­zel lag in tie­fer Ver­zweif­lung, und ihr Wesen war rein beschüt­zen­der Art.

Sie ging noch, muss ich hin­zu­fü­gen, zwei Stun­den nach Anhe­ben des Nebels wei­ter, und die Stel­le, wo sie ange­fan­gen hat­te, lag mehr oder weni­ger andert­halb Mei­len unter­halb von Kurtz’ Sta­ti­on. Wir kamen gera­de plat­schend und pat­schend um eine Bie­gung her­um, als ich eine klei­ne Insel sah, nur ein gras­be­wach­se­nes, hell­grün schim­mern­des Hügel­chen in der Mit­te des Stroms. Sie war die ein­zi­ge ihrer Art, aber als sich der Fluss­lauf vor uns wei­te­te, sah ich, dass sie den Kopf einer lan­gen Sand­bank bil­de­te, oder eher einer Ket­te von Untie­fen, die sich die Fluss­mit­te ent­lang erstreck­ten. Sie waren farb­los, gera­de von Was­ser bedeckt, und man konn­te die gan­ze Rei­he unter­halb der Was­ser­ober­flä­che lie­gen sehen, genau wie das Rück­grat eines Men­schen unter der Haut den Rücken ent­lang läuft. Soweit ich sehen konn­te, konn­te ich nun ent­we­der rechts oder links dar­an vor­bei­fah­ren. Ich kann­te selbst­ver­ständ­lich weder die eine noch die ande­re Fahr­rin­ne. Die Ufer ähnel­ten sich mehr oder weni­ger, die Tie­fe sah auch gleich aus; aber da man mir gesagt hat­te, dass die Sta­ti­on auf dem West­ufer lag, steu­er­te ich natür­lich die west­li­che Fahr­rin­ne an.

Kaum waren wir hin­ein­ge­fah­ren, wur­de mir klar, dass sie viel enger war als ich ange­nom­men hat­te. Links von uns erstreck­te sich die lan­ge, unun­ter­bro­che­ne Untie­fe, rechts ein hohes, stei­les Ufer, das dicht mit Büschen bewach­sen war. Über den Büschen stan­den die Bäu­me in engen Rei­hen. Ihre Zwei­ge hin­gen in dich­ten Trau­ben über der Strö­mung, und in regel­mä­ßi­gen, aber gro­ßen Abstän­den streck­te sich ein gro­ßer, star­rer Ast auf den Strom hin­aus. Der Nach­mit­tag war eini­ger­ma­ßen weit vor­an­ge­schrit­ten, das Ant­litz des Wal­des ver­fins­ter­te sich, und ein brei­ter Strei­fen Schat­ten war schon auf das Was­ser gefal­len. In die­sem Schat­ten dampf­ten wir fluss­auf­wärts – sehr lang­sam, wie ihr euch vor­stel­len könn­te. Ich steu­er­te das Boot hart am Ufer ent­lang, denn dort war das Was­ser am tiefs­ten, wie der Lot­stock mir verriet.

Einer mei­ner hung­ri­gen und zurück­hal­ten­den Freun­de son­dier­te die Tie­fe am Bug direkt unter mir. Das Dampf­boot war genau wie ein Deck­p­rahm gebaut. Auf dem Deck stan­den zwei klei­ne Teak­holz-Kabi­nen mit Türen und Fens­tern. Der Kes­sel befand sich auf dem Vor­schiff und die Maschi­ne rechts ach­tern. Über dem Gan­zen erstreck­te sich eine leich­te, von Deckstüt­zen gehal­te­ne Über­da­chung. Der Schlot rag­te durch die­se Über­da­chung hin­durch nach oben, und vor dem Schlot befand sich eine klei­ne Kabi­ne aus leich­ten Plan­ken, die als Steu­er­haus dien­te. Sie ent­hielt eine Lie­ge, zwei Klapp­ho­cker, einen gela­de­nen Mar­ti­ni-Hen­ry-Kara­bi­ner, der in einer Ecke lehn­te, einen win­zi­gen Tisch und das Steu­er­rad. Die Vor­der­sei­te nahm eine brei­te Tür ein, an den Sei­ten gab es eben­so brei­te Klapp­lä­den. Alle die­se Öff­nun­gen stan­den natür­lich immer weit offen. Ich ver­brach­te mei­ne Tage dort ganz vor­ne am Rand der Über­da­chung hockend, vor die­ser Tür. Nachts schlief ich, oder ver­such­te es wenigs­tens, auf der Lie­ge. Ein ath­le­tisch gebau­ter Schwar­zer aus irgend­ei­nem der Küs­ten­stäm­me, den mein glück­lo­ser Vor­gän­ger ange­lernt hat­te, fun­gier­te als Steu­er­mann. Er war mit einem Paar Ohr­rin­gen aus Mes­sing geschmückt, von der Tail­le bis zu den Knö­cheln in ein blau­es Tuch gehüllt und voll­kom­men von sich selbst ein­ge­nom­men. Er war der wan­kel­mü­tigs­te Narr, der mir je unter­ge­kom­men war. Sei­ne Steu­er­küns­te waren ohne jeden Tadel, solan­ge man in sei­ner Nähe blieb, aber wenn er einen aus Augen ver­lor, bekam er es umge­hend der­art elen­dig mit der Angst zu tun, dass ihm unser Krüp­pel von einem Dampf­boot in Minu­ten­schnel­le aus der Hand glitt.

