Die “Nel­lie”, ein Jol­len­kreu­zer, dreh­te ohne ein ein­zi­ges Flat­tern der Segel am Anker­seil auf, bis sie ruhig im Strom lag. Die Flut hat­te ein­ge­setzt, es war bei­na­he wind­still, und da die Fahrt strom­ab­wärts gehen soll­te, blieb uns nichts wei­ter übrig, als vor Anker zu gehen und auf den Gezei­ten­wech­sel zu warten.

Der Unter­lauf der Them­se erstreck­te sich vor uns wie der Beginn eines unend­li­chen Was­ser­laufs. Weit drau­ßen waren offe­ne See und Him­mel naht­los mit­ein­an­der ver­schmol­zen, und in dem licht­durch­flu­te­ten Raum schie­nen die wet­ter­ge­gerb­ten Segel der mit der Flut strom­auf­wärts trei­ben­den Fracht­schu­ten in roten Hau­fen spitz zulau­fen­den Segel­tuchs, zwi­schen denen lackier­te Spriet­bäu­me auf­blitz­ten, unbe­weg­lich zu ver­har­ren. Auf dem fla­chen Ufer saß ein neb­li­ger Dunst, der sich immer dün­ner wer­dend in die See hin­aus ver­lor. Über Grave­send dun­kel­te der Him­mel und schien sich noch wei­ter nach hin­ten in einer trüb­sin­ni­gen Düs­ter­nis zusam­men­zu­zie­hen, die regungs­los auf der größ­ten – und groß­ar­tigs­ten – Stadt der Welt lastete.

Der Fir­men­di­rek­tor war unser Kapi­tän und Gast­ge­ber. Wir vier ande­ren betrach­te­ten vol­ler Zunei­gung sei­nen Rücken, wäh­rend er da am Bug stand und aufs Meer hin­aus­schau­te. Auf dem gan­zen Fluss gab es nichts, das auch nur halb so see­män­nisch gewirkt hät­te wie er. Er sah aus wie ein Lot­se, der ja für den See­mann die Ver­trau­ens­wür­dig­keit selbst bedeu­tet. Man moch­te kaum glau­ben, dass er sei­nen Beruf nicht dort drau­ßen auf der licht­durch­flu­te­ten Fluss­mün­dung aus­üb­te, son­dern hin­ter uns, in der las­ten­den Düsternis.

Uns ver­band, wie ich bereits an ande­rer Stel­le erwähnt habe, eine gemein­sa­me Lie­be zur See. Nicht nur, dass wir ihret­we­gen durch lan­ge Zei­ten der Tren­nung hin­durch ein­an­der herz­lich ver­bun­den blie­ben, sie mach­te uns auch nach­sich­ti­ger den Schnur­ren – und sogar den Über­zeu­gun­gen – der ande­ren gegen­über. Dem Anwalt – mit dem man Pfer­de steh­len konn­te – war auf­grund der hohen Zahl sei­ner Jah­re und Tugen­den das ein­zi­ge Kis­sen auf Deck zuge­teilt wor­den, und er lag auf dem ein­zi­gen Tep­pich. Der Buch­hal­ter hat­te bereits eine Schach­tel Domi­no­stei­ne her­vor­ge­zo­gen und türm­te die elfen­bei­ner­nen Stei­ne spie­le­risch zu klei­nen Gebäu­den auf. Mar­low saß mit gekreuz­ten Bei­nen ach­tern an den Besan­mast gelehnt. Er zeich­ne­te sich durch ein­ge­fal­le­ne Wan­gen, eine gelb­li­che Haut­far­be, einen gera­den Rücken und das Aus­se­hen eines Aske­ten aus; mit sei­nen her­ab­ge­sun­ke­nen Armen und den nach oben wei­sen­den Hand­flä­chen wirk­te er wie ein Göt­zen­bild. Der Direk­tor hat­te sich davon über­zeugt, dass der Anker fes­ten Grund hat­te, und kam nach ach­tern, um sich zu uns zu set­zen. Wir wech­sel­ten ein paar trä­ge Wor­te. Danach herrsch­te Stil­le an Bord der Yacht. Aus irgend­ei­nem Grund fin­gen wir mit dem Domi­no gar nicht erst an. Wir waren in nach­denk­li­cher Stim­mung und brach­ten nichts wei­ter zuwe­ge, als fried­lich vor uns hin­zu­star­ren. Der Tag ging in ruhi­ger und von einem kost­ba­ren Glanz erfüll­ter Klar­heit sei­nem Ende ent­ge­gen. Das Was­ser schim­mer­te fried­lich; der Him­mel, den kein Wölk­chen trüb­te, hüll­te uns gütig in sei­ne Unend­lich­keit makel­lo­sen Lichts; selbst der Nebel auf der Marsch von Essex war wie ein hauch­dün­nes Gewe­be, das an den bewal­de­ten Anhän­gen land­ein­wärts auf­ge­hängt war und das fla­che Ufer in durch­sich­ti­ge Schlei­er­fal­ten hüll­te. Nur die Düs­ter­nis, die im Wes­ten über dem Ober­lauf las­te­te, wur­de mit jeder Minu­te fins­te­rer, als ob sie das Her­an­na­hen der Son­ne in Zorn versetzte.

Und schließ­lich sank die Son­ne in ihrem gekrümm­ten und unmerk­lich lang­sa­men Fall nach unten, und ihre weiß­hel­le Glut wur­de zu einem mat­ten Rot, das ohne Strah­len und Wär­me war. Es war, als ob sie gleich aus­ge­hen woll­te, töd­lich getrof­fen von der Berüh­rung durch jene Düs­ter­nis, die über der Men­schen­an­samm­lung lastete.

Unver­züg­lich wech­sel­te die Stim­mung über dem Was­ser­lauf, und die Klar­heit ver­lor an Glanz, aber gewann an Durch­drin­gungs­kraft. Der alte Fluss in sei­nem wei­ten Lauf ruh­te, von kei­ner Böe auf­ge­wühlt, im sich nei­gen­den Tag. Eine hal­be Ewig­keit schon hat­te er dem Volk, das an sei­nen Ufern leb­te, gute Diens­te geleis­tet, und er brei­te­te sich in der ruhi­gen Wür­de einer Was­ser­stras­se aus, die an die ent­le­gens­ten Ecken der Erde führt. Wir betrach­te­ten den ehr­wür­di­gen Strom, nicht in der fieb­ri­gen Hit­ze eines kur­zen Tages, die kommt und für immer wie­der ver­schwin­det, son­dern im erha­be­nen Licht dau­er­haf­ter Erin­ne­run­gen. Und wirk­lich fällt jeman­dem, der – wie man so sagt – “zur See gefah­ren” ist, und dies vol­ler Ehr­furcht und aus Nei­gung, nichts leich­ter, als auf dem Unter­lauf der Them­se den Geist einer gro­ßen Ver­gan­gen­heit zu beschwö­ren. Der Gezei­ten­strom läuft hin und her in nie­mals enden­der Dienst­bar­keit, vol­ler Erin­ne­run­gen an Män­ner und Schif­fe, die er zur hei­mat­li­chen Rast oder zur Schlacht auf hoher See getra­gen hat. Er hat all die Män­ner gekannt, die den Stolz der Nati­on dar­stel­len, und ihnen gedient, von Sir Fran­cis Dra­ke bis Sir John Fran­k­lin, alle von edlem Geblüt, ob mit Titel oder ohne – die gro­ßen fah­ren­den Rit­ter der See. Sie haben alle Schif­fe getra­gen, deren Namen wie Juwe­len in der Nacht der Zei­ten auf­leuch­ten, von der Gol­de­nen Hirsch­kuh, wie sie mit ihren rund­li­chen, schatz­ge­füll­ten Flan­ken heim­kehrt, um von Ihrer Majes­tät, der Köni­gin, besucht zu wer­den und dann aus der gro­ßen Hel­den­sa­ge zu ent­schwin­den, bis hin zu Ere­bus und Ter­ror, die auf Erobe­rungs­zü­ge ande­rer Art gin­gen ¬– auch sol­che, die nie zurück­ge­kehrt sind. Er hat die Schif­fe gekannt, eben­so wie die Män­ner, die dar­auf los­ge­se­gelt sind, von Dept­ford, von Green­wich, von Erith: die Aben­teu­rer und die Sied­ler, auf den Schif­fen Ihrer Majes­tät und auf denen von Spe­ku­lan­ten, Kapi­tä­ne, Admi­ra­le, die schat­ten­haf­ten Mono­pol­bre­cher des Asi­en­han­dels und die mit Patent ver­se­he­nen “Gene­rä­le” der Ost­in­di­en­flot­ten. Auf der Jagd nach Gold oder Ruhm sind sie alle die­sen Strom hin­aus­ge­fah­ren, mit dem Schwert und oft mit der Fackel des Lichts in der Hand, Boten der Herr­scher des Lan­des, Trä­ger eines Fun­kens vom hei­li­gen Feu­er. Wel­che Art von Grö­ße war nicht auf dem Ebbstrom die­ses Flus­ses in die Geheim­nis­se einer unbe­kann­ten Erde hin­ein gedrif­tet! … Die Träu­me von Män­nern, die Samen von Rei­chen, die Kei­me von Imperien.

Die Son­ne ging unter; Däm­me­rung fiel auf den Strom, und am Ufer sah man die ers­ten Lich­ter. Der Leucht­turm von Chap­man, eine dreibei­ni­ge, auf einer Watt­bank errich­te­te Kon­struk­ti­on, ließ sein hel­les Licht erstrah­len. In der Fahr­rin­ne beweg­ten sich Schiffs­lam­pen – ein auf­ge­reg­tes Auf und Ab von Lich­tern. Und wei­ter im Wes­ten strom­auf­wärts wur­de der Ort der mons­trös gro­ßen Stadt immer noch durch einen unheil­ver­kün­den­den Him­mel ange­zeigt, eine las­ten­de Düs­ter­nis im Son­nen­licht, einen fins­te­ren Schein unter den Sternen.

Und hier bei uns war auch ein­mal”, sag­te Mar­low plötz­lich, “eine der fins­te­ren Ecken der Welt.”

Er war der ein­zi­ge von uns, der noch “zur See fuhr”. Das Schlimms­te, was man von ihm sagen konn­te, war, dass er kein durch­schnitt­li­cher Ver­tre­ter sei­ner Klas­se war. Er war ein See­mann, aber er war auch ein Vaga­bund, wohin­ge­gen die meis­ten See­leu­te ein, der Aus­druck sei erlaubt, eher sess­haf­tes Leben füh­ren. Ihr Gemüt ist vom Schla­ge der Daheim­blei­ber, und ihr Heim – das Schiff – bewegt sich immer mit ihnen mit; das­sel­be gilt für ihr Vater­land – die See. Ein Schiff gleicht mehr oder weni­ger dem ande­ren, und die See bleibt immer die­sel­be. Vom die­sem nie wech­seln­den Gleich­maß ihrer Umge­bung aus betrach­tet glei­ten die frem­den Häfen, die frem­den Gesich­ter, die sich stets ändern­de, uner­mess­li­che Viel­falt des Lebens vor­bei, ver­hüllt nicht von einem Bewusst­sein für das Geheim­nis­vol­le, son­dern von einer leicht ver­ächt­li­chen Igno­ranz; denn für den See­mann gibt es nichts Geheim­nis­vol­les, es sei denn die See selbst, die sei­ne Gelieb­te und Her­rin und so uner­gründ­lich wie die Schick­sals­göt­tin ist. Was den Rest angeht, rei­chen ihm ein klei­ner Spa­zier­gang oder ein kur­zer Knei­pen­zug nach Fei­er­abend, um das Geheim­nis eines gan­zen Kon­ti­nents zu ergrün­den, und in der Regel hält er das Geheim­nis dann nicht für der Mühe wert. Die Schnur­ren eines See­manns zeich­nen sich durch eine ein­fa­che Direkt­heit aus und tra­gen ihre Bedeu­tung in sich wie in der Scha­le einer geknack­ten Nuss. Aber Mar­low war nicht typisch (abge­se­hen von sei­ner Nei­gung zum Spin­nen von See­manns­garn), und für ihn lag die Bedeu­tung einer Erzäh­lung nicht innen wie der Kern in einer Nuss, son­dern außen, als Umhül­lung der Fabel, die sie her­vor­bringt, aber nur wie die Glut den Schein her­vor­bringt, ähn­lich wie einer jener neb­li­gen Hei­li­gen­schei­ne, die manch­mal im geis­ter­haf­ten Mond­licht sicht­bar werden.

Sei­ne Bemer­kung schien uns nicht im Gerings­ten über­ra­schend. So war Mar­low eben. Sie wur­de schwei­gend hin­ge­nom­men. Nie­mand mach­te sich die Mühe, auch nur zu grun­zen, und jetzt sag­te er, sehr lang­sam: “Ich dach­te an die ganz alten Zei­ten, als die Römer hier zum ers­ten Mal auf­tauch­ten, vor tau­send­neun­hun­dert Jah­ren – gera­de vor­ges­tern.… Seit wann ist die­ser Fluss eine Quel­le des Lichts – was meint Ihr, seit der Rit­ter­zeit? Sicher, aber es ist wie ein Lauf­feu­er auf der Ebe­ne, wie Blit­ze in den Wol­ken. Wir leben in sei­nem Auf­fla­ckern – möge es so lan­ge anhal­ten, wie die alte Erde sich dreht! Aber erst ges­tern herrsch­te hier Fins­ter­nis. Stellt Euch vor, was der Kom­man­dant einer die­ser – wie sagt man gleich wie­der? – Tri­re­men im Mit­tel­meer gedacht haben muss, als man ihn plötz­lich in den Nor­den abge­or­dert hat: im Eil­tem­po über Land durch Gal­li­en mar­schie­ren, dann das Kom­man­do über eines die­ser übli­cher­wei­se von den Legio­nä­ren – was für fähi­ge Leu­te das gewe­sen sein müs­sen – gezim­mer­ten Schif­fe über­neh­men, Hun­der­te davon hat man offen­bar gebaut, in ein oder zwei Mona­ten, wenn man den Auf­zeich­nun­gen Glau­ben schen­ken darf. Stellt ihn euch also hier vor, am äußers­ten Ende der Welt, blei­far­be­ne See, rauch­far­be­ner Him­mel, das Schiff so sta­bil wie eine Zieh­har­mo­ni­ka – und dann fährt er die­sen Fluss hoch, mit Vor­rä­ten oder mit Befeh­len, was Ihr wollt. Sand­bän­ke, Bruch­land, Wäl­der, wil­de Ein­ge­bo­re­ne – herz­lich wenig von dem, was ein zivi­li­sier­ter Men­schen zu essen gewohnt ist, und zu trin­ken nichts als Was­ser aus der Them­se. Kein Falern­er­wein, kei­ne Land­gän­ge. Hier und dort ein Mili­tär­la­ger, ver­lo­ren in der Wild­nis wie eine Nadel im Heu­hau­fen: kal­ter Nebel, Stür­me, Krank­heit, Ver­ban­nung und Tod – schlei­chen­der Tod: in der Luft, im Was­ser, im Gebüsch. Die müs­sen hier wie die Flie­gen gestor­ben sein. Oh, er hat den Auf­trag erle­digt – sicher doch. Hat ihn zwei­fel­los sehr gut erle­digt, und ohne noch viel dar­über nach­zu­den­ken, es sei denn, um spä­ter damit anzu­ge­ben, was er im Leben so alles erlebt hat. Die waren Manns genug, sich der Fins­ter­nis zu stel­len. Und viel­leicht hat es ihn ange­spornt, dass er ja – mit guten Freun­den in Rom und falls er das schreck­li­che Kli­ma über­leb­te – irgend­wann beför­dert und zur Flot­te nach Raven­na ver­setzt wer­den könn­te. Oder stellt Euch einen ehr­ba­ren römi­schen Bür­ger in einer Toga vor – viel­leicht zu oft beim Wür­feln geses­sen, Ihr wisst schon –, der im Tross irgend­ei­nes Prä­fek­ten oder Steu­er­ein­trei­bers oder mei­net­we­gen Händ­lers hier­her kommt, um sein Ver­mö­gen wie­der­zu­ge­win­nen. Er lan­det in einem Sumpf, mar­schiert durch die Wäl­der, und irgend­wo in einer Han­dels­sta­ti­on im Inne­ren merkt er, dass er von der Bar­ba­rei, der abso­lu­ten Bar­ba­rei, ein­ge­schlos­sen ist – von dem gan­zen geheim­nis­vol­len Leben in der Wild­nis, das sich da zwi­schen den Bäu­men regt, im Urwald, in den Her­zen der wil­den Men­schen. Und nie­mand hat ihn in die­se Geheim­nis­se ein­ge­weiht. Er muss inmit­ten des Unbe­greif­li­chen, das gleich­zei­tig das Abscheu­li­che ist, leben. Und auch dies hat sei­ne Fas­zi­na­ti­on, der er sich nicht ent­zie­hen kann. Die Fas­zi­na­ti­on des Scheuß­li­chen – ihr wisst schon, stellt euch sei­ne Reue vor, sei­ne Sehn­sucht zu ent­kom­men, den macht­lo­sen Ekel, das Auf­ge­ben, den Hass.”

Er hielt inne.

Das heißt natür­lich”, setz­te er wie­der ein und hob einen Unter­arm an, die Hand­flä­che nach außen gewandt, sodass er mit sei­nen gekreuz­ten Bei­nen aus­sah wie ein Bud­dha, der in euro­päi­scher Klei­dung und ohne Lotus­blu­me eine Pre­digt hält, “das heißt natür­lich, kei­ner von uns wür­de genau die glei­chen Gefüh­le hegen.” Was uns ret­tet, ist die Effi­zi­enz – unse­re Hin­ga­be an die Effi­zi­enz. Davon hat­ten die­se Bur­schen wirk­lich nicht all­zu viel auf­zu­wei­sen. Sie waren kei­ne Kolo­nis­ten; ihre Ver­wal­tung bestand aus der Aus­übung von Zwang und sonst nichts wei­ter, ver­mu­te ich. Sie waren Erobe­rer, und dafür ist nichts als rohe Gewalt erfor­der­lich – nichts, auf das man stolz sein muss, wenn man dar­über ver­fügt, denn die eige­ne Stär­ke ist nur ein Zufall, der auf der Schwä­che der ande­ren beruht. Sie nah­men sich, was sie bekom­men konn­ten, weil es eben zu haben war. Das war nur gewalt­tä­ti­ger Raub­über­fall, vor­sätz­li­cher Mord im gro­ßen Stil, ein blin­des Drauf­hau­en – gar nicht unpas­send für Män­ner, die mit der Fins­ter­nis fer­tig wer­den müs­sen. Die Erobe­rung der Erde, was nur bedeu­tet, dass wir sie denen weg­neh­men, die eine ande­re Haut­far­be oder etwas fla­che­re Nasen als wir selbst haben, ist kei­ne schö­ne Ange­le­gen­heit, wann man sie sich mal näher betrach­tet. Die ein­zi­ge Erlö­sung liegt in der Idee. In der zugrun­de lie­gen­den Idee: kei­nem rühr­se­li­gen Schein, son­dern einer Idee, und einem selbst­lo­sen Glau­be an die Idee – etwas, das man hin­stel­len, vor dem man sich ver­beu­gen und dem man Opfer brin­gen kann.…”

Er brach ab. Lich­ter drif­te­ten im Fluss, grü­ne Flämm­chen, rote Flämm­chen, wei­ße Flämm­chen, ver­folg­ten und über­hol­ten ein­an­der, schlos­sen zuein­an­der auf, kreuz­ten den Weg der ande­ren – bis sie sich, lang­sam oder rasch, wie­der trenn­ten. Der Ver­kehr der gro­ßen Stadt nahm kein Ende in der dunk­ler wer­den­den Nacht über dem schlaf­lo­sen Fluss. Wir blie­ben gedul­dig war­ten­de Zuschau­er – bis zum Ende der Flut war nichts wei­ter zu tun; aber erst als er nach einer lan­gen Stil­le mit zögern­der Stim­me sag­te, “Jun­gens, ich neh­me an, ihr erin­nert euch, dass ich mal eine Zeit­lang als Süß­was­ser­ma­tro­se unter­wegs war”, wuss­ten wir, dass wir bis zur ablau­fen­den Ebbe dazu ver­dammt waren, einem von Mar­lo­wes wenig aus­sa­ge­kräf­ti­gen Erleb­nis­be­rich­ten zu lauschen.

Ich will euch nicht all­zu sehr mit mei­nem per­sön­li­chen Schick­sal beläs­ti­gen”, fing er an und zeig­te durch die­se Bemer­kung die häu­fig anzu­tref­fen­de Schwä­che derer, die eine Geschich­te erzäh­len wol­len und so oft nicht zu wis­sen schei­nen, was ihr Publi­kum am liebs­ten hören wür­de, “aber damit Ihr den Ein­druck des Gan­zen auf mich ver­ste­hen könnt, müsst Ihr wis­sen, wie ich dort­hin gekom­men bin, was ich gese­hen habe, wie ich jenen Fluss bis an die Stel­le hoch­ge­fah­ren bin und wo ich den armen Kerl ken­nen gelernt habe. Es war der End­punkt der Rei­se und der Gip­fel­punkt mei­ner Erfah­run­gen. Es schien irgend­wie alles um mich her­um auf eine bestimm­te Wei­se zu erhel­len – sogar mei­ne Gedan­ken. Gleich­zei­tig war es ziem­lich düs­ter – und jäm­mer­lich – in kei­ner Wie­se außer­ge­wöhn­lich – oder beson­ders klar. Nein, nicht sehr klar. Und doch warf es eine Art von Licht.

Ich war damals, wie ihr euch erin­nern wer­det, nach sehr viel Indi­schem Oze­an, Pazi­fik und Chi­ne­si­schem Meer nach Lon­don zurück­ge­kehrt – eine ordent­li­che Dosis Ori­ent – so um die sechs Jah­re, und ich spiel­te den Müßig­gän­ger, hielt euch Jun­gens von der Arbeit ab und fiel bei euch zu Hau­se ein, als ob ich den himm­li­schen Auf­trag gehabt hät­te, euch die Zivi­li­sa­ti­on zu brin­gen. Eine Wei­le ging das ganz gut, aber irgend­wann hat­te ich das Aus­ru­hen satt. Dann begann ich mich nach einem Schiff umzu­schau­en – nicht gera­de die här­tes­te Arbeit der Welt, soll­te man mei­nen. Aber die Schif­fe inter­es­sier­ten sich nicht im Gerings­ten für mich. Und ich wur­de die­ses Spiel­chens bald eben­falls überdrüssig.

Nun ist es so, dass ich als klei­ner Ben­gel ver­rückt nach Land­kar­ten war. Ich konn­te mir stun­den­lang Süd­ame­ri­ka oder Afri­ka oder Aus­tra­li­en anschau­en und mich in Träu­men von Ent­de­cker­herr­lich­keit ver­lie­ren. Zu die­ser Zeit gab es noch vie­le wei­ße Fle­cken auf der Land­kar­te des Erde, und wenn ich einen sah, der mir beson­ders ein­la­dend erschien (aber das galt eigent­lich für alle), setz­te ich immer den Fin­ger dar­auf und sag­te, ‚Wenn ich mal groß bin, fah­re ich dort­hin.’ Ich erin­ne­re mich, dass zu die­sen Orten auch der Nord­pol gehör­te. Nun ja, dort bin ich noch nicht gewe­sen, und jetzt wer­de ich es nicht mehr ver­su­chen. Der Zau­ber hat sich ver­flüch­tigt. Ande­re Orte waren über den gan­zen Glo­bus ver­teilt. An eini­gen davon bin ich gewe­sen, und … nun ja, reden wir nicht davon. Aber es gab einen Fleck – den größ­ten, den wei­ßes­ten, sozu­sa­gen –, nach dem ich immer noch Sehn­sucht hatte.

Sicher, zu jener Zeit war er schon kein wei­ßer Fleck mehr. Seit mei­ner Kind­heit hat­te er sich mit Flüs­sen und Seen und Namen gefüllt. Er war kein wei­ßer Fleck vol­ler wun­der­ba­rer Geheim­nis­se mehr, an dem es genü­gend Platz für präch­ti­ge Jun­gensträu­me gab. Jetzt herrsch­te dort die Fins­ter­nis. Aber es gab ins­be­son­de­re einen Fluss, einen ziem­lich gro­ßen Fluss, den man auf der Kar­te sehen konn­te. Er glich einer rie­si­gen, sich win­den­den Schlan­ge, deren Kopf im Meer lag, wäh­rend der Kör­per in weit aus­schwin­gen­den Kur­ven über einem rie­si­gen Ter­ri­to­ri­um ruh­te und der Schwanz sich in den Tie­fen des Lan­des ver­lor. Und als ich die Land­kar­te in einem Schau­fens­ter betrach­te­te, war ich von ihm fas­zi­niert wie ein Vogel von einer Schlan­ge – ein dum­mer, klei­ner Vogel. Dann fiel mir ein, dass es einen gro­ßen Kon­zern gab, eine Gesell­schaft für den Han­del auf die­sem Fluss. Zum Hen­ker!, über­leg­te ich, man kann doch auf die­ser Men­ge von Süß­was­ser kei­nen Han­del trei­ben, ohne irgend­ei­ne Art von Fahr­zeug zu benut­zen – Dampf­schif­fe! War­um soll­te ich nicht ver­su­chen, das Kom­man­do über eines davon zu bekom­men? Ich ging wei­ter die Fleet Street her­un­ter, aber die Idee ging mir nicht aus dem Kopf. Die Schlan­ge hat­te mich hypnotisiert.