Ich blick­te auf den Lot­stock her­un­ter und wur­de jedes Mal, wenn beim Pei­len ein biss­chen mehr Stock aus dem Fluss rag­te, ver­drieß­li­cher, als ich plötz­lich sah, wie mein Lot­gast sei­ne Arbeit fah­ren ließ und sich flach auf das Deck warf, ohne auch nur den Stock ein­zu­zie­hen. Er hielt ihn aller­dings wei­ter fest, und der Stock wur­de im Was­ser mit­ge­zo­gen. Gleich­zei­tig setz­te sich der Hei­zer, den ich eben­falls unter mir sehen konn­te, abrupt auf den Boden vor sei­nem Kes­sel und zog den Kopf ein. Ich war über­rascht. Dann muss­te ich mich ziem­lich schnell um den Fluss küm­mern, weil ein Baum­stumpf im Fahr­was­ser trieb. Zwei­ge, klei­ne Zwei­ge flo­gen durch die Luft – eine Unmen­ge davon: Sie schwirr­ten mir vor der Nase her­um, san­ken unter mir zu Boden, schlu­gen hin­ter mir gegen das Steu­er­haus. Die gan­ze Zeit über herrsch­te eine gro­ße Stil­le über Fluss, Ufer und Wald – eine voll­kom­me­ne Stil­le. Ich konn­te nur den schwe­ren plat­schen­den Schlag des Heck­rads und das Gepras­sel die­ser Din­ger hören. Wir kamen müh­sam von dem Baum­stumpf los. Pfei­le, beim Zeus! Man schoss auf uns! Ich mach­te einen schnel­len Schritt in die Kabi­ne, um den Klapp­la­den auf der Land­sei­te zu schlie­ßen. Die­ser Narr von einem Steu­er­mann zog hef­tig die Knie an, stampf­te mit den Füßen auf den Boden und mach­te Kau­be­we­gun­gen wie ein ange­zäum­tes Pferd, wäh­rend er sich an die Spei­chern des Steu­er­rads klam­mer­te. Zur Höl­le mit ihm! Dabei schlin­ger­ten wir nur zehn Fuß vom Ufer ent­fernt dahin. Ich muss­te mich weit hin­aus­leh­nen, um den schwe­ren Fens­ter­la­den her­ein­zu­klap­pen, und sah ein Gesicht auf glei­cher Höhe wie mei­nes, das mich grim­mig und ohne Unter­lass anblick­te; und dann plötz­lich, als ob sich ein Schlei­er vor mei­nen Augen geho­ben hät­te, mach­te ich tief in dem düs­te­ren Pflan­zen­ge­wirr nack­te Ober­kör­per aus, Arme, Bei­ne, wütend auf­blit­zen­de Augen – der Busch wim­mel­te nur so von sich bewe­gen­den, bron­ze­far­ben schim­mern­den mensch­li­chen Glie­dern. Die Zwei­ge zit­ter­ten, schwank­ten und raschel­ten, die Pfei­le kamen her­aus­ge­flo­gen, und dann war der Laden zu. ‚Gera­den Kurs hal­ten’, befahl ich dem Steu­er­mann. Er hielt sei­nen Kopf starr mit dem Gesicht nach vorn, aber roll­te mit den Augen und hob wei­ter leicht sei­ne Füße an, um sie auf den Boden zu set­zen, außer­dem hat­te er etwas Schaum am Mund. ‚Ruhig blei­ben!’, rief ich wütend. Ich hät­te genau­so gut einem Baum sagen kön­nen, dass er sich nicht im Wind bie­gen sol­le. Ich sprang nach drau­ßen. Unter mir gab es ein gro­ßes Tohu­wa­bo­hu von Füßen auf dem eiser­nen Deck, ein Durch­ein­an­der von Rufen, und eine Stim­me schrie: ‚Kön­nen Sie umdre­hen?’ Ein V‑förmiges Kräu­seln auf dem Was­ser vor­aus geriet mir in den Blick. Wie? Noch ein Baum­stumpf! Unter mei­nen Füßen krach­te eine Gewehr­sal­ve los. Die Pil­ger hat­ten das Feu­er mit ihren Win­ches­ter-Geweh­ren eröff­net und spritz­ten ein­fach Blei in den Busch hin­ein. Eine Unmen­ge Rauch stieg empor und zog lang­sam in Fahrt­rich­tung ab. Ich fluch­te. Jetzt konn­te ich weder den Baum­stumpf noch die von ihm ver­ur­sach­te Kräu­se­lung sehen. Ich stand in der Tür­öff­nung, nach vor­ne spä­hend, und die Pfei­le kamen in Schwär­men her­an­ge­flo­gen. Viel­leicht waren sie ja ver­gif­tet, aber sie sahen aus, als ob man damit nicht ein­mal eine Kat­ze erle­gen konn­te. Im Busch hob ein Geheul an. Unse­re Holz­ha­cker lie­ßen ein krie­ge­ri­sches Geheul ertö­nen; der Knall eines Geweh­res genau hin­ter mir mach­te mich taub. Ich warf einen Blick über die Schul­ter, und das Steu­er­haus war immer noch vol­ler Rauch, als ich mich auf das Ruder warf. Der Narr von einem Nig­ger hat­te alles fah­ren las­sen, um den Fens­ter­la­den auf­zu­rei­ßen und den Mar­ti­ni-Hen­ry abzu­feu­ern. Er stand vor der brei­ten Öff­nung, zor­nig nach drau­ßen star­rend, und ich schrie ihn an zurück­zu­kom­men, wäh­rend ich unser plötz­lich abdre­hen­des Dampf­boot wie­der auf gera­den Kurs brach­te. Es gab nicht genug Raum für eine Wen­de, selbst wenn ich gewollt hät­te, der Baum­stumpf war irgend­wo knapp vor­aus in dem ver­ma­le­dei­ten Rauch, es gab kei­ne Zeit zu ver­lie­ren, also steu­er­te ich ein­fach hart an das Ufer her­an, wo das Was­ser, wie ich wuss­te, tief war.

Wir bra­chen lang­sam in einem Wir­bel von zer­bro­che­nen Zwei­gen und flie­gen­den Blät­tern durch die über­hän­gen­den Büsche. Die Gewehr­sal­ven unter mir bra­chen plötz­lich ab, wie ich es vor­aus­ge­se­hen hat­te, weil die Patro­nen­kam­mern leer waren. Ich warf den Kopf zurück in Rich­tung einer blitz­ar­ti­gen Erschei­nung, die zischend von einem Fens­ter­la­den zu ande­ren das Steu­er­haus durch­quer­te. An dem toll­wü­ti­gen Steu­er­mann, der den lee­ren Kara­bi­ner schüt­tel­te und das Ufer anbrüll­te, vor­bei sah ich die vagen Umris­se von ren­nen­den Män­nern, zusam­men­ge­krümmt, sprin­gend, glei­tend, deut­lich, unvoll­stän­dig, schwin­dend. Irgend­et­was Gro­ßes tauch­te in der Luft vor dem Laden­fens­ter auf, der Kara­bi­ner fiel über Bord und der Mann mach­te einen raschen Schritt rück­wärts, sah mich über die Schul­ter auf selt­sa­me, tief­grün­di­ge, ver­trau­te Art an und fiel auf mei­ne Füße. Die Sei­te sei­nes Kop­fes traf zwei­mal das Steu­er­rad, und dann fiel das Ende von etwas, das wie ein lan­ges Rohr aus­sah, klap­pernd umher und stürz­te einen klei­nen Klapp­ho­cker um. Es sah aus, als ob er das Ding jeman­dem am Ufer abge­run­gen und dabei das Gleich­ge­wicht ver­lo­ren hät­te. Der dün­ne Rauch hat­te sich end­lich ver­zo­gen, wir hat­ten den Baum­stumpf hin­ter uns und ich konn­te beim Blick vor­aus erken­nen, dass wir etwa 100 Yard wei­ter genug Platz hat­ten, um aus­zu­sche­ren und vom Ufer abzu­hal­ten; aber mei­ne Füße waren so warm, dass ich nach unten bli­cken muss­te. Der Mann war auf den Rücken gerollt und starr­te mich direkt an; das Rohr hielt er mit bei­den Hän­den gefasst. Es war der Schaft eines Speers – ent­we­der gewor­fen oder durch die Öff­nung gesto­ßen –, der ihn seit­lich erwischt hat­te, genau unter­halb der Rip­pen; die Klin­ge steck­te unsicht­bar in ihm, sie hat­te eine furcht­ba­re Wun­de geris­sen; mei­ne Schu­he waren voll; eine Blut­la­che hat­te sich in aller Stil­le unter dem Steu­er­rad aus­ge­brei­tet; sei­ne Augen fun­kel­ten mit erstaun­li­chem Glanz. Die Gewehr­sal­ven gin­gen wie­der los. Er sah mich ängst­lich an, wäh­rend er den Speer anpack­te wie etwas Kost­ba­res, und er sah aus, als ob er Angst hät­te, dass ich es ihm weg­neh­me. Ich muss­te mich von sei­nem Anblick los­rei­ßen und mei­ne Auf­merk­sam­keit wie­der dem Steu­ern zuwen­den. Mit einer Hand tas­te­te ich nach dem Seil­zug der Dampf­pfei­fe und schick­te has­tig ein Auf­krei­schen nach dem nächs­ten in die Luft. Der Tumult des wüten­den und krie­ge­ri­schen Gebrülls brach sofort ab, und aus den Tie­fen des Urwalds stieg ein solch zit­tern­des und anhal­ten­des Kla­ge­ge­heul voll trau­ern­der Angst und letz­ter Ver­zweif­lung auf, dass man mein­te, dem Ver­schwin­den der letz­ten Hoff­nung aus der Welt bei­zu­woh­nen. Im Busch erhob sich eine gro­ße Unru­he; die Pfeil­schau­er bra­chen ab, eini­ge ver­ein­zel­te Schüs­se peit­schen durch die Luft – dann Stil­le, in der das trä­ge Schla­gen des Heck­rads deut­lich an mei­ne Ohren drang. Ich leg­te das Ruder hart Steu­er­bord. Genau in die­sem Moment tauch­te der Pil­ger in rosa Pyja­ma­ho­sen, sehr erhitzt und auf­ge­regt, im Tür­rah­men auf. ‚Der Direk­tor schickt mich–’, begann er in dienst­li­chem Ton, hielt dann aber inne. ‚Gro­ßer Gott!’, rief er und starr­te den Ver­wun­de­ten an.