Ihr wisst natür­lich, dass sie vom Kon­ti­nent aus ope­rier­te, die­se Han­dels­ge­sell­schaft, aber eine Men­ge Ver­wand­te von mir woh­nen auf dem Kon­ti­nent, weil es wenig kos­tet und nicht so scheuß­lich ist, wie man immer denkt – sagen sie jedenfalls.

Ich geste­he es ungern ein, aber ich fing an, sie um Hil­fe anzu­ge­hen. Allein das war neu für mich. Ich war es schließ­lich nicht gewohnt, auf die­se Wei­se etwas zu errei­chen. Ich bin immer auf mei­nem eige­nen Weg und mit mei­nen eige­nen Füßen in die Rich­tung gegan­gen, nach der mir der Sinn stand. Ich hät­te es nicht von mir selbst geglaubt, aber ande­rer­seits – was soll ich sagen – hat­te ich das Gefühl, ich müs­se unbe­dingt dort­hin, kos­te es was es wol­le. Also ging ich sie um Hil­fe an. Die Män­ner sag­ten ‚Mein lie­ber Char­lie’ und taten nichts. Dann – glaubt es oder nicht – ver­such­te ich es bei den Frau­en. Ich, Char­lie Mar­low, setz­te die Frau­en in Bewe­gung – um eine Anstel­lung zu bekom­men. Güti­ger Him­mel! Na ja, ihr ver­steht schon, mein Ver­lan­gen trieb mich an. Ich hat­te eine Tan­te, eine lie­be, begeis­te­rungs­fä­hi­ge See­le. Sie schrieb mir: ‚Das wird herr­lich. Ich bin bereit, alles, wirk­lich alles für dich zu tun. Die Idee ist wun­der­voll. Ich ken­ne die Gat­tin eines sehr hohen Per­sön­lich­keit in der Ver­wal­tung, außer­dem jeman­den mit sehr gro­ßem Ein­fluss auf’ usw. Sie war ent­schlos­sen, jeden erdenk­li­chen Auf­wand zu betrei­ben, um mich zum Kapi­tän eines Fluss­damp­fers zu machen, wenn das denn mein Wunsch war.

Ich bekam den gewünsch­ten Pos­ten – was sonst; und ich bekam ihn ziem­lich schnell. Offen­bar hat­te die Gesell­schaft erfah­ren, dass einer ihrer Kapi­tä­ne bei einem Hand­ge­men­ge mit den Ein­ge­bo­re­nen getö­tet wor­den war. Das war mei­ne Chan­ce, und ich brann­te nur noch mehr dar­auf, dass es end­lich los­ging. Erst Mona­te spä­ter, als ich ver­such­te, die Über­res­te der Lei­che zu ber­gen, hör­te ich, dass der Streit ursprüng­lich aus einem Miss­ver­ständ­nis wegen ein paar Hen­nen ent­stan­den war. Jawohl, zwei schwar­zen Hen­nen. Fres­le­ven – so hieß der Bur­sche, ein Däne – fühl­te sich bei dem Han­del irgend­wie über­vor­teilt, wes­halb er an Land ging und anfing , mit einem Stock auf den Dorf­häupt­ling ein­zu­hau­en. Oh, es wun­der­te mich nicht im Gerings­ten, davon zu hören und gleich­zei­tig zu erfah­ren, dass Fres­le­ven das freund­lichs­te, stills­te Wesen besaß, das je ein zwei­bei­ni­ges Wesen aus­ge­zeich­net hat­te. Zwei­fel­los stimm­te das; aber, wisst ihr, er war schon ein paar Jah­re dort drau­ßen im Namen der edlen Sache unter­wegs gewe­sen, und am Ende hat­te er wahr­schein­lich ein gewis­ses Bedürf­nis, sei­ne Selbst­ach­tung wie­der­zu­ge­win­nen. Dar­um schlug er gna­den­los auf den alten Nig­ger ein, wäh­rend eine gro­ße Men­ge sei­ner Leu­te ihm wie vom Don­ner gerührt zusah, bis irgend­wer – der Sohn des Häupt­lings, sag­te man mir – aus Ver­zweif­lung über das Schrei­en des Alten ver­suchs­wei­se dem Wei­ßen einen leich­ten Speer­stoß ver­setz­te – und selbst­ver­ständ­lich fand der Speer ohne gro­ße Mühe sei­nen Weg zwi­schen die Schul­ter­blät­ter. Dann ver­schwand die gan­ze Bevöl­ke­rung im Wald, weil sie dach­ten, dass alle mög­li­chen Arten von Kata­stro­phen über sie her­ein­bre­chen wür­den, wäh­rend auf der ande­ren Sei­te das Dampf­boot, das Fres­le­ven befeh­ligt hat­te, von einer eben­sol­chen schlim­men Panik befal­len wur­de und abfuhr – ich glau­be, unter dem Kom­man­do des Inge­nieurs. Hin­ter­her schien sich nie­mand gro­ße Mühe mit Fres­le­vens Über­res­ten gemacht zu haben, bis ich das Boot ver­ließ und in sei­ne Fuß­stap­fen trat. Ich konn­te sie ja schließ­lich nicht lie­gen las­sen; aber als sich end­lich die Gele­gen­heit bot, mei­nen Vor­gän­ger ken­nen zu ler­nen, war das Gras, das durch sei­ne Rip­pen wuchs, hoch genug, um sei­ne Kno­chen zu ver­ber­gen. Sie waren alle noch da. Man hat­te das über­na­tür­li­che Wesen nach sei­nem Fall nicht mehr berührt. Und das Dorf war ver­las­sen, die Hüt­ten stan­den schwarz klaf­fend offen, sie ver­rot­te­ten, ganz schief inner­halb ihrer umge­fal­le­nen Umzäu­nung. Die Kata­stro­phe war schließ­lich doch gekom­men. Die Men­schen waren ver­schwun­den. In pani­scher Angst hat­ten sie sich im Busch ver­streut, Män­ner, Frau­en und Kin­der, und sie waren nie zurück­ge­kehrt. Was aus den Hen­nen gewor­den ist, weiß ich genau­so wenig. Ich neh­me an, sie sind der Sache des Fort­schritts zum Opfer gefal­len. In jedem Fall war es die­se glor­rei­che Affä­re, die mir zu mei­ner Stel­lung ver­half, bevor ich über­haupt ange­fan­gen hat­te, mir Hoff­nun­gen dar­auf zu machen.

Ich beeil­te mich wie ver­rückt, um abrei­sen zu kön­nen, und bevor acht­und­vier­zig Stun­den her­um waren, über­quer­te ich den Ärmel­ka­nal, um mich mei­nen Arbeit­ge­bern vor­zu­stel­len und den Ver­trag zu unter­schrei­ben. Nur ein paar Stun­den spä­ter kam ich in eine Stadt, die mich immer an ein weiß über­tünch­tes Grab­mal erin­nert. Sicher nur ein Vor­ur­teil. Ich hat­te kei­ner­lei Schwie­rig­kei­ten, den Sitz der Gesell­schaft zu fin­den. Ein grö­ße­res Gebäu­de gab es in der Stadt nicht, und jeder, den ich ken­nen lern­te, war voll und ganz davon ein­ge­nom­men. Man mach­te sich dort drü­ben dar­an, ein über­see­isches Reich zu len­ken und uner­mess­li­che Reich­tü­mer aus dem Han­del zu schöpfen.

Ein enge und ver­las­se­ne Stras­se, die im tie­fen Schat­ten lag, hohe Häu­ser, unzäh­li­ge Fens­ter mit Jalou­sien, rings­um Toten­stil­le, rechts und links aus dem Boden schie­ßen­des Gras, rie­si­ge Dop­pel­tü­ren, die einen bedeu­tungs­vol­len Spalt weit offen stan­den. Ich schlüpf­te durch einen die­ser schma­len Durch­läs­se, ging eine geschwun­ge­ne Trep­pe ohne jede Ver­zie­rung, so ein­tö­nig wie eine Wüs­te, hin­auf und öff­ne­te die ers­te Tür, an die ich kam. Zwei Frau­en, die eine dick und die ande­re dünn, saßen auf stroh­ge­pols­ter­ten Stüh­len und strick­ten mit schwar­zer Wol­le. Die Dün­ne stand auf und kam gera­de­wegs auf mich zu – wobei sie die Augen gesenkt hielt und mit dem Stri­cken wei­ter­mach­te – und gera­de als ich anfing, mir Gedan­ken dar­über zu machen, wie ich ihr aus­wei­chen konn­te, wie man es bei Schlaf­wand­lern eben so macht, hielt sie an und blick­te auf. Ihr Kleid war so schlicht wie die Hül­le eines Regen­schirms; sie dreh­te sich ohne ein Wort um und schritt mir vor­an in ein War­te­zim­mer. Ich gab mei­nen Namen an und sah mich um. In der Mit­te ein Tisch zum Kar­ten­spie­len, rings­um an den Wän­den ein­fa­che Stüh­le und an einem Ende eine gro­ße, schim­mern­de Land­kar­te, die in allen Far­ben des Regen­bo­gens kolo­riert war. Es gab eine enor­me Men­ge Rot – immer ein erfreu­li­cher Anblick, weil man weiß, dass an die­sen Stel­len wirk­lich etwas geleis­tet wird –, einen ver­teu­felt gro­ßen Bereich Blau, ein biss­chen Grün, ein paar Sprit­zer Oran­ge und, an der Ost­küs­te, ein Fle­cken Vio­lett, um den Ort zu kenn­zeich­nen, an dem die zünf­ti­gen Pio­nie­re des Fort­schritts gemüt­lich bei einer Hal­ben in ihrem Bier­gar­ten sit­zen. Mein Ziel lag aller­dings in kei­ner die­ser Far­ben. Ich wür­de in das Gelb rei­sen. Haar­ge­nau in die Mit­te. Und da war auch der Fluss – fas­zi­nie­rend – töd­lich – wie eine Schlan­ge. Hopp­la! Eine Tür öff­ne­te sich, ein weiß­haa­ri­ger Sekre­tä­ren­kopf, der aller­dings eine mit­füh­len­de Mie­ne trug, erschien und ein mage­rer Zei­ge­fin­ger wink­te mich in das Aller­hei­ligs­te hin­ein. Dort herrsch­te ein trü­bes Licht und ein schwe­rer Schreib­tisch hielt die Mit­te des Raums besetzt. Hin­ter dem Möbel mach­te etwas den Ein­druck von blei­cher Fül­le im Geh­rock. Der Herr­scher der Heer­scha­ren per­sön­lich. Er maß, soll­te ich mei­nen, knapp einen Meter sieb­zig und konn­te über Mil­lio­nen und Aber­mil­lio­nen bestim­men. Er schüt­tel­te mei­ne Hand, glau­be ich, mur­mel­te ein paar vage Sät­ze und war mit mei­nem Fran­zö­sisch zufrie­den. Bon Voyage.

Etwa fünf­und­vier­zig Sekun­den spä­ter fand ich mich in dem War­te­zim­mer und in Gesell­schaft des Sekre­tärs wie­der, der mir, vol­ler Betrüb­nis und Mit­ge­fühl, irgend­ein Doku­ment zur Unter­schrift vor­leg­te. Ich glau­be, dass ich mich unter ande­rem ver­pflich­tet habe, kei­ne Han­dels­ge­heim­nis­se zu ver­ra­ten. Nun, das habe ich nicht vor.

Ich fühl­te mich lang­sam etwas unwohl. Ihr wisst, dass ich an sol­cher­lei Zere­mo­nien nicht gewöhnt bin, und die Atmo­sphä­re war irgend­wie bedroh­lich. Es war gera­de so, als ob man mich zum Mit­glied einer Ver­schwö­rung gemacht hät­te – ich weiß nicht – von etwas irgend­wie Unrech­tem; und ich war froh, dass ich dort wie­der her­aus­kam. In dem äuße­ren Zim­mer strick­ten die bei­den Frau­en mit fie­ber­haf­tem Eifer mit ihrer schwar­zen Wol­le. Es kamen immer wie­der Besu­cher, und die Jün­ge­re ging hin und her, um sie anzu­mel­den. Die Älte­re blieb auf ihrem Stuhl sit­zen. Ihre fla­chen Haus­schu­he aus Stoff waren auf einen Fuß­wär­mer gestützt und auf ihrem Schoß ruh­te eine Kat­ze. Auf dem Kopf trug sie eine Ange­le­gen­heit aus gestärk­tem wei­ßen Lei­nen, auf ihrer Wan­ge saß eine War­ze und auf ihrer Nasen­spit­ze hing eine Bril­le mit Sil­ber­rand. Sie gönn­te mir einen kur­zen Blick über den Bril­len­rand hin­weg. Die flüch­ti­ge und gleich­gül­ti­ge Gemüts­ru­he die­ses Blicks beun­ru­hig­te mich. Zwei jun­ge Män­ner mit töricht-ver­gnüg­ten Gesichts­zü­gen wur­den her­über­ge­lotst, und sie bedach­te sie mit dem­sel­ben flüch­ti­gen Blick des­in­ter­es­sier­ter Weis­heit. Sie schien alles über sie zu wis­sen und eben­so über mich. Mir schau­der­te. Sie mach­te einen unheim­li­chen und ver­häng­nis­vol­len Ein­druck. Oft dach­te ich dort drau­ßen aus wei­ter Fer­ne an die­se bei­den, wie sie das Tor zur Fins­ter­nis bewach­ten und mit schwar­zer Wol­le strick­ten, als ob ein Sarg­tuch dar­aus wer­den soll­te, wie die eine die Besu­cher vor­stell­te, immer wie­der dem Unbe­kann­ten vor­stell­te und die ande­re die töricht-ver­gnüg­ten Gesich­ter mit des­in­ter­es­sier­ten alten Augen prüf­te. Ave!, du alte Stri­cke­rin schwar­zer Wol­le. Mori­tu­ri te salutant. Sie sah nicht vie­le von denen wie­der, die sie so betrach­te­te – nicht ein­mal die Hälf­te, bei wei­tem nicht.

Es war noch ein Besuch beim Arzt abzu­leis­ten. ‚Eine ein­fa­che Form­sa­che’, ver­si­cher­te mir der Sekre­tär mit einer Mie­ne, in der enor­me Anteil­nah­me an allen mei­nen Sor­gen lag. Folg­lich tauch­te von irgend­wo­her in den obe­ren Stock­wer­ken ein jun­ger Bur­sche auf, der sei­nen Hut über der lin­ken Augen­braue trug, eine Art Büro­an­ge­stell­ter, neh­me ich an – es muss­te ja Ange­stell­te in der Fir­ma geben, auch wenn das Haus so still war, als ob es zu einer Stadt der Toten gehör­te –, und führ­te mich wei­ter. Er war schä­big und ohne Sorg­falt geklei­det, auf den Ärmeln sei­ner Jacke sah man Tin­ten­fle­cken und sei­ne Kra­wat­te war groß und wog­te unter einem Kinn, das geformt war wie die Spit­ze eines alten Stie­fels. Für den Arzt waren wir noch zu früh dran, also schlug ich vor, etwas trin­ken zu gehen, wor­auf­hin er eine Spur freund­li­cher wur­de. Als wir über unse­rem Wer­mut saßen, pries er die Geschäf­te der Gesell­schaft in den höchs­ten Tönen, und schließ­lich drück­te ich bei­läu­fig mein Erstau­nen dar­über aus, dass er noch nicht in den Außen­dienst gegan­gen sei. Mit einem Mal wur­de er sehr kühl und zurück­hal­tend. ‚Wie sag­te einst Pla­to zu sei­nen Jün­gern: Ich bin nicht so dumm, wie ich aus­se­he’, sag­te er sal­bungs­voll, leer­te sein Glas mit gro­ßer Ent­schlos­sen­heit, und wir stan­den auf.

Der alte Arzt fühl­te mir den Puls und dach­te wäh­rend­des­sen dem Anschein nach an ande­re Din­ge. ‚Gut, gut für dort unten’, mur­mel­te er und frag­te mich dann mit einem gewis­sen Eifer, ob ich ihn mei­nen Kopf mes­sen las­sen wür­de. Etwas über­rascht stimm­te ich zu, wor­auf­hin er eine Art Mess­zir­kel her­vor­zau­ber­te und die hin­te­ren und vor­de­ren und alle mög­li­chen ande­ren Maße nahm und sie sorg­fäl­tig notier­te. Er war unra­siert und klein­ge­wach­sen und trug einen faden­schei­ni­gen Man­tel aus einer Art Gabar­di­ne­stoff; sei­ne Füße steck­ten in Haus­schu­hen und ich hielt ihn für einen harm­lo­sen Trot­tel. ‚Ich bit­te die Män­ner, die von hier aus in den Außen­dienst gehen, immer dar­um, ihre Schä­del mes­sen zu dür­fen, im Inter­es­se der Wis­sen­schaft’, sag­te er. ‚Auch, wenn sie zurück­kom­men?’, frag­te ich. ‚Oh, dann sehe ich sie nie’, ant­wor­te­te er, ‚und außer­dem fin­den die Ände­run­gen ja innen statt, ver­ste­hen Sie?’ Er lächel­te wie über einen pri­va­ten Scherz. ‚Sie gehen also in den Außen­dienst. Aus­ge­zeich­net. Und inter­es­sant dazu.’ Er blick­te mich prü­fend an und notier­te wie­der etwas. ‚Jemals Fäl­le von Geis­tes­krank­heit in Ihrer Fami­lie?’, frag­te er im sach­li­chen Ton. Ich wur­de sehr ver­är­gert. ‚Stel­len Sie die­se Fra­ge auch im Inter­es­se der Wis­sen­schaft?’ ‚Es wäre für die Wis­sen­schaft’, sag­te er, ohne mei­nen Ärger zu bemer­ken, ‚von Inter­es­se, die geis­ti­gen Ände­run­gen bei ein­zel­nen Men­schen zu prü­fen, an Ort und Stel­le, aber …’ ‚Sind Sie ein See­len­arzt?’, unter­brach ich ihn. ‚Jeder Arzt soll­te das sein – ein wenig’, ant­wor­te­te die­ses Pracht­ex­em­plar von Medi­zi­ner unbe­wegt. ‚Ich habe da eine klei­ne Theo­rie, bei deren Beweis Ihr Herr­schaf­ten vom Außen­dienst mir hel­fen müsst. Das ist mein Anteil an den Erträ­gen, die mei­nem Land aus dem Besitz eines der­art groß­ar­ti­gen abhän­gi­gen Ter­ri­to­ri­ums erwach­sen wer­den. Den simp­len Reich­tum über­las­se ich ande­ren. Ver­zei­hen Sie mei­ne Fra­gen, aber Sie sind der ers­te Eng­län­der, den ich unter­su­chen darf …’ Ich beeil­te mich, ihm zu ver­si­chern, dass ich nicht im Gerings­ten typisch sei. ‚Wäre ich das’, sag­te ich, ‚wür­de ich gar nicht so mit Ihnen reden.’ ‚Was Sie da sagen, hat sei­nen Hin­ter­sinn, aber wahr­schein­lich irren Sie sich,’ sag­te er lachend. ‚Hüten Sie sich mehr vor Rei­zun­gen als vor direk­tem Son­nen­licht. Adieu. Wie sagt Ihr Eng­län­der gleich wie­der? Good-bye. Ah! Good-bye. Adieu. In den Tro­pen muss man vor allem ruhi­ges Blut bewah­ren.’ … Er hob war­nend sei­nen Zei­ge­fin­ger.… ‘Du cal­me, du cal­me. Adieu.’

Eines muss­te ich noch tun – mei­ner for­mi­da­blen Tan­te Lebe­wohl sagen. Ich fand sie in tri­um­phie­ren­der Stim­mung. Ich wur­de zum Tee ein­ge­la­den – dem letz­ten anstän­di­gen Tee für vie­le Tage –, in einem Zim­mer, das auf eine äußerst beru­hi­gen­de Art genau­so aus­sah, wie man sich den Salon einer Dame vor­stellt, und wir unter­hiel­ten uns lan­ge an ihrem Kamin. Im Ver­lauf die­ses Aus­tauschs von Ver­trau­lich­kei­ten wur­de mir bald klar, dass ich der Frau des hohen Wür­den­trä­gers und Gott weiß wie vie­len ande­ren Leu­ten gegen­über als außer­ge­wöhn­li­ches und talen­tier­tes Wesen dar­ge­stellt wor­den war – ein Glücks­fall für die Gesell­schaft – ein Mann, dem man nicht alle Tage begeg­net. Güti­ger Him­mel! Und da stand ich nun und soll­te das Kom­man­do über einen schä­bi­gen Fluss­damp­fer mit einer Kin­der­pfei­fe dar­an über­neh­men! Es schien außer­dem, als ob ich es jetzt zum Mit­glied der Arbei­ter­klas­se gebracht hat­te – ihr wisst schon. Irgend eine Art Licht­brin­ger, von der Sor­te nie­de­rer Apos­tel. Gera­de damals kur­sier­te eine Men­ge der­ar­ti­gen Unfugs in der Pres­se und in Gesprä­chen, und das fabel­haf­te Frau­en­zim­mer, das inmit­ten die­ses Geschwa­fel­sturms leb­te, hat­te sei­ne Boden­haf­tung ver­lo­ren. Sie sprach so lan­ge davon, ‚die unwis­sen­den Men­schen­mas­sen aus ihren schreck­li­chen Umstän­den zu befrei­en’, dass es mir, ganz ehr­lich, unan­ge­nehm wur­de. Ich wag­te anzu­deu­ten, dass die Gesell­schaft des Pro­fits wegen gegrün­det wor­den war.

Du ver­gisst, lie­ber Char­lie, dass ein Arbei­ter sei­nes Loh­nes wert ist,’ sag­te sie fröh­lich. Es ist schon selt­sam, wie wenig die Frau­en von der Wahr­heit ver­ste­hen. Sie leben in ihrer eige­nen Welt, und so eine wie die hat es noch nie gege­ben und wird es auch nie geben. Sie ist ein­fach ins­ge­samt zu schön, und wenn sie von ihnen auf­ge­baut wür­de, gin­ge alles vor dem ers­ten Son­nen­un­ter­gang in die Bin­sen. Irgend­ei­ne ver­fluch­te Tat­sa­che, mit der die Män­ner sich seit dem Schöp­fungs­tag arran­giert haben, wür­de ihnen in die Que­re kom­men und alles ein­stür­zen lassen.

Schließ­lich wur­de ich umarmt, zum Tra­gen von Fla­nell­un­ter­wä­sche ange­hal­ten, gemahnt, oft zu schrei­ben und so wei­ter – dann ging ich. Auf der Stra­ße – ich weiß nicht war­um – über­kam mich das selt­sa­me Gefühl, ein Hoch­stap­ler zu sein. Schon komisch, dass aus­ge­rech­net ich, der nor­ma­ler­wei­se über­all auf der Welt inner­halb von vier­und­zwan­zig Stun­den sei­ne Zel­te abbre­chen konn­te, und das mit weni­ger Beden­ken als die meis­ten Men­schen beim Über­que­ren einer Stra­ße haben, für einen Moment – ich sage nicht: zöger­te, aber doch – ange­sichts einer so all­täg­li­chen Ange­le­gen­heit – erschreckt inne­hielt. Am bes­ten kann ich es euch so erklä­ren, dass mir, wäh­rend einer oder zwei Sekun­den, zumu­te war, als ob ich nicht in die Mit­te eines Kon­ti­nents, son­dern zum Mit­tel­punkt der Erde selbst fah­ren würde.