Wir zwei Wei­ßen stan­den über ihm, und sein glän­zen­der und fra­gen­der Blick hüll­te uns bei­de ein. Ich schwö­re euch, es sah aus, als woll­te er uns im nächs­ten Moment eini­ge Fra­gen in einer ver­ständ­li­chen Spra­che stel­len, aber er starb ohne einen Laut von sich zu geben, ohne ein Glied zu rüh­ren, ohne einen Mus­kel zu zucken. Nur im aller­letz­ten Moment, wie als Ant­wort auf ein Zei­chen, dass wir nicht sehen, auf ein Flüs­tern, das wir nicht hören konn­ten, run­zel­te er hef­tig die Stirn, und die­ses Stirn­run­zeln gab der Toten­mas­ke sei­nes schwar­zen Gesichts einen unfass­bar düs­te­ren, grüb­le­ri­schen und dro­hen­den Aus­druck. Der fra­gend schim­mern­de Glanz ging lang­sam in lee­re Gla­sig­keit über. ‚Kön­nen Sie steu­ern?’, frag­te ich den Agen­ten mit Nach­druck. Er sah sehr zwei­felnd aus, aber ich pack­te ihn am Arm, und er begriff sofort, dass ich ihn steu­ern las­sen wür­de, ob er woll­te oder nicht. ‚Er ist tot’, mur­mel­te der Bur­sche, enorm beein­druckt. ‚Das ist er zwei­fel­los’, sag­te ich, wäh­rend ich wie ver­rückt an mei­nen Schuh­bän­dern zog. ‚Und davon abge­se­hen dürf­te wohl auch Mon­sieur Kurtz jetzt tot sein.’

In die­sem Augen­blick war das der vor­herr­schen­de Gedan­ke. Ich fühl­te eine unge­heu­re Ent­täu­schung, als ob mir klar wür­de, dass ich einem völ­lig sub­stanz­lo­sen Phan­tom hin­ter­her gejagt war. Ich war so ange­wi­dert, als ob ich den gan­zen lan­gen Weg nur gereist wäre, um eine Unter­hal­tung mit Mon­sieur Kurtz füh­ren zu kön­nen. Eine Unter­hal­tung mit … Ich schleu­der­te einen Schuh über Bord, und mir wur­de klar, dass es genau das war, wor­auf ich mich gefreut hat­te – eine Unter­hal­tung mit Mon­sieur Kurtz. Ich mach­te die selt­sa­me Ent­de­ckung, dass ich ihn mir nie beim Han­deln vor­ge­stellt hat­te, ver­steht ihr, son­dern immer nur beim Reden. Ich sag­te mir nicht: ‚Jetzt wer­de ich ihn nie sehen’ oder ‚Jetzt wer­de ich ihm nie die Hand schüt­teln’, son­dern ‚Jetzt wer­den ich ihn nie hören’. Der Mann stell­te sich mir als Stim­me dar. Nicht dass ich ihn nicht auch mit irgend­ei­ner Art von Hand­lung in Ver­bin­dung brin­gen konn­te, natür­lich. Hat­te man mir nicht in allen Tönen der Eifer­sucht und Bewun­de­rung mit­ge­teilt, dass er mehr Elfen­bein gesam­melt, ein­ge­han­delt, erschwin­delt oder gestoh­len hat­te als alle ande­ren Agen­ten zusam­men? Dar­um ging es nicht. Wor­um es ging, war sei­ne außer­or­dent­li­che Bega­bung, und von allen sei­nen Talen­ten war das her­vor­ste­chends­te, das ohne Zwei­fel wirk­lich vor­han­de­ne sei­ne Rede­kunst, sei­ne Wor­te – sein Aus­drucks­ver­mö­gen, das Ver­blüf­fen­de, das Erhel­len­de, das Erha­bends­te und das Ver­ab­scheu­ungs­wür­digs­te, der pul­sie­ren­de Fluss kla­ren Lichts oder der trü­ge­ri­sche Strom aus dem Her­zen einer undurch­dring­li­chen Finsternis.

Der ande­re Schuh flog dem ers­ten in den Teu­fel von einem Fluss hin­ter­her. Ich dach­te: ‚Ver­flucht! Jetzt ist alles vor­bei. Wir sind zu spät dran, er ist weg – die Bega­bung ist dahin, wegen irgend­ei­nes lächer­li­chen Speers, Pfeils oder Prü­gels. Zu guter Letzt wer­de ich den Bur­schen nie reden hören’ – und in mei­ner Trau­er war jenes erschre­cken­de Unmaß der Gefüh­le, das ich in der jau­len­den Kla­ge jener Wil­den im Busch wahr­ge­nom­men hat­te. Ich hät­te mich nicht ver­las­se­ner und ver­zwei­fel­ter füh­len kön­nen, wenn ich mei­nen Glau­ben an etwas ver­lo­ren oder mei­ne Bestim­mung im Leben ver­fehlt hät­te.… Wel­ches rohe Tier wagt es da, gelang­weilt zu stöh­nen? Absurd? Na gut, dann eben absurd. Mein Gott! Kann ein Mann nicht mal – komm, gib mal von dem Tabak.” …

Es ent­stand eine Pau­se tiefs­ten Schwei­gens, dann flamm­te ein Zünd­holz auf, und Mar­lo­wes hage­res Gesicht tauch­te auf, müde, hohl­wan­gig, mit nach unten wei­sen­den Fal­ten und einem Aus­druck kon­zen­trier­ter Auf­merk­sam­keit; und wäh­rend er hef­tig an sei­ne Pfei­fe zog, schien es im regel­mä­ßi­gen Fla­ckern der klei­nen Flam­me aus dem Dun­kel der Nacht her­aus vor­zu­sto­ßen und sich wie­der dort­hin zurück­zie­hen. Das Zünd­holz ging aus.