Ich reis­te auf einem fran­zö­si­schen Damp­fer ab, der in jedem ver­fluch­ten Hafen, den sie da drau­ßen haben, einen Zwi­schen­hal­ten ein­leg­te, und das nur, soweit ich sehen konn­te, um Sol­da­ten und Zoll­be­am­te abzu­set­zen. Ich beob­ach­te­te die Küs­te. Eine Küs­te zu beob­ach­ten, wäh­rend sie am Schiff vor­über­zieht, ist wie über ein Rät­sel nach­den­ken. Da liegt sie vor einem – lächelnd, stirn­run­zelnd, ein­la­dend, groß­ar­tig, böse, stumpf­sin­nig oder wild, und immer stumm mit dem Hauch eines Flüs­terns: ‚Komm her und ent­de­cke mich.’ Die­se hier wies kaum Beson­der­hei­ten auf, sie schien sich erst noch zu for­men und bot den Anblick grim­mi­ger Ein­tö­nig­keit. Der Saum eines gewal­ti­gen Dschun­gels, so dun­kel­grün, dass er fast schwarz wirk­te, und gesäumt von wei­ßer Bran­dung, lief gera­de, wie mit dem Line­al gezo­gen, eine blaue See ent­lang, deren Glit­zern durch einen schlei­chen­den Nebel ver­wischt wur­de. Die Son­ne brann­te, und das Land schien glän­zend und trop­fend vor Schweiß. Hier und dort zeig­ten sich Ansamm­lun­gen gräu­lich-weiß­li­cher Fle­cken durch die wei­ße Bran­dung hin­durch, und manch­mal weh­te eine Flag­ge dar­über. Sied­lun­gen, die schon Jahr­hun­der­te alt waren und doch nicht grö­ßer als Steck­na­del­köp­fe vor der unbe­rühr­ten Wei­te hin­ter ihnen. Wir stampf­ten vor­an, hiel­ten an, set­zen Sol­da­ten ab, fuh­ren wei­ter, setz­ten Zoll­schrei­ber ab, die offen­bar in einer Well­blech­hüt­te mit Flag­gen­mast mit­ten in der gott­ver­las­sens­ten Wild­nis die Ein- und Aus­fuh­ren besteu­ern soll­ten, set­zen noch mehr Sol­da­ten ab – wahr­schein­lich soll­ten sie die Zoll­schrei­ber im Auge behal­ten. Eini­ge von ihnen, so war zu hören, ertran­ken in der Bran­dung; aber nie­mand schien sich beson­ders dafür zu inter­es­sie­ren. Sie wur­den ein­fach vom Schiff gewor­fen und wei­ter ging die Rei­se. Jeden Tag sah die Küs­te gleich aus, es war, als hät­ten wir uns nicht bewegt; in Wirk­lich­keit pas­sier­ten wir eine Rei­he von Orten – Han­dels­sta­tio­nen – mit Namen wie Groß-Bassam, Klein-Popo; Namen, die zu irgend­ei­ner abge­dro­sche­nen, vor einer unheim­li­chen Kulis­se gespiel­ten Far­ce zu gehö­ren schie­nen. Der dem Pas­sa­gier eige­ne Müßig­gang, mei­ne Iso­la­ti­on unter all die­sen Män­nern, zu denen ich kei­nen Kon­takt hat­te, die öli­ge und trä­ge See, die düs­te­re Gleich­för­mig­keit der Küs­te, all das schien mich von der den Din­gen inne­woh­nen­den Wahr­heit abzu­hal­ten und in die Mühen einer trüb­sin­ni­gen und sinn­lo­sen Wahn­vor­stel­lung ein­zu­spin­nen. Die Stim­me der Bran­dung, die ich ab und zu hör­te, war eine freu­di­ge Aus­nah­me und erschien mit wie die Stim­me eines Bru­ders. Sie war etwas Natür­li­ches, das eine Ursa­che und eine Bedeu­tung hat­te. Hin und wie­der ver­mit­tel­te einem ein von der Küs­te kom­men­des Boot einen Augen­blick des Kon­takts mit der Wirk­lich­keit. An den Rudern saßen Schwar­ze. Man konn­te von Fer­ne ihre Aug­äp­fel glän­zen sehen. Sie rie­fen, san­gen; ihre Kör­per waren schweiß­über­strömt; sie hat­ten Gesich­ter wie gro­tes­ke Mas­ken – die­se Bur­schen; aber sie waren kno­chig, mus­ku­lös, voll wil­der Leben­dig­keit und einer inten­si­ven Bewe­gungs­en­er­gie, die so natür­lich und wahr wie die Bran­dung an ihrer Küs­te war. Sie brauch­ten kei­ne arm­se­li­gen Grün­de dafür, am Leben zu sein. Ihr Anblick war ein enor­mer Trost. Eine Wei­le hat­te ich den Ein­druck, immer noch zu einer Welt der ein­fa­chen Tat­sa­chen zu gehö­ren, aber das Gefühl hielt nicht lan­ge an. Irgend­et­was pas­sier­te immer, das es wie­der ver­trieb. Ein­mal, so erin­ne­re ich mich, tra­fen wir auf ein vor der Küs­te ankern­des Kriegs­schiff. Es gab dort nicht ein­mal eine Hüt­te, aber trotz­dem feu­er­ten sei­ne Kano­nen in den Busch. Wie es scheint, führ­ten die Fran­zo­sen irgend­wo da drau­ßen einen ihrer Krie­ge. Die Hoheits­flag­ge hing schlaff her­un­ter wie ein Fet­zen Stoff, die Mün­dun­gen der Sechs­zöl­ler rag­ten über­all aus dem nied­ri­gen Schiffs­rumpf her­aus; die schmie­ri­ge, schleim­be­deck­te Dünung trug das Schiff trä­ge nach oben, ließ es wie­der her­un­ter und brach­te die dün­nen Mas­ten zum Schwan­ken. Da lag es also unbe­greif­lich in der lee­ren Wei­te von Erde, Him­mel und Was­ser und feu­er­te in einen Kon­ti­nent hin­ein. Bumm! mach­te in regel­mä­ßi­gen Abstän­den einer der Sechs­zöl­ler, dann schoss eine klei­ne Flam­me her­aus und ver­schwand wie­der, etwas wei­ßer Rauch lös­te sich auf, ein win­zi­ges Geschoss ließ ein schwa­ches Krei­schen hören – und nichts geschah. Es konn­te auch nichts gesche­hen. Ein Hauch von Wahn­sinn lag in der Vor­ge­hens­wei­se, in dem Anblick ein Gefühl drol­li­ger Schwer­mut; und bei­des lös­te sich auch nicht dadurch in Luft auf, dass mir jemand an Bord ernst­haft ver­si­cher­te, dass sich irgend­wo dort drau­ßen außer Sicht­wei­te ein Lager der Ein­ge­bo­re­nen – er nann­te sie Fein­de! – befand.

Wir über­ga­ben die Post (wie ich hör­te, star­ben die See­leu­te auf jenem ein­sa­men Schiff mit einer Geschwin­dig­keit von drei Mann am Tag) und setz­ten unse­re Rei­se fort. Wir fuh­ren noch wei­te­re Orte mit gro­tes­ken Namen an, wo jeden Tag der glei­che fröh­li­che Toten- und Händ­ler­tanz in einer stil­len und erd­ge­schwän­ger­ten Luft, die der Atmo­sphä­re einer über­hitz­ten Kata­kom­be gleicht, abge­hal­ten wird; die gan­ze Küs­te ent­lang, wo die Bran­dung so gefähr­lich schäumt, als ob Mut­ter Natur selbst die Ein­dring­lin­ge abhal­ten woll­te; in Flüs­se hin­ein und dar­aus her­vor, Todes- und Lebens­strö­me, deren Ufer zu Schlamm ver­mo­der­ten, deren Wäs­ser in schleim­ge­tränk­ter Zähig­keit die ver­zerr­ten For­men der Man­gro­ven bedräng­ten, die sich uns in höchs­ter, aber ohn­mäch­ti­ger Ver­zweif­lung ent­ge­gen­zu­krüm­men schie­nen. Nir­gend­wo anker­ten wir lan­ge genug, um einen beson­de­ren Ein­druck des jewei­li­gen Ortes zu gewin­nen, aber das all­ge­mei­ne Gefühl eines vagen und drü­cken­den Stau­nens über­kam mich immer stär­ker. Die Rei­se war wie eine müh­se­li­ge Pil­ger­fahrt inmit­ten von Zei­chen des Alptraums.

Es soll­ten über drei­ßig Tage ver­ge­hen, bis ich die Mün­dung des gro­ßen Flus­ses sah. Wir anker­ten ange­sichts des Sit­zes der Ver­wal­tung. Mei­ne Arbeit wür­de aller­dings erst etwa zwei­hun­dert Mei­len wei­ter begin­nen. Ich ergriff also so schnell ich konn­te die Gele­gen­heit, um zu einem Ort drei­ßig Mei­len strom­auf­wärts zu kommen.

Die Fahrt ging auf einem klei­nen see­taug­li­chen Dampf­boot. Sein Kapi­tän war ein Schwe­de, und da er wuss­te, dass ich ein See­mann war, lud er mich auf die Brü­cke ein. Er war ein jun­ger Mann, schlank, gut­aus­se­hend und von mür­ri­scher Art. Sein Haar war sträh­nig, sein Gang schlur­fend. Als wir die elen­de klei­ne Anle­ge­stel­le hin­ter uns lie­ßen, mach­te er eine hef­ti­ge ver­ächt­li­che Kopf­be­we­gung in Rich­tung Ufer. “Haben Sie sich hier auf­ge­hal­ten?” frag­te er. “Ja”, ant­wor­te­te ich. “Fei­ne Bur­schen, die­se Herrn Staats­die­ner, oder nicht?” fuhr er fort und sprach dabei ein Eng­lisch von gro­ßer Prä­zi­si­on und beträcht­li­cher Bit­ter­keit. “Schon komisch, was man­che Leu­te für ein paar Franc im Monat so alles anstel­len. Ich frag’ mich nur, was aus die­ser Art Mensch wird, wenn sie ins Lan­des­in­ne­re kommt?” Ich sag­te ihm, dass ich erwar­te­te, über die­se Fra­ge bald mehr zu erfah­ren. “Aha!”, rief er. Er schlurf­te quer­ab durch die Brü­cke, immer ein Auge wach­sam nach vorn gerich­tet. “Sei­en Sie sich da mal nicht zu sicher”, fuhr er fort. “Vor ein paar Tagen hab’ ich einen Mann abge­nom­men, der sich am Stra­ßen­rand auf­ge­han­gen hat­te. Auch ein Schwe­de.” “Auf­ge­han­gen? War­um, in Got­tes Namen?”, rief ich. Er hielt wei­ter wach­sam Aus­schau. “Wer weiß? Viel­leicht war ihm die Son­ne über, viel­leicht das Land.”

Schließ­lich erreich­ten wir einen offe­nen Abschnitt. Ein fel­si­ges Kliff tauch­te auf, gro­ße Erd­ma­le aus Abraum neben dem Ufer, Häu­ser auf einem Hügel, ande­re mit Blech­dä­chern, inmit­ten einer Wild­nis von Gra­bun­gen oder am Hang kle­bend. Ein stän­di­ges, von den ober­halb lie­gen­den Strom­schnel­len kom­men­des Geräusch schweb­te über die­ser Sze­ne­rie von bewohn­ter Ver­wüs­tung. Vie­le Men­schen, meist schwarz und nackt, wim­mel­ten umher wie Amei­sen. Ein Anle­ge­steg erstreck­te sich in den Fluss hin­ein. Eine blen­den­de Son­ne tauch­te all dies von Zeit zu Zeit in einen anfall­ar­tig wie­der­keh­ren­den Aus­bruch von grel­lem Licht. “Da ist die Sta­ti­on Ihrer Gesell­schaft”, sag­te der Schwe­de und zeig­te auf drei höl­zer­ne bara­cken­ar­ti­ge Kon­struk­tio­nen am Fels­hang. “Ich wer­de Ihre Sachen nach oben schi­cken. Vier Kis­ten, haben Sie gesagt? Na, dann. Leben Sie wohl.”

Ich traf auf einen Dampf­kes­sel, der es sich im Gras gut gehen ließ, und fand dann einen Pfad, der den Hügel hin­auf führ­te. Er mach­te eine Bie­gung, wenn ein Fels­bro­cken im Weg lag, aber auch, um einen win­zi­gen Eisen­bahn­kar­ren zu umge­hen, der dort lag und sei­ne Räder in die Luft streck­te. Ein Rad war ab. Das Ding sah so tot aus wie die Lei­che irgend­ei­nes Tie­res. Ich kam an wei­te­re ver­rot­ten­de Maschi­nen­tei­le und einen Sta­pel ros­ti­ger Nägel. Zur Lin­ken spen­de­te eine Baum­grup­pe Schat­ten, in dem sich dunk­le Wesen­hei­ten schwach zu rüh­ren schie­nen. Ich blin­zel­te, der Pfad war steil. Von rechts ertön­te eine Warn­si­re­ne, und ich sah die Schwar­zen ren­nen. Eine hef­ti­ge und dump­fe Explo­si­on erschüt­ter­te den Boden, eine Rauch­wol­ke kam aus dem Kliff, und damit hat­te es sich. Die Ober­flä­che des Fel­sen blieb unver­än­dert. Man bau­te eine Eisen­bahn. Nicht dass das Kliff im Weg gewe­sen wäre, aber außer dem ziel­lo­sen Spren­gen wur­den kei­ne Arbei­ten durchgeführt.

Ein leich­tes Klir­ren hin­ter mir führ­te dazu, dass ich mich umsah. Eine Rei­he von sechs schwar­zen Män­ner, die sich den Hang hin­auf­ar­bei­te­ten, kam auf mich zu. Sie gin­gen auf­ge­rich­tet und lang­sam und balan­cier­ten dabei klei­ne Kör­be vol­ler Erde auf ihren Köp­fen; das Klir­ren ertön­te im Takt ihrer Schrit­te. Um ihre Len­den hat­ten sie schwar­ze Fet­zen gewun­den, deren Enden hin­ter ihnen hin- und her­wa­ckel­ten wie Schwän­ze. Ich konn­te ihre Rip­pen zäh­len, ihre Gelen­ke waren wie Kno­ten in einem Seil; jeder trug einen eiser­nen Ring um den Hals, und alle waren an eine Ket­te ange­schlos­sen, deren durch­hän­gen­de Bögen zwi­schen ihnen schwan­gen und so das Klir­ren erzeug­ten. Eine erneu­te Deto­na­ti­on vom Kliff her ließ mich plötz­lich an jenes Schiff den­ken, dass ich in den Kon­ti­nent hin­ein­feu­ern gese­hen hat­te. Es war die­sel­be Art unheil­ver­kün­den­de Bot­schaft, aber die­se Män­ner hier konn­te man mit der größ­ten Phan­ta­sie nicht als Fein­de betrach­ten. Sie wur­den als Kri­mi­nel­le bezeich­net, und die Furie des Geset­zes war, wie die explo­die­ren­den Gra­na­ten, als unlös­ba­res Rät­sel über das Meer auf sie gekom­men. Ihre mage­ren Brust­kör­be keuch­ten mit gan­zer Kraft im Gleich­takt, die gewei­ter­ten Nüs­tern beb­ten, die Bli­cke gin­gen starr den Hügel hin­auf. Sie pas­sier­ten mich in nicht mehr als sechs Zoll Ent­fer­nung, ohne mich anzu­se­hen, mit jener voll­stän­di­gen, todes­ar­ti­gen Gleich­gül­tig­keit des unglück­li­chen Wil­den. Hin­ter die­sem Roh­ma­te­ri­al schlurf­te mit nie­der­ge­schla­ge­nen Schrit­ten, ein Gewehr in der Hand, einer der bereits Bear­bei­te­ten daher, das Pro­dukt der neu­en hier wir­ken­den Kräf­te. Er trug eine Uni­form­ja­cke, bei der ein Knopf fehl­te, und als er den Wei­ßen am Weges­rand ste­hen sah, schul­ter­te er dienst­eif­rig sein Gewehr. Das war rei­ne Vor­sicht, denn Wei­ße sahen von wei­tem der­art ähn­lich aus, dass er nicht wis­sen konn­te, wer ich wohl sein konn­te. Er war rasch wie­der beru­higt und schenk­te mir ein brei­tes, wei­ßes, schur­ki­sches Grin­sen, das mich, zusam­men mit einem kur­zen Blick auf sei­ne Schütz­lin­ge, auf über­schwäng­li­che Art mit ins Ver­trau­en zu neh­men schien. Schließ­lich war ich, eben­so wie er, Teil der noblen Mis­si­on und kämpf­te für die hoch­ed­le und gerech­te Sache.

Statt dem Pfad wei­ter nach oben zu fol­gen, wand­te ich mich nach links und ging wie­der abwärts. Ich woll­te die Ket­ten­sträf­lin­ge außer Sicht­wei­te haben, bevor ich den Hügel hoch­stieg. Ihr wisst, dass ich nicht beson­ders zart besai­tet bin, ich habe mich unter Umstän­den weh­ren und auch ver­tei­di­gen müs­sen. Manch­mal muss­te ich mich ver­tei­di­gen und zuschla­gen – auch nur eine Art der Ver­tei­di­gung –, ohne über die genau­en Kos­ten nach­zu­den­ken, so war eben das Leben, in das ich hin­ein­ge­stol­pert bin. Der Teu­fel der Gewalt­tä­tig­keit ist mir nicht fremd, auch nicht der Teu­fel der Gier und der Teu­fel der bren­nen­den Begier­de – aber, mei­ne Her­ren!, das hier waren star­ke und tüch­ti­ge Teu­fel mit blut­un­ter­lau­fe­nen Augen, die sich in den Hüf­ten wieg­ten und Men­schen vor sich her­trie­ben – Men­schen, sage ich euch. Aber schon, als ich auf die­sem Hang stand, ahn­te ich, dass ich in dem grel­len Son­nen­schein die­ses Lan­des auch die Bekannt­schaft eines kraft­lo­sen, groß­spu­ri­gen, kurz­sich­ti­gen Teu­fels machen wür­de, der sich durch einen hab­gie­ri­gen und gna­den­lo­sen Wahn­sinn aus­zeich­ne­te. Bis zu wel­chem Maß sei­ne außer­dem vor­han­de­ne Heim­tü­cke reich­te, wür­de ich erst meh­re­re Mona­te und tau­send Mei­len wei­ter erfah­ren. Für einen Moment stand ich vol­ler Ent­set­zen da, als ob ich gewarnt wor­den wäre. Schließ­lich steig ich den Hügel hin­ab und ging auf die Bäu­me zu, die ich gese­hen hatte.

Ich umging ein wei­tes men­schen­ge­mach­tes Loch, das irgend­je­mand in den Hang gegra­ben hat­te, zu wel­chem Zweck, war unmög­lich zu erra­ten. Es war jeden­falls weder eine Mine oder ein Stein­bruch noch eine Sand­gru­be Es war ein­fach nur ein Loch. Mög­li­cher­wei­se hat­te es mit dem men­schen­freund­li­chen Wunsch zu tun, den Kri­mi­nel­len etwas zu tun zu geben, ich weiß es nicht. Dann fiel ich bei­na­he in eine enge Fels­spal­te, wenig mehr als eine Nar­be im Hang. Ich ent­deck­te, dass man eine gro­ße Men­ge von impor­tier­ten Abfluss­roh­ren für die Sied­lung dort hin­ein­ge­wor­fen hat­te. Nicht eines von ihnen war heil geblie­ben. Es war mut­wil­li­ge Zer­stö­rung. End­lich gelang­te ich unter die Bäu­me. Mei­ne Absicht war, für einen Moment im Schat­ten spa­zie­ren zu gehen, aber kaum hat­te ich ihn betre­ten, bekam ich den Ein­druck, in den trost­lo­sen Kreis irgend­ei­ner Höl­le gera­ten zu sein. Die Strom­schnel­len waren nah, und ein unauf­hör­li­cher, gleich­för­mig und wild brau­sen­der Lärm erfüll­te die trüb­sin­ni­ge Stil­le den Hain, in dem sich nicht ein Hauch rühr­te und kein Blatt sich beweg­te, mit einem geheim­nis­vol­len Klang – als ob plötz­lich der rasen­de Schritt der durchs Welt­all geschleu­der­ten Erde selbst hör­bar gewor­den wäre.

Schwar­ze Sil­hou­et­ten kau­er­ten oder lagen am Boden, saßen zwi­schen den Bäu­men, an die Stäm­me gelehnt, klam­mer­ten sich an die Erde, halb sicht­bar, halb ver­schluckt im trü­ben Licht, in allen Hal­tun­gen von Schmerz, Ver­lo­ren­heit und Ver­zweif­lung. Am Kliff ging eine wei­te­re Spreng­la­dung hoch, gefolgt von einem leich­ten Zit­tern der Erde unter mei­nen Füßen. Die Arbei­ten gin­gen vor­an. Die Arbei­ten! Und dies war der Ort, an den sich eini­ge der Hel­fer zum Ster­ben zurück­ge­zo­gen hatten.

Sie star­ben einen lang­sa­men Tod, soviel war klar. Sie waren kei­ne Fein­de, sie waren kei­ne Kri­mi­nel­len, sie waren gar nichts Irdi­sches mehr – nichts als schwar­ze Schat­ten von Krank­heit und Hun­ger­tod, die wild durch­ein­an­der im düs­te­ren grü­nen Licht her­um­la­gen. Aus allen Win­keln der Küs­te voll­kom­men recht­mä­ßig mit Zeit­ver­trä­gen her­bei­ge­schafft, ver­lo­ren in unwirt­li­chen Umstän­den, ernährt mit unge­wohn­tem Essen, wur­den sie krank, waren nicht mehr effi­zi­ent, und dann wur­de ihnen erlaubt, weg­zu­krie­chen und sich aus­zu­ru­hen. Die­se tod­ge­weih­ten Sche­men waren so frei wie die Luft – und bei­na­he so dünn. Ich fing an, das Glän­zen der Augen unter den Bäu­men aus­zu­ma­chen. Dann, beim flüch­ti­gen Blick nach unten, sah ich ein Gesicht neben mei­ner Hand. Die schwar­zen Glie­der lehn­ten in vol­ler Län­ger mit einer Schul­ter gegen den Baum, und lang­sam hoben sich die Augen­li­der und die ein­ge­sun­ke­nen Augen betrach­te­ten mich, rie­sen­groß und leer, mit einer Art blin­dem, wei­ßen Fla­ckern in den Tie­fen der Aug­äp­fel, das lang­sam erstarb. Der Mann schien jung zu sein – fast noch ein Kind –, aber ihr wisst ja, dass man das bei ihnen schwer fest­stel­len kann. Mir fiel nichts ande­res ein, als ihm eines der von dem guten Schwe­den stam­men­den Stü­cke Schiffs­zwie­back anzu­bie­ten, die ich in mei­ner Tasche trug. Die Fin­ger schlos­sen sich lang­sam dar­um und hiel­ten es fest – es gab kei­ne ande­re Bewe­gung und kei­nen wei­te­ren Blick. Er hat­te sich ein Stück wei­ßen Kamm­garn­fa­den um den Hals gebun­den – War­um nur? Wo hat­te er es her? War es ein Abzei­chen – ein Schmuck­stück – ein Talis­man – ein Zei­chen der Ver­söh­nung? Hat­te es über­haupt irgend­ei­nen Sinn? Es mach­te einen ver­blüf­fen­den Ein­druck, wie es da um sei­nen schwar­zen Hals her­um­ge­legt war, die­ses Stück wei­ßen Garns aus Übersee.

Nahe dem­sel­ben Baum saßen zwei oder drei wei­te­re Bün­del von spit­zen Win­keln mit ange­zo­ge­nen Bei­nen auf dem Boden. Einer hat­te sein Kinn auf die Knie gestützt und starr­te auf eine uner­träg­li­che und absto­ßen­de Wei­se ins Nichts, das Phan­tom an sei­ner Sei­te stütz­te sei­ne Stirn, als ob es eine gro­ße Müdig­keit über­kom­men hät­te, und über­all im Umkreis waren ande­re in jeder Art von Ver­ren­kung zusam­men­ge­bro­chen. Es war wie das Bild eines Mas­sa­kers oder einer Pest­epi­de­mie. Wäh­rend ich vom blan­ken Ent­set­zen gepackt dastand, erhob sich eine der Krea­tu­ren auf Hän­den und Knien und krab­bel­te auf allen vie­ren zum Fluss, um dort zu trin­ken. Er leck­te das Was­ser aus der hoh­len Hand und setz­te sich dann im mit gekreuz­ten Bei­nen im Son­nen­schein auf. Nach einer Wei­le ließ er sei­nen Kraus­kopf auf die Brust fallen.

Ich hat­te genug von mei­nem Bum­mel im Schat­ten und mach­te mich eilig auf den Weg zur Sta­ti­on. Nahe den Gebäu­den traf ich auf einen Wei­ßen, der mit einer der­art uner­war­te­ten Ele­ganz geklei­det war, dass ich ihn zunächst für eine Art Visi­on hielt. Ich sah einen hohen gestärk­ten Kra­gen, wei­ße Man­schet­ten, eine leich­te Jacke aus Alpa­ca-Wol­le, schnee­far­be­ne Hosen, eine sau­be­re Kra­wat­te und gewichs­te Stie­fel. Kein Hut. Geschei­tel­te, gekämm­te und geöl­te Haa­re unter einem Son­nen­schirm mit grü­nem Innen­fut­ter, den eine gro­ße, wei­ße Hand hielt. Es war nicht zu fas­sen. Er trug sogar einen Feder­hal­ter hin­ter dem Ohr.

Ich gab die­sem Wun­der­men­schen die Hand und erfuhr, dass es sich bei ihm um den Haupt­buch­hal­ter der Gesell­schaft han­del­te und dass die gesam­te Buch­hal­tung in die­ser Sta­ti­on abge­wi­ckelt wur­de. Er sei für einen Moment her­aus­ge­kom­men, so sag­te er, um ‚etwas Luft zu schnap­pen’. Der Aus­druck mit sei­ner zugrun­de­lie­gen­den Vor­stel­lung eines lang­wei­li­gen Schreib­stu­ben­le­bens wirk­te wun­der­bar depla­ziert. Ich hät­te den Bur­schen gar nicht erwähnt, wäre es nicht von sei­nen Lip­pen gewe­sen, dass ich zum ers­ten Mal den Namen des Man­nes hör­te, der so unauf­lös­lich mit der Erin­ne­rung an jene Zeit ver­bun­den ist. Dar­über hin­aus ver­spür­te ich Respekt für den Kerl. Ja doch: Ich hat­te Respekt vor sei­nem Kra­gen, sei­nen rie­si­gen Man­schet­ten, sei­nem gekämm­ten Haar. Er sah zwei­fel­los aus wie eine Fri­seur­pup­pe, aber in den Umstän­den größ­ter Demo­ra­li­sie­rung, die in dem Land herrsch­ten, schaff­te er es, die For­men zu wah­ren. Das nen­ne ich Rück­grat. Sei­ne gestärk­ten Kra­gen und gecken­haf­ten Hemd­brüs­te waren ein Zei­chen von Cha­rak­ter. Er war seit fast drei Jah­ren hier drau­ßen, und spä­ter konn­te ich nicht anders als ihn fra­gen, wo er wohl die­se Qua­li­tät an Lei­nen her­be­kom­me. Er errö­te­te nur eine win­zi­ge Spur und sag­te beschei­den: ‚Ich habe es einer der Ein­ge­bo­re­nen­frau­en, die hier um die Sta­ti­on her­um leben, bei­gebracht. Es war schwie­rig. Sie moch­te die Arbeit nicht.’ Die­ser Mann hat­te also wirk­lich etwas erreicht. Und er wid­me­te sich mit Hin­ga­be sei­nen Büchern, die pein­lich genau geführt waren.