Absurd!”, rief er. “Das macht es am schwers­ten, die­se Geschich­te zu erzäh­len.… Seht euch doch nur alle an: jeder an zwei Woh­nun­gen mit guten Adres­sen ange­dockt, wie ein abge­ta­kel­ter Holk mit zwei Ankern, um die Ecke ein Metz­ger­la­den, um die nächs­te ein Poli­zist, mit bes­tem Appe­tit und nor­ma­ler Tem­pe­ra­tur geseg­net – nor­mal, hört ihr – und das vom Beginn des Jah­res bis zu des­sen Ende. Und da sagt ihr: absurd! Absurd – zum Hen­ker mit euch! Absurd! Mei­ne Lie­ben, was wollt ihr von jeman­dem erwar­ten, der gera­de aus lau­ter ner­vö­ser Erre­gung sei­ne Schu­he über Bord gewor­fen hat! Wenn ich so dar­über nach­den­ke, ist ver­wun­der­lich, dass ich nicht in Trä­nen aus­ge­bro­chen bin. Ich bin, im Gro­ßen und Gan­zen, stolz auf mei­ne Tap­fer­keit. Aber ich war bis ins Inners­te getrof­fen von der Vor­stel­lung, das uner­mess­li­che Pri­vi­leg ver­lo­ren zu haben, dem so außer­or­dent­lich begab­ten Mon­sieur Kurtz zuhö­ren zu dür­fen. Natür­lich irr­te ich mich. Das Pri­vi­leg war­te­te noch auf mich. Oh ja, ich soll­te noch mehr als genug zuhö­ren. Gleich­zei­tig soll­te ich aber auch recht behal­ten. Eine Stim­me. Er war wenig mehr als eine Stim­me. Und ich hör­te ihm zu – ihr – die­ser Stim­me – ande­ren Stim­men – sie waren alle kaum mehr als Stim­men, und die Erin­ne­rung an die­se Zeit weicht nicht von mir, unmerk­lich wie das ver­sin­ken­de Auf und Ab eines unge­heu­ren Geschwät­zes, albern, grau­sam, schä­big, wild oder ein­fach nur gewöhn­lich, ohne jeden Sinn. Stim­men, Stim­men – sogar das Mäd­chen selbst – nun –”

Er schwieg lange.

Schließ­lich bann­te ich das Gespenst sei­ner außer­or­dent­li­chen Bega­bun­gen mit einer Lüge”, fing er plötz­lich wie­der an. “Mäd­chen! Wie? Habe ich ein Mäd­chen erwähnt? Oh, sie hat nichts mit all dem zu tun – nicht das Gerings­te. Sie – die Frau­en, mei­ne ich – haben über­haupt nichts mit irgend­et­was zu tun – und das sol­len sie auch nicht. Wir müs­sen ihnen dabei hel­fen, wei­ter in ihrer ach so schö­nen Welt leben zu kön­nen, damit die unse­re nicht noch schlim­mer wird. Oh, sie durf­te gar nichts mit all dem zu tun haben. Ihr hät­tet die­sen leben­den Leich­nam namens Mon­sieur Kurtz hören sol­len, wie er sie ‚mei­ne Zukünf­ti­ge’ nann­te. Dann hät­tet ihr sofort gemerkt, wie sehr sie nichts damit zu tun hat­te. Und dann die­ser erha­be­ne Vor­der­schä­del des Mon­sieur Kurtz! Man sagt ja, die Haa­re wach­sen bei Lei­chen manch­mal noch wei­ter, aber die­ses – nun – Exem­plar war von beein­dru­cken­der Kahl­heit. Die Wild­nis hat­te ihm über den Kopf gestri­chen, und sie­he da, die­ser war wie eine Kugel gewor­den – eine Kugel aus Elfen­bein. Sie hat­te ihn gestrei­chelt, und – hol­la! – er war ver­welkt; sie hat­te ihn genom­men, geliebt, umarmt, war ihm ins Blut gegan­gen, hat­te sein Fleisch auf­ge­zehrt und sei­ne See­le durch die unfass­ba­ren Ritua­le irgend­ei­ner Art teuf­li­scher Wei­he an die eige­ne gebun­den. Er war ihr ver­zo­ge­nes und ver­hät­schel­tes Lieb­lings­kind. Elfen­bein? Durch­aus. Gan­ze Hau­fen davon, Sta­pel davon. Die alte Lehm­hüt­te quoll über vor Elfen­bein. Man hät­te mei­nen kön­nen, dass im gesam­ten Land über wie unter der Erde nicht ein ein­zi­ger Stoß­zahn mehr zu fin­den war. ‚Haupt­säch­lich Fos­si­li­en’, hat­te der Direk­tor gering­schät­zig bemerkt. Es waren genau­so wenig Fos­si­li­en, wie ich eines bin, aber man nennt dort alles so, was aus dem Boden gegra­ben wird. Offen­bar ver­gra­ben die­se Nig­ger manch­mal tat­säch­lich die Stoß­zäh­ne – aber offen­bar konn­ten sie die­ses Paket nicht tief genug ver­gra­ben, um Mon­sieur Kurtz mit all sei­ner außer­or­dent­li­chen Bega­bung vor sei­nem Schick­sal zu bewah­ren. Wir füll­ten die Lage­räu­me des Dampf­boots damit und muss­ten noch das Deck benut­zen, um es auf­zu­sta­peln. So konn­te er es sehen und sei­nen Anblick genie­ßen, solan­ge es ging, denn die Gna­de des Sehens soll­te ihm bis zum Schluss gewährt blei­ben. Ihr hät­tet hören sol­len, wie er ‚mein Elfen­bein’ sag­te. Oh ja, ich hör­te es. ‚Mei­ne Zukünf­ti­ge, mein Elfen­bein, mei­ne Sta­ti­on, mein Fluss, mei­ne –’ alles gehör­te nur ihm. Ich hielt jedes Mal den Atem an und erwar­te­te die Wild­nis in ein der­ar­ti­ges Geläch­ter aus­bre­chen zu hören, dass die Fix­ster­ne am Him­mel selbst erbe­ben müss­ten. Alles gehör­te nur ihm – aber das waren nur Lap­pa­li­en. Wirk­lich inter­es­sant war die Fra­ge, wozu er wohl gehör­te, wie vie­le Mäch­te der Fins­ter­nis ihn zu den ihren zähl­ten. Und es war eben die­ser Gedan­ke, der einem Schau­er den Rücken her­un­ter jag­te. Es war unmög­lich – und auch nicht sehr bekömm­lich – sich das vor­stel­len zu wol­len. Er nahm einen hohen Rang in der Tisch­ord­nung der ört­li­chen Teu­fel ein – und das mei­ne ich wört­lich. Ihr könnt das nicht ver­ste­hen. Wie auch? – mit Stein­pflas­ter unter euren Füßen, umge­ben von freund­li­chen Nach­barn, die euch im nächs­ten Moment eben­so auf­mun­tern wie tadeln kön­nen, vor­sich­tig zwi­schen dem Metz­ger und dem Poli­zis­ten ein­her­schrei­tend, im Zaum gehal­ten vom hei­li­gen Schre­cken vor öffent­li­cher Bloß­stel­lung, Gal­gen und Irren­haus – wie könn­tet ihr euch vor­stel­len, in wel­che vor­zeit­li­chen Gefil­de ein Mensch ohne ihm auf­er­leg­te Fes­seln gera­ten kann, wenn ihn die Ein­sam­keit dort­hin führt – die voll­kom­me­ne Ein­sam­keit ohne einen ein­zi­gen Poli­zis­ten in der Nähe – wenn ihn die Stil­le dort­hin führt – die voll­kom­me­ne Stil­le, ohne die war­nen­de Stim­me eines freund­li­chen Nach­barn, der einen fragt, was wohl die Leu­te den­ken sol­len? All die­se Klei­nig­kei­ten sind von gro­ßer Bedeu­tung. Wenn Sie weg­fal­len, muss man sich auf sei­ne eige­ne ange­bo­re­ne Stär­ke ver­las­sen, auf die eige­ne Stand­fes­tig­keit. Natür­lich kann man auch ein­fach zu dumm sein, um vom rech­ten Weg abzu­kom­men – so abge­stumpft, dass man gar nicht merkt, wenn einen die Mäch­te der Fins­ter­nis bedrän­gen. Ich den­ke mal, dass kein Dumm­kopf jemals sei­ne See­le dem Teu­fel ver­kauft hat, denn der Dumm­kopf ist zu dumm dazu oder der Teu­fel zu teuf­lisch – was auch immer. Oder viel­leicht ist man von einer so unge­heu­er­li­chen Erha­ben­heit, dass man voll­kom­men blind und taub gegen­über allem außer dem Anblick und den Klän­gen des Him­mels ist. Dann ist die Erde für einen nur etwas, wor­auf man steht – und ob einem das zum Vor- oder zum Nach­teil gereicht, ver­mag ich nicht zu sagen. Aber die meis­ten von uns sind weder das eine noch das ande­re. Die Erde ist für uns ein Ort, an dem sich unser Leben abspielt, des­sen Anblick, des­sen Klän­ge und, weiß Gott, Gerü­che wir ertra­gen müs­sen – wir müs­sen totes Fluss­pferd­fleisch rie­chen, ohne uns dar­an die Fin­ger schmut­zig zu machen, sozu­sa­gen. Und da, begreift ihr nicht? Genau da kommt die eige­ne Stär­ke ins Spiel, das Ver­trau­en in die Fähig­keit, ohne vie­le Wor­te Löcher gra­ben zu kön­nen, in denen man das gan­ze Zeug ver­gra­ben kann – die Fähig­keit zur Hin­ga­be, nicht an sich selbst, son­dern an irgend­ein alber­nes, schweiß­trei­ben­des Geschäft. Und das ist schon schwer genug. Nicht dass ich hier etwas zu ent­schul­di­gen oder auch nur erklä­ren ver­su­che – ich ver­su­che nur, mir selbst Rechen­schaft abzu­le­gen für – für – Mon­sieur Kurtz – für den Schat­ten von Mon­sieur Kurtz. Die­ses wis­sen­de Gespenst aus dem ver­las­sens­ten Win­kel der Erde erwies mir die erstaun­li­che Ehre, mich in sein Ver­trau­en zu zie­hen, bevor es end­gül­tig dahin­schwand. Das lag dar­an, dass er mit mir Eng­lisch spre­chen konn­te. Der Kurtz von frü­her war teil­wei­se in Eng­land erzo­gen wor­den, und – wie er mir freund­li­cher­wei­se von sich aus mit­teil­te – sein Herz gehör­te auf die rich­ti­ge Sei­te. Sei­ne Mut­ter war hal­be Eng­län­de­rin, sein Vater hal­ber Fran­zo­se. Ganz Euro­pa hat­te an der Ent­ste­hung von Kurtz mit­ge­wirkt, und nach und nach erfuhr ich, dass aus­ge­rech­net die Inter­na­tio­na­le Gesell­schaft für die Bekämp­fung der unzi­vi­li­sier­ten Sit­ten ihn mit der Anfer­ti­gung eines Berichts betraut hat­te, der als Richt­li­nie für ihre zukünf­ti­gen Arbeit die­nen soll­te. Und er hat­te ihn tat­säch­lich geschrie­ben. Ich habe ihn gese­hen. Ich habe ihn gele­sen. Er zeug­te von gro­ßer Wort­ge­wandt­heit und Bered­sam­keit, war aber viel­leicht etwas zu auf­ge­regt. Für sieb­zehn eng beschrie­be­ne Sei­ten hat­te er Zeit gefun­den! Aber das muss­te gewe­sen sein, bevor ihm – sagen wir mal – die Ner­ven durch­gin­gen und dazu brach­ten, die Lei­tung über bestimm­te mit­ter­nächt­li­che Tän­ze zu über­neh­men, eine Ehre, die – soweit ich wider­wil­lig ver­schie­de­nen Bemer­kun­gen ent­neh­men konn­te – ihm ange­tra­gen wor­den war – begreift ihr? – die Mon­sieur Kurtz per­sön­lich ange­tra­gen wor­den war. Aber der Bericht war wun­der­bar geschrie­ben. Im Lich­te spä­te­rer Infor­ma­tio­nen erscheint mir der ein­lei­ten­de Absatz aller­dings heu­te wie ein böses Omen. Er begann mit dem Argu­ment dass wir Wei­ßen, von der Höhe unse­res Ent­wick­lungstands aus, ‚ihnen [den Ein­ge­bo­re­nen] not­wen­di­ger­wei­se wie über­na­tür­li­che Wesen erschei­nen müs­sen – wir tre­ten ihnen mit der Macht von Göt­tern gegen­über’ und so wei­ter und so fort. ‚Durch ein­fa­ches Aus­üben unse­res Wil­lens kön­nen wir prak­tisch unbe­grenzt Gutes bewir­ken’ etc. pp. Von die­sem Aus­gangs­punkt stieg der Gedan­ken­flug in die Höhe und riss einen dabei mit. Die Argu­men­ta­ti­on war glän­zend, aller­dings auch schwer zu mer­ken. Sie ver­mit­tel­te die Vor­stel­lung einer exo­ti­schen Uner­mess­lich­keit, in der ein erha­be­nes Wohl­wol­len herrsch­te. Sie mach­te mich ganz auf­ge­regt vor Enthu­si­as­mus. Dies war die unge­hin­der­te Macht der Bered­sam­keit – von Wor­ten – von Wor­ten voll des bren­nen­den Edel­muts. Kei­ne prak­tisch nutz­ba­ren Hin­wei­se unter­bra­chen den magi­schen Fluss der Sät­ze und Wen­dun­gen, es sei denn, man woll­te eine Art Notiz unten auf der letz­ten Sei­te, zwei­fel­los sehr viel spä­ter und mit unsi­che­rer Hand hin­ge­krit­zelt, als metho­di­sche Hand­lungs­an­lei­tung inter­pre­tie­ren. Sie war sehr ein­fa­cher Art, und wenn man am Ende die­ses bewe­gen­den Appells an jede erdenk­li­che Art von Altru­is­mus ange­langt war, stach sie grell und furcht­ein­flö­ßend her­vor wie ein Blitz, der einen hei­te­ren Him­mel zer­reißt: ‚Alle aus­rot­ten, die Brut!’ Am selt­sams­ten war, dass er die­ses wert­vol­le Post­skrip­tum dann offen­bar völ­lig ver­ges­sen hat­te, denn spä­ter, als er wie­der eini­ger­ma­ßen zu sich kam, bat er mich wie­der­holt fle­hent­lich, mich um ‚mei­ne Streit­schrift’ (wie er sie nann­te) zu küm­mern, da sie zwei­fel­los sei­ner zukünf­ti­gen Kar­rie­re nütz­lich sein wür­de. Ich erhielt alle nöti­ge Infor­ma­tio­nen über die­se Din­ge, und dar­über hin­aus erwies sich spä­ter, dass ich der Hüter sei­ner Erin­ne­run­gen wer­den soll­te. Ich habe genug dafür getan, um jetzt das unan­fecht­ba­re Recht zu haben, sie nach mei­nem Ermes­sen in den Abfall­ei­mer des Fort­schritts zu wer­fen, wo sie zwi­schen all dem auf­ge­feg­ten Müll und den, meta­pho­risch gespro­chen, ersäuf­ten Kätz­chen der Zivi­li­sa­ti­on ihre ewi­ge Ruhe fin­den kön­nen. Ande­rer­seits ist es aber so, dass ich gar kei­ne Wahl habe. Man wird ihn nicht ver­ges­sen. Was auch immer er war, gewöhn­lich war er nicht. Er besaß die Fähig­keit, unter­ent­wi­ckel­te See­len durch Bezau­be­rung oder Zwang dazu zu brin­gen, wil­de Hexen­tän­ze zu sei­nen Ehren auf­zu­füh­ren; genau­so konn­te er aber die engen See­len der Pil­ger mit bit­te­rer Abnei­gung fül­len: Einen treu­en Freund hat­te er wenigs­tens, und er hat­te eine See­le in der Welt erobert, die weder unter­ent­wi­ckelt noch durch die Suche nach sich selbst beschmutzt war. Nein, ich kann ihn nicht ver­ges­sen, obwohl ich nicht so weit gehen will, dass der Bur­sche wirk­lich das eine Leben wert war, dass wir sei­net­we­gen ver­lo­ren hat­ten. Ich sehn­te mich schreck­lich nach mei­nem ver­stor­be­nen Steu­er­mann – ich ver­miss­te ihn schon, als sei­ne Lei­che noch im Steu­er­haus lag. Viel­leicht kommt euch das selt­sam vor, die­se Trau­er um einen Wil­den, der kei­ne grö­ße­re Bedeu­tung hat­te als ein Sand­korn in einer schwar­zen Saha­ra. Nun, ihr müsst ver­ste­hen, dass er eine nütz­li­che Arbeit erle­digt hat­te, näm­lich die des Steu­er­manns; mona­te­lang wuss­te ich ihn hin­ter mir – eine Hil­fe – ein aus­füh­ren­des Organ. Es war eine Art Part­ner­schaft: Er steu­er­te für mich, und ich muss­te mich um ihn küm­mern, um sei­ne Feh­ler und Schwä­chen. Auf die­se Wei­se war ein deli­ka­tes Band zwi­schen uns ent­stan­den, des­sen Exis­tenz mir erst bewusst wur­de, als es plötz­lich geris­sen war. Und die ver­trau­ens­vol­le Tief­grün­dig­keit, mit der er mich im Augen­blick sei­nes Schmer­zes anblick­te, ist bis heu­te in mei­ner Erin­ne­rung geblie­ben – als ob er in die­sem ein­zig­ar­ti­gen Moment eine ent­fern­te Ver­wandt­schaft ein­ge­klagt hätte.