Alles ande­re in der Sta­ti­on war ein ein­zi­ges Durch­ein­an­der – Köp­fe, Din­ge, Gebäu­de. Lan­ge Rei­hen staub­be­deck­ter Nig­ger mit Spreiz­fü­ßen kamen und gin­gen; ein Strom von Fer­tig­wa­ren, min­der­wer­ti­ge Baum­woll­stof­fe, Glas­per­len und Mes­sing­draht, ergoss sich in die Tie­fen der Fins­ter­nis, und als Gegen­leis­tung tröp­fel­te ein kost­ba­res Rinn­sal von Elfen­bein herein.

Ich muss­te zehn Tage lang in der Sta­ti­on war­ten – eine Ewig­keit. Ich war in einer Hüt­te im Hof unter­ge­bracht, aber um dem Cha­os zu ent­kom­men, mach­te ich mich manch­mal im Büro des Buch­hal­ters zu schaf­fen. Es bestand aus hori­zon­ta­len Bret­tern und war so schlecht gebaut, dass er, wenn er sich über sein Pult lehn­te, von Kopf bis Fuß von einem Git­ter aus schma­len Strei­fen Son­nen­licht bedeckt wur­de. Man muss­te nicht erst den gro­ßen Fens­ter­la­den öff­nen, um etwas sehen zu kön­nen. Heiß war es auch dort drin­nen; gro­ße Flie­gen saus­ten dia­bo­lisch sur­rend umher und sta­chen nicht, son­dern ver­setz­ten Dolch­stö­ße. Ich saß in der Regel auf dem Boden, wäh­rend er, mit makel­lo­sen Äuße­ren (und sogar leicht par­fü­miert) auf einem hohen Sche­mel saß und schrieb und schrieb. Manch­mal stand er auf, um sich etwas Bewe­gung zu ver­schaf­fen. Als ein Roll­bett mit einem Kran­ken (irgend­ein dienst­un­fä­hi­ger Agent aus dem Lan­des­in­ne­ren) dort auf­ge­stellt wur­de, zeig­te er mil­de Ver­är­ge­rung. ‚Das Stöh­nen die­ses kran­ken Men­schen’, sag­te er, ‚beein­träch­tigt mei­ne Kon­zen­tra­ti­on. Und ohne die ist es aus­ge­spro­chen schwie­rig, sich in die­sem Kli­ma vor Schreib­feh­lern zu schützen.’

Eines Tages bemerk­te er, ohne dabei den Kopf zu heben: ‚Im Lan­des­in­ne­ren wer­den Sie sicher Mon­sieur Kurtz begeg­nen.’ Auf mei­ne Fra­ge, wer denn Mon­sieur Kurtz sei, ant­wor­te­te er, dass es sich um einen erst­klas­si­gen Agen­ten han­de­le. Als er mei­ne Ent­täu­schung über die­se Infor­ma­ti­on sah, füg­te er lang­sam hin­zu, wäh­rend er sei­ne Feder hin­leg­te: ‚Er ist ein sehr bemer­kens­wer­ter Mensch.’ Durch wei­te­re Fra­gen war ihm zu ent­lo­cken, dass Mon­sieur Kurtz zur­zeit einen Han­dels­pos­ten lei­te­te, einen sehr wich­ti­gen, tief im ech­ten Elfen­bein­land, ‚so tief, wie es nur geht. Schickt uns so viel Elfen­bein wie alle ande­ren zusam­men …’ Er begann wie­der zu schrei­ben. Dem Kran­ken ging es zu schlecht, um zu stöh­nen. Die Flie­gen surr­ten voll Friedfertigkeit.

Plötz­lich erhob sich ein anwach­sen­des Gemur­mel von Stim­men und ein lau­tes Tram­peln von Füßen. Eine Kara­wa­ne war ange­kom­men. Auf der ande­ren Sei­te der Bret­ter brach ein hef­ti­ges, unge­ho­bel­tes Stimm­ge­wirr aus. Alle Trä­ger rede­ten durch­ein­an­der, und inmit­ten des Auf­ruhrs war die jäm­mer­li­che, den Trä­nen nahe Stim­me des Haupt­agen­ten zu hören, der es zum zwan­zigs­ten Mal an dem Tag ‚auf­ge­ben’ woll­te.… Er erhob sich lang­sam. ‚Was für ein schreck­li­cher Auf­stand’, sag­te er. Er durch­quer­te behut­sam den Raum, um nach dem kran­ken zu sehen. Als er zurück­kam, sag­te er zu mir: ‚Er hört nichts.’ ‚Was! Tot?’, frag­te ich erschro­cken. ‚Nein, noch nicht’, ant­wor­te­te er mit gro­ßer Beherr­schung. Dann, mit einer Kopf­be­we­gung auf den Tumult im Hof der Sta­ti­on deu­tend: ‚Wenn man auf die Kor­rekt­heit sei­ner Ein­trä­ge ach­ten muss, fängt man an, die­se Wil­den zu has­sen – bis aufs Blut zu has­sen.’ Er war für einen Moment nach­denk­lich. ‘Wenn Sie Mon­sieur Kurtz sehen’, fuhr er fort, ‚bestel­len Sie ihm von mir, dass alles hier’ – er blick­te kurz auf die Veran­da – ‚sehr zufrie­den­stel­lend ver­läuft. Ich möch­te ihm ungern schrei­ben – bei unse­ren Boten ist man nie sicher, wer solch einen Brief in die Hän­de bekommt, dort in der Haupt­sta­ti­on.’ Er starr­te mich einen Moment lang mit sei­nen sanf­ten, her­vor­tre­ten­den Augen an. ‚Oh, er wird es noch weit brin­gen, sehr weit’, fing er wie­der an. ‚Es wird nicht mehr lan­ge dau­ern, bis er ein wich­ti­ger Mann in der Ver­wal­tung ist. Ganz weit oben – im Ver­wal­tungs­rat in Euro­pa, sie wis­sen schon – wünscht man es so.’

Er wand­te sich wie­der sei­ner Arbeit zu. Der Lärm drau­ßen hat­te geen­det, und beim Hin­aus­ge­hen hielt ich kurz in der Tür inne. Im ste­ti­gen Sur­ren der Flie­gen lag der Agent auf Heim­rei­se in sei­nem Bett, am Ende sei­ner Kräf­te und emp­fin­dungs­los; der ande­re, über sei­ne Bücher gebeugt, mach­te kor­rek­te Ein­trä­ge für abso­lut kor­rek­te Trans­ak­tio­nen; und fünf­zig Fuß unter­halb der Tür­schwel­le konn­te ich die unbe­weg­li­chen Baum­spit­zen des Todes­hains sehen.

Am nächs­ten Tag ver­ließ ich die Sta­ti­on mit einer Kara­wa­ne von sech­zig Män­nern und mach­te mich auf einen zwei­hun­dert Mei­len lan­gen Fußmarsch.

Sinn­los, euch viel dar­über zu erzäh­len. Tram­pel­pfa­de, nichts als Tram­pel­pfa­de: ein in den Boden gestampf­tes Netz von Wegen, die sich über das lee­re Land aus­brei­te­ten, durch das lan­ge Gras, durch ver­dörr­tes Gras, durch das Dickicht, fros­tig kal­te Schluch­ten hin­auf und wie­der hin­ab, stei­ni­ge, von der Hit­ze ver­brann­te Hügel hin­auf und wie­der hin­ab – und eine Ein­sam­keit, eine Ein­sam­keit – nie­mand, nicht ein­mal eine Hüt­te. Die Bevöl­ke­rung hat­te die Gegend schon vor lan­ger Zeit ver­las­sen. Na ja, wenn eine Men­ge geheim­nis­vol­ler, mit allen Arten von furcht­erre­gen­den Waf­fen aus­ge­rüs­te­ter Nig­ger plötz­lich auf die Idee käme, die Stra­ße zwi­schen Deal und Grave­send zu berei­sen und die Ein­hei­mi­schen vom Stra­ßen­rand auf­zu­grei­fen, um sie schwe­re Las­ten tra­gen zu las­sen, neh­me ich doch an, dass dort sehr bald jeder Bau­ern­hof und jedes Dorf ver­las­sen dalie­gen wür­de. Nur, dass hier auch noch die Gebäu­de ver­schwun­den waren. Es gab aller­dings noch eini­ge ver­las­se­ne Dör­fer, durch die wir kamen. Die Rui­nen von Wän­den aus Gras haben so etwas rüh­rend Kin­di­sches an sich. Tag­aus, tag­ein das Stamp­fen und Schlur­fen von sech­zig Paar nack­ter Füße hin­ter mir, jedes davon unter 60 Pfund Gewicht. Kam­pie­ren, kochen, schla­fen, Lager abbre­chen, mar­schie­ren. Ab und zu ein Trä­ger tot in den Gur­ten, ruhend im lan­gen Grass neben dem Weg, mit einer lee­ren Kür­bis­fla­sche und dem lan­gen Stock an sei­ner Sei­te. Eine gro­ße Stil­le erfüll­te das Land. Viel­leicht ein­mal in einer ruhi­gen Nacht das Beben weit ent­fern­ter Trom­meln, absin­kend, anschwel­lend, ein wei­tes, lei­ses Beben; ein Klang, selt­sam, lockend, andeu­tungs­voll und wild – und viel­leicht von so tie­fer Bedeu­tung wie der Klang von Glo­cken in einem christ­li­chen Land. Ein­mal ein Wei­ßer in einer auf­ge­knöpf­ten Uni­form, der am Weges­rand mit einer bewaff­ne­ten Eskor­te hager auf­ge­schos­se­ner San­si­bar­ne­ger kam­pier­te, sehr gast­freund­lich und zum Fei­ern auf­ge­legt – um nicht zu sagen: betrun­ken. Er küm­me­re sich um die Instand­hal­tung der Stra­ße, so erklär­te er. Ich kann nicht behaup­ten, irgend­ei­ne Stra­ße oder irgend­ei­ne Instand­hal­tung gese­hen zu haben, es sei den die Lei­che eines Negers mitt­le­ren Alters mit einem Ein­schuss­loch in der Stirn, über den ich drei Mei­len wei­ter tat­säch­lich stol­per­te, wäre als Aus­bau­maß­nah­me anzu­se­hen gewe­sen. Ein Wei­ßer war auch mit mir unter­wegs, kein übler Busche, aber ein wenig zu gut im Fut­ter, und er hat­te die ärger­li­che Ange­wohn­heit, auf den hei­ßen Abhän­gen der Hügel ohn­mäch­tig zu wer­den, mei­len­weit weg vom kleins­ten biss­chen Schat­ten und Was­ser. Läs­ti­ge Ange­le­gen­heit, sage ich euch, jeman­dem den eige­nen Rock wie einen Son­nen­schirm über den Kopf zu hal­ten, wäh­rend er wie­der zu sich kommt. Ein­mal konn­te ich es mir nicht ver­knei­fen, ihn zu fra­gen, war­um er über­haupt dort war. ‚Um Geld zu ver­die­nen natür­lich. Was haben Sie denn gedacht?’, sag­te er ver­ächt­lich. Dann bekamt er Fie­ber und muss­te in einer Hän­ge­mat­te, die man an einer Holz­stan­ge auf­häng­te, getra­gen wer­den. Da er über zwei­hun­dert Pfund wog, nahm der Ärger mit den Trä­gern kein Ende. Sie sträub­ten sich, rann­ten weg, schli­chen nachts mit ihren Las­ten weg – eine rich­ti­ge Meu­te­rei. Eines Abends also hielt ich eine Rede in Eng­lisch und mach­te bedeut­sa­me Ges­ten, von denen nicht eine den sech­zig Augen­paa­ren vor mir ent­ging, und am nächs­ten Mor­gen gelangt es mir tat­säch­lich, die Hän­ge­mat­te gleich als ers­tes vor­aus­zu­schi­cken. Eine Stun­de traf ich auf die gan­ze Ange­le­gen­heit, die in einem Busch Schiff­bruch erlit­ten hat­te – Mann, Hän­ge­mat­te, Stöh­nen, Decken, grau­en­voll. Der schwe­re Stock hat­te sei­ne arme Nase in eine Schürf­wun­de ver­wan­delt. Er woll­te unbe­dingt, dass ich irgend­je­man­den umbräch­te, aber in der Nähe zeig­te sich nicht der Schat­ten eines Trä­gers. Ich dach­te an den alten Arzt – ‚Es wäre für die Wis­sen­schaft von Inter­es­se, die geis­ti­gen Ände­run­gen bei ein­zel­nen Men­schen zu prü­fen, an Ort und Stel­le.’ –, und hat­te das Gefühl, zu einem loh­nen­den Stu­di­en­ob­jekt zu wer­den. Aber das gehört eigent­lich alles gar nicht hier­her. Am fünf­zehn­ten Tag kam wie­der der gro­ße Fluss in Sicht, und ich hum­pel­te in die Haupt­sta­ti­on hin­ein. Sie lag an einem Alt­arm und war von Gestrüpp und Wald umge­ben; auf der einen Sei­te grenz­te sie an eine hüb­sche Bar­rie­re aus übel­rie­chen­dem Schlamm, auf den drei ande­ren war sie von einem absur­den Umzäu­nung aus Bin­sen umge­ben. Ein ver­wahr­los­ter Durch­lass war alles, was an Toren vor­han­den war, und ein ers­ter flüch­ti­ger Blick genüg­te, um zu sehen, dass hier der kraft­lo­se Teu­fel das Regi­ment hat­te. Wei­ße mit lan­gen Knüp­peln in der Hand tauch­ten trä­gen Schrit­tes zwi­schen den Gebäu­den auf und kamen her­über­ge­schlen­dert, um einen Blick auf mich zu wer­fen, dann zogen sie sich wie­der nach irgend­wo­hin außer Sicht­wei­te zurück. Eine vor ihnen, ein stäm­mi­ger, leicht erreg­ba­rer Bur­sche mit schwar­zem Schnauz­bart, infor­mier­te mich, sobald ich ihm gesagt hat­te, wer ich war, mit gro­ßer Red­se­lig­keit und vie­len Abschwei­fun­gen dar­über, dass mein Dampf­boot auf dem Grund des Flus­ses lag. Ich war wie vom Don­ner gerührt. Was, wie, war­um? Oh, aber es war ‚alles in Ord­nung’. Der ‚Direk­tor selbst’ war anwe­send. Alles voll­kom­men kor­rekt. ‚Alle haben sich groß­ar­tig gehal­ten! Ein­fach groß­ar­tig!’ – ‚Sie müs­sen’, sag­te er auf­ge­regt, ‚sofort den Gene­ral­di­rek­tor auf­su­chen. Er war­tet schon.’