Armer Narr! Wenn er nur den Klapp­la­den in Ruhe gelas­sen hät­te. Er konn­te sich nicht im Zaum hal­ten, nicht im gerings­ten – genau wie Kurtz – ein vom Wind geschüt­tel­ter Baum. Sobald ich ein Paar tro­cke­ne Pan­tof­fel über­ge­streift hät­te, zerr­te ich ihn her­aus, nach­dem ich ihm vor­her den Speer aus der Sei­te geris­sen hat­te, was ich zuge­ge­be­ner­ma­ßen mit fest geschlos­se­nen Augen tat. Sei­ne Fer­sen hüpf­ten zusam­men über die nied­ri­ge Tür­schwel­le; sei­ne Schul­tern waren an mei­ne Brust gepresst; ich hielt ihn mit ver­zwei­fel­ter Anstren­gung von hin­ten im Griff. Oh! wie schwer er war, so schwer, schwe­rer als jedes Men­schen­we­sen, so schien es mir. Dann kipp­te ich ihn ohne wei­te­res Feder­le­sen über Bord. Der Strom griff ihn sich, als ob er nur ein Büschel Gras wäre, und ich sah noch, wie sich die Lei­che zwei oder drei Mal umdreh­te, bevor ich Sie für immer aus den Augen ver­lor. Alle Pil­ger und der Direk­tor hat­ten sich in der Zwi­schen­zeit auf dem Mar­ki­sen­deck um das Steu­er­haus her­um ver­sam­melt, auf­ein­an­der ein­plap­pernd ein wie eine Schar auf­ge­reg­ter Els­tern, und dann erhob sich ein scho­ckier­tes Gemur­mel ob der Herz­lo­sig­keit mei­ner umge­hen­den Reak­ti­on. War­um auch immer sie die Lei­che lie­ber wei­ter um sich gehabt hät­ten, ist mir ein Rät­sel. Viel­leicht, um sie ein­zu­bal­sa­mie­ren. Aber ich hat­te außer­dem noch ein ande­res, und dazu aus­ge­spro­chen unheil­schwan­ge­res Gemur­mel auf dem unte­ren Deck gehört. Mei­ne Freun­de, die Holz­ha­cker, waren eben­so scho­ckiert, und sie hat­ten auch mehr Grund dazu – obwohl ich zuge­ben muss, dass die­ser Grund aus­ge­spro­chen inak­zep­ta­bel war. Wirk­lich aus­ge­spro­chen! Aber wenn mein ver­stor­be­ner Steu­er­mann schon geges­sen wer­den soll­te, so beschloss ich, dann soll­ten ihn allein die Fische haben. Er war im Leben ein eher zweit­klas­si­ger Steu­er­mann gewe­sen, aber jetzt im Tod hät­te er zu einer erst­klas­si­gen Ver­su­chung wer­den kön­nen, die zu allen mög­li­chen Schwie­rig­kei­ten geführt hät­te. Davon abge­se­hen hat­te ich es eilig, das Ruder zu über­neh­men, da der Mann in den rosa Pyja­ma­ho­sen sich bei die­ser Arbeit als hoff­nungs­lo­ser Toll­patsch erwies.

Dies tat ich sofort im Anschluss an das ein­fa­che Begräb­nis. Wir lie­fen mit hal­ber Geschwin­dig­keit genau in der Mit­te des Stroms, und ich hör­te auf das Gere­de um mich her­um. Sie hat­ten Kurtz auf­ge­ge­ben, sie hat­ten die Sta­ti­on auf­ge­be­ben; Kurtz war tot, und die Sta­ti­on war nie­der­ge­brannt – und so wei­ter, und so wei­ter. Der rot­haa­ri­ge Pil­ger war außer sich vor Erre­gung bei dem Gedan­ken, dass man die­sen armen Kurtz wenigs­tens anstän­dig gerächt hät­te. ‚Sagt doch mal! Die müs­sen wir ja rich­tig abge­schlach­tet haben da in ihrem Busch, was? Häh? Was denkt ihr? Sagt doch mal!’ Er führ­te gera­de­zu einen Tanz auf, die­ser blut­dürs­ti­ge klei­ne Zier­ben­gel. Und dabei war er fast in Ohn­macht gefal­len, als er den Ver­wun­de­ten gese­hen hat­te! Ich konn­te nicht wider­ste­hen zu sagen: ‚Jeden­falls haben Sie eine Men­ge Rauch gemacht.’ Die Art, wie die Spit­zen der Büsche gera­schelt und zur Sei­te geflo­gen waren, hat­te mir ver­ra­ten, dass fast alle Schüs­se zu hoch gegan­gen waren. Man kann nichts tref­fen, solan­ge man nicht aus der Schuler zielt und schießt, aber die­se Brü­der hat­ten aus der Hüf­te und mit geschlos­se­nen Augen gefeu­ert. Der Rück­zug, so beharr­te ich – und soll­te recht behal­ten –, war allein durch das Krei­schen der Dampf­pfei­fe ver­ur­sacht wor­den. Als sie das hör­ten, ver­ga­ßen Sie Kurtz und pro­tes­tier­ten voll auf­heu­len­der Wut.

Der Direk­tor stand neben dem Ruder und mur­mel­te ver­trau­lich, dass wir unbe­dingt eine genü­gend gro­ße Weg­stre­cke fluss­ab­wärts zurück­le­gen muss­ten, bevor es dun­kel wur­de, als ich in der Ent­fer­nung eine Lich­tung am Fluss­ufer und die Umris­se einer Art von Gebäu­de sah. ‚Was ist das?’, frag­te ich. Er klatsch­te vor Ver­wun­de­rung in die Hän­de. ‚Die Sta­ti­on!’ rief er. Ich hielt sofort schräg drauf zu, immer noch mit hal­ber Geschwindigkeit.

Durch mein Fern­glas sah ich den Abhang eines Hügels, auf dem ver­ein­zelt Bäu­me wuch­sen, der aber voll­kom­men frei von Unter­holz war. Ein lan­ges ver­fal­len­des Gebäu­de auf der Hügel­kup­pe lag halb unter hohem Gras ver­gra­ben, die gro­ßen Löcher in dem Spitz­dach klaff­ten aus der Ent­fer­nung tief­schwarz, dahin­ter lagen der Dschun­gel und die Bäu­me. Es gab kei­ner­lei Art von Ein­frie­dung oder Zaun, aber es muss­te ein­mal einen gege­ben haben, denn nahe des Hau­ses stand noch ein hal­bes Dut­zend dün­ner Pfos­ten auf­ge­reiht, die roh behau­en und am obe­ren Ende mit geschnitz­ten Kugeln ver­ziert waren. Die Quer­spros­sen, oder was auch immer die Pfos­ten ver­bun­den hat­te, waren ver­schwun­den. Natür­lich war all dies vom Wald umschlos­sen. Das Fluss­ufer war zugäng­lich, und ich sah einen Wei­ßen am Was­ser sit­zen, der einen Hut wie ein Wagen­rad trug und uns wild rudernd und aus­dau­ernd zuwink­te. Ich stu­dier­te den Wald­rand ober- und unter­halb und war fast sicher, Bewe­gung aus­ma­chen zu kön­nen – mensch­li­che For­men, die hier und dort durch den Busch glit­ten. Ich dampf­te vor­sich­tig an der Stel­le vor­bei und stopp­te dann die Maschi­ne, um das Boot fluss­ab­wärts trei­ben zu las­sen. Der Mann am Ufer fing an zu schrei­en, dass wir unbe­dingt an Land kom­men soll­ten. ‚Wir wur­den ange­grif­fen’, brüll­te der Direk­tor. ‚Ich weiß – ich weiß. Es ist alles in Ord­nung’, schrie der ande­re zurück, so fröh­lich es nur ging. ‚Legt ruhig an. Es ist alles in Ord­nung. Ich freue mich’.

Sein Anblick erin­ner­te mich an etwas – irgend­et­was Lus­ti­ges, dass ich irgend­wo gese­hen hat­te. Wäh­rend ich das Anle­ge­ma­nö­ver durch­führ­te, frag­te ich mich: ‚An wen erin­nert mich die­ser Bur­sche?’ Plötz­lich fiel es mir ein. Er sah aus wie ein Hans­wurst. Sei­ne Klei­dung bestand aus einem Stoff, der ein­mal brau­nes Hol­land­lei­nen gewe­sen sein moch­te, aber jetzt war er über und über mit Fli­cken besät, mit Fli­cken in leuch­ten­den Far­ben: blau, rot und gelb – Fli­cken hin­ten, Fli­cken vor­ne, Fli­cken an den Ell­bo­gen, an den Knien, bun­te Näh­te an der gan­zen Jacke, vio­let­te Bor­ten unten an den Hosen; und im Son­nen­schein mach­te er trotz allem einen aus­ge­spro­chen far­ben­fro­hen und gepfleg­ten Ein­druck, weil man sehen konn­te, wie sorg­fäl­tig all die­se Fli­cken auf­ge­setzt wor­den waren. Ein bart­lo­ses, jun­gen­haf­tes Gesicht, sehr hübsch, fast ohne beson­de­re Merk­ma­le, die Haut an der Nase schäl­te sich ab, klei­ne blaue Augen; Lächeln und besorg­te Bli­cke jag­ten ein­an­der auf die­sem offe­nen Ant­litz wie Son­ne und Schat­ten auf einer win­dum­tos­ten Ebe­ne. ‚Vor­sicht, Skip­per! rief er. ;Hier hat sich ges­tern ein Baum­stumpf ver­fan­gen.’ Wie? Noch ein Baum­stumpf? Ich gebe zu, ich fluch­te wie ein Rohr­spatz. Fast hät­te ich zum Abschluss die­ser bezau­bern­den Rei­se ein Loch in mein Krüp­pel­boot geris­sen. Der Hans­wurst auf dem Ufer wand­te mir sei­ne Mops­na­se zu. ‚Seid ihr Eng­län­der?’, frag­te er und lach­te über das gan­ze Gesicht. ‚Und selbst?’, rief ich vom Steu­er­haus aus zurück. Das Lächeln ver­schwand, und er schüt­tel­te sei­nen Kopf, als ob ihm mei­ne Ent­täu­schung leid täte. Dann hell­te sich sei­ne Mine wie­der auf. ‚Macht nichts!’, rief er auf­mun­ternd. ‚Kom­men wir recht­zei­tig?’, frag­te ich. ‚Er ist da oben’, ant­wor­te­te er und deu­te­te mit dem Kopf den Hügel hin­auf. Dabei wur­de er plötz­lich bedrückt. Sein Gesicht war wie der Herbst­him­mel, in einem Moment bewölkt, im nächs­ten Moment wie­der aufgeklart.

Als der Direk­tor von den Pil­gern eskor­tiert und wie die­se bis an die Zäh­ne bewaff­net zum Haus gegan­gen war, kam der Bur­sche an Bord. ‚Mir gefällt das eigent­lich nicht. Die­se Ein­ge­bo­re­nen ver­ste­cken sich im Busch’, sag­te ich. Er ver­si­cher­te nach­drück­lich, dass alles in Ord­nung sei. ‚Das sind ein­fa­che Men­schen’, füg­te er hin­zu. ‚Na ja, ich bin froh, dass ihr gekom­men seid. Ich war die gan­ze Zeit damit beschäf­tigt, sie uns vom Hals zu hal­ten.’ ‚Aber Sie haben gesagt, alles sei in Ord­nung’, rief ich. ‚Oh, sie haben es nicht böse gemeint’, ant­wor­te­te er, und als ich ihn anstarr­te, berich­tig­te er sich: ‚Jeden­falls nicht so rich­tig.’ Dann, leb­haft: ‚Du mei­ne Güte, das Steu­er­haus muss aber mal sau­ber gemacht wer­den!’ Nur einen Atem­zug spä­ter riet er mir, den Kes­sel so weit unter Dampf zu hal­ten, dass ich die Pfei­fe aus­lö­sen konn­te, falls es Ärger gab. ‚Ein­mal ordent­lich pfei­fen nützt mehr als alle eure Geweh­re. Das sind ein­fa­che Men­schen’, wie­der­hol­te er. Er plap­per­te mit einer der­ar­ti­gen Geschwin­dig­keit drauf­los, dass ich über­wäl­tigt war. Er schien einen Aus­gleich für lan­ge Zei­ten des Schwei­gens zu suchen, und deu­te­te tat­säch­lich lachend an, dies sei der Fall. ‚Reden Sie nicht mit Mon­sieur Kurtz?’, frag­te ich. ‚Mit einem sol­chen Mann redet man nicht – man hört ihm zu’, rief er mit begeis­ter­ten Ernst. ‚Aber jetzt –’ Er wink­te ab, und war im Hand­um­dre­hen in der aller­tiefs­ten Mut­lo­sig­keit ver­lo­ren. Einen Moment spä­ter kam er ruck­ar­tig wie­der hoch, griff mei­ne bei­den Hän­de, schüt­tel­te Sie fort­wäh­rend und brab­bel­te vor sich hin: ‚Bru­der See­mann … Ehre … Ver­gnü­gen … Freu­de … mich vor­zu­stel­len … Rus­se … Sohn eines Erz­po­pen … Gou­ver­ne­ment Tam­bow … Wie? Tabak! Eng­li­scher Tabak, exzel­len­ter eng­li­scher Tabak! Na, das ist eines Bru­ders wür­dig. Rau­chen? Gibt es einen See­mann, der nicht raucht?’

Die Pfei­fe beru­hig­te ihn, und nach und nach fand ich her­aus, dass er aus der Schu­le weg­ge­rannt und auf einem rus­si­schen Schiff zur See gefah­ren war; dann wie­der weg­ge­rannt, eini­ge Zeit auf eng­li­schen Schif­fen gedient; jetzt sei er aber wie­der mit dem Erz­po­pen ver­söhnt. Das beton­te er aus­drück­lich. ‚Aber wenn man jung ist, muss man sich die Welt anse­hen, Erfah­run­gen sam­meln, Anschau­un­gen, den Geist wei­ten’. ‚An die­sem Ort!’, unter­brach ich ihn. ‚Man kann nie wis­sen! Hier habe ich schließ­lich Mon­sieur Kurtz ken­nen gelernt’, sag­te er vor­wurfs­voll und mit jugend­li­chem Ernst. Danach hielt ich mei­ne Zun­ge in Zaum. Wie es schien, hat­te er eine hol­län­di­sche Han­dels­ge­sell­schaft an der Küs­te über­re­det, ihn mit Vor­rä­ten und Waren aus­zu­stat­ten, und war dann in das Lan­des­in­ne­re gezo­gen, leich­ten Her­zens und unschul­dig wie ein Säug­ling in Bezug auf das, was ihn erwar­te­te. Er war fast zwei Jah­re lang allein den Fluss auf- und abge­wan­dert, von allem und jedem abge­schnit­ten. ‚Ich bin nicht so jung, wie ich aus­se­he. Ich bin fünf­und­zwan­zig’, sag­te er. ‚Zuerst woll­te mich der alte Van Schuy­ten zum Teu­fel schi­cken’, erzähl­te er freu­dig erregt, ‚aber ich ließ mich nicht abwim­meln und rede­te und rede­te, bis er schließ­lich Angst bekam, dass ich sei­nem Lieb­lings­hund das Hin­ter­bein abquat­schen wür­de, also gab er mir ein paar bil­li­ge Sachen und Geweh­re und sag­te mir, er hof­fe, mein Gesicht nie wie­der­se­hen zu müs­sen. Der gute, alte Hol­län­der Van Schuy­ten. Ich habe ihm vor einem Jahr ein biss­chen Elfen­bein geschickt, damit er mich kei­nen klei­nen Dieb nen­nen kann, wenn ich zurück­kom­me. Hof­fent­lich hat er es bekom­men. Und der Rest ist mir einer­lei. Ich hat­te einen Sta­pel Holz für euch vor­be­rei­tet. Das war mein altes Haus. Habt ihr es gesehen?’

Ich gab ihm Tow­sons Buch. Er mach­te Anstal­ten, mich zu küs­sen, hielt sich dann aber doch zurück. ‚Das ein­zi­ge Buch, das zurück­ge­blie­ben ist, und ich dach­te, ich hät­te es ver­lo­ren’, rief er und betrach­te­te es wie in Eksta­se. ‚Es gibt ja so vie­les, das einem Mann zusto­ßen kann, der allein unter­wegs ist. Pad­del­boo­te kön­nen umkip­pen – und manch­mal muss man ganz schnell Fer­sen­geld geben, wenn die Leu­te böse wer­den.’ Er blät­ter­te durch das Buch. ‚Haben Sie Noti­zen auf rus­sisch hin­ein­ge­schrie­ben?’, frag­te ich. Er nick­te. ‚Und ich dach­te, es wäre Geheim­schrift’, sag­te ich. Er lach­te und wur­de gleich wie­der ernst. ‚Ich muss­te mich ganz schön anstren­gen, uns die­se Leu­te vom Hals zu hal­ten’, sag­te er. ‚Woll­ten die Sie umbrin­gen?’, frag­te ich. ‚Oh, nein!’, rief er und wur­de zurück­hal­tend. ‚War­um haben sie uns ange­grif­fen?’, beharr­te ich. Er zöger­te und sag­te dann beschämt: ‚Sie wol­len nicht, dass er geht.’ ‚Das wol­len sie nicht?’, sag­te ich erstaunt. Sein Nicken war vol­ler Geheim­nis­se und Weis­heit. ‚Ich sage dir’, rief er, ‚die­ser Mann hat mei­nen Geist gewei­tet’. Er brei­te­te sei­ne Arme weit aus und starr­te mich mit sei­nen klei­nen blau­en Augen an, die voll­kom­men rund waren.”