Ich begriff nicht sofort, was die­ses Schiffs­un­glück bedeu­te­te. Ich neh­me mal an, jetzt begrei­fe ich es, aber sicher bin ich mir da nicht – über­haupt nicht. Sicher war die Ange­le­gen­heit zu dumm – ins­ge­samt gese­hen –, um ganz natür­li­che Ursa­chen zu haben. Ande­rer­seits … In dem Augen­blick stell­te sie sich jeden­falls ein­fach als ver­damm­tes Ärger­nis dar. Das Dampf­boot war gesun­ken. Man war vor zwei Tagen in plötz­li­cher Eile mit dem Direk­tor an Bord fluss­auf­wärts los­ge­fah­ren, unter dem Kom­man­do irgend­ei­nes Ama­teur­ka­pi­täns, und kei­ne drei Stun­den nach Able­gen war man auf Fel­sen gelau­fen und hat­te den Boden auf­ge­ris­sen, sodass es nahe dem Süd­ufer gesun­ken war. Ich frag­te mich, was ich dort noch soll­te, jetzt wo mein Boot ver­lo­ren gegan­gen war. Tat­säch­lich hat­te ich aber alle Hän­de voll damit zu tun, das mir über­tra­ge­ne Kom­man­do aus dem Fluss zu fischen. Schon am nächs­ten Tag muss­te ich damit begin­nen. Dies, zusam­men mit den nach Ber­gung der Ein­zel­tei­le in der Sta­ti­on zu erle­di­gen­den Repa­ra­tu­ren, nahm eini­ge Mona­te in Anspruch.

Mein ers­tes Gespräch beim Direk­tor ver­lief eigen­ar­tig. Er bot mir nicht an, mich zu set­zen, obwohl ich doch einen Marsch von zwan­zig Mei­len absol­viert hat­te an jenem Mor­gen. Far­be und Schnitt sei­nes Gesichts, sei­ne Manie­ren, sei­ne Stim­me waren von gro­ßer Durch­schnitt­lich­keit. Er war von mitt­le­rer Grö­ße und nor­ma­ler Sta­tur. Sei­ne Augen, wie gewöhn­lich blau, waren viel­leicht außer­ge­wöhn­lich kalt, und mit Sicher­heit konn­te er Bli­cke aus­tei­len, die so scharf und schwer waren wie ein Fall­beil. Aber selbst dann schien der Rest sei­ner Per­son die­se Hal­tung Lügen zu stra­fen. Davon abge­se­hen lag nur ein unde­fi­nier­ba­rer, vager Aus­druck auf sei­nen Lip­pen, irgend­et­was ver­stoh­le­nes – ein Lächeln – kein Lächeln – ich kann mich dar­an erin­nern, erklä­ren kann ich es nicht. Es was unbe­wusst, die­ses Lächeln, aber wenn er gera­de etwas gesagt hat­te, wur­de es für einen Moment inten­si­ver. Es beschloss sei­ne Anspra­chen wie ein auf die Wor­te gedrück­tes Sie­gel, durch das die größ­ten All­ge­mein­plät­ze eine voll­kom­men rät­sel­haf­te Bedeu­tung annah­men. Er war ein gewöhn­li­cher Händ­ler, der seit sei­ner Jugend in die­sem Teil der Welt arbei­te­te – wei­ter nichts. Man befolg­te sei­ne Befeh­le, aber er weck­te weder Lie­be noch Hass, noch hat­te man auch nur Respekt vor ihm. Was man in sei­ner Gegen­wart ver­spür­te, war Unbe­ha­gen. Das war es! Unbe­ha­gen. Kein tat­säch­li­ches Miss­trau­en – nur Unbe­ha­gen, wei­ter nichts. Ihr glaubt gar nicht, wie wirk­sam eine sol­che … na ja … Bega­bung sein kann. Er hat­te kei­ner­lei Orga­ni­sa­ti­ons­ta­lent, zeig­te kei­ne Initia­ti­ve und konn­te auch kei­ne Befeh­le geben. Das zeig­te sich an Sachen wie dem trau­ri­gen Zustand, in dem sich die Sta­ti­on befand. Er war weder gebil­det noch intel­li­gent. Er war an sei­ne Stel­lung gekom­men – wie? Weil er nie krank wur­de… Er hat­te drei­mal einen Drei­jah­res­tur­nus dort drau­ßen absol­viert … Denn eine äußerst robus­te Kon­sti­tu­ti­on stellt inmit­ten des all­ge­mei­nen gesund­heit­li­chen Zusam­men­bruchs schon eine Art Leis­tung dar. Wenn er auf Hei­mat­ur­laub war, ließ er die Pup­pen tan­zen – mit allen Schi­ka­nen. Ein See­mann auf Land­gang – ein ganz beson­de­rer natür­lich – und nur dem äuße­ren Anschein nach. Soviel ließ sich aus sei­nen bei­läu­fi­gen Bemer­kun­gen erschlie­ßen. Er hat­te kei­ner­lei Ideen, er konn­te nur den Rou­ti­ne­be­trieb ver­wal­ten – das war alles. Aber er hat­te etwas Groß­ar­ti­ges. Sei­ne Groß­ar­tig­keit bestand aus einem win­zi­gen Detail: der Unmög­lich­keit her­aus­zu­fin­den, was einen sol­chen Men­schen im Zaum hal­ten konn­te. Die­ses Geheim­nis ver­riet er nie. Viel­leicht gab es in ihm ein­fach nichts der­ar­ti­ges. Ein sol­cher Ver­dacht gab einem zu Den­ken – denn exter­ne Schran­ken gab es dort drau­ßen nicht. Ein­mal, als ver­schie­de­ne Tro­pen­krank­hei­ten fast alle ‚Agen­ten’ der Sta­ti­on ans Bett fes­sel­ten, hör­te man ihn sagen: ‚Wer hier her­kommt, darf kei­ne inne­ren Orga­ne haben.’ Er ver­sie­gel­te die­se Äuße­rung mit dem besag­ten Lächeln, als ob sie die Pfor­te zu einer Fins­ter­nis, die er tief in sich trug, geöff­net hät­te. Man hat­te das Gefühl, etwas gese­hen zu haben – aber dann war schon das Sie­gel wie­der dar­auf. Als ihn der ewi­ge Streit der Wei­ßen um die Sitz­ord­nung bei den Mahl­zei­ten ver­är­ger­te, befahl der die Anfer­ti­gung einer enor­men Tafel­run­de, für die ein beson­de­res Haus gebaut wer­den muss­te. Das war dann die Sta­ti­ons­mes­se. Wo er saß, war der Fürs­ten­platz – alle ande­ren saßen im Nichts. Man hat­te den Ein­druck, dies sei sei­ne unab­än­der­li­che Über­zeu­gung. Er war weder höf­lich noch unhöf­lich. Er war ruhig. Er erlaub­te sei­nem ‚Boy’, einem über­ge­wich­ti­gen jun­gen Neger von der Küs­te, die Wei­ßen vor sei­nen eige­nen Augen mit pro­vo­zie­ren­der Frech­heit zu behandeln.

Er begann zu spre­chen, sobald er mich sah. Ich sei sehr lan­ge unter­wegs gewe­sen. Er habe nicht war­ten kön­nen und ohne mich los­ge­musst. Die fluss­auf­wärts lie­gen­den Sta­ti­on hät­ten ver­sorgt wer­den müs­sen. Es habe vor­her schon so vie­le Ver­zö­ge­run­gen gege­ben, dass er nicht wis­se, wer noch am Leben sei und wer nicht, und wie alles vor­an­gin­ge – und so wei­ter und so fort. Er beach­te­te mei­ne Erklä­run­gen gar nicht und wie­der­hol­te, wäh­rend er mit einer Stan­ge Sie­gel­lack spiel­te, meh­re­re Male, die Situa­ti­on sei ‚sehr, sehr ernst’. Es gebe Gerüch­te, dass eine sehr wich­ti­ge Sta­ti­on in Gefahr sei, und ihr Lei­ter, Mon­sieur Kurtz, krank. Er hof­fe, dass dies nicht wahr sei. Mon­sieur Kurtz sei … Ich war müde und gereizt. Zur Höl­le mit Kurtz, dach­te ich. Ich unter­brach ihn mit der Bemer­kung, bereits an der Küs­te von Mon­sieur Kurtz gehört zu haben. ‚Ach! Man spricht also dort unten über ihn’, mur­mel­te er vor sich hin. Dann fing er wie­der an und ver­si­cher­te mir, Mon­sieur Kurtz sei der bes­te Agent, den er habe, ein außer­ge­wöhn­li­cher Mann, von aller­größ­ter Bedeu­tung für die Gesell­schaft; daher kön­ne ich sei­ne Besorg­nis sicher ver­ste­hen. Er sei, so sag­te er, ‚sehr, sehr unru­hig.’ Er zap­pel­te jeden­falls ziem­lich auf sei­nem Stuhl her­um, rief ‚Ach, Mon­sieur Kurtz!’, brach die Stan­ge Sie­gel­lack ent­zwei und schien ange­sichts des Unfalls völ­lig ent­geis­tert. Als nächs­tes woll­te er wis­sen, wie lan­ge es wohl dau­ern wür­de, um … Ich unter­brach ihn erneut. Ich hat­te Hun­ger, ihr ver­steht schon, und durf­te mich nicht setz­ten. Also wur­de ich böse. ‚Woher soll ich das wis­sen?’, sag­te ich. ‚Ich habe das Wrack noch nicht ein­mal gese­hen – ein paar Mona­te auf jeden Fall.’ Das gan­ze Gere­de schien mir so sinn­los. ‚Ein paar Mona­te’, sag­te er. ‚Nun, dann sagen wir mal drei Mona­te, bevor es wie­der los­geht. Ja, das soll­te genü­gen.’ Ich stürz­te aus sei­ner Hüt­te (er leb­te allein in einer Lehm­hüt­te mit einer Art Veran­da), mei­ne Mei­nung über ihn vor mich hin­mur­melnd: ein Schwatz­kopf! Spä­ter nahm ich das wie­der zurück, als ich mit Erstau­nen immer mehr erken­nen muss­te, wie extrem genau er die für die ‚Ange­le­gen­heit’ erfor­der­li­che Zeit­span­ne ein­ge­schätzt hatte.

Am nächs­ten Tag mach­te ich mich an die Arbeit und wand­te dabei sozu­sa­gen der Sta­ti­on den Rücken zu. Nur so schien es mir mög­lich zu sein, mei­ne Ver­bin­dung zur erlö­sen­den Welt der Tat­sa­chen nicht zu ver­lie­ren. Manch­mal muss­te man sich aller­dings umdre­hen, und dann sah ich die­se Sta­ti­on, die­se Män­ner, wie sie ziel­los im son­nen­be­schie­ne­nen Hof umher­schlen­der­ten. Manch­mal frag­te ich mich, was das alles bedeu­ten soll­te. Sie wan­der­ten mal hier­hin, mal dort­hin, mit ihren alber­nen lan­gen Knüp­peln in der Hand, wie eine Rei­he vom Glau­ben abge­fal­le­ner Pil­ger, die ein magi­scher Bann inner­halb der ver­fal­le­nen Umzäu­nung gefan­gen hielt. Das Wort ‚Elfen­bein’ hing in der Luft, ein Flüs­tern, ein Seuf­zer. Man hät­te mei­nen kön­nen, sie bete­ten es an. Eine Pri­se stumpf­sin­ni­ger Hab­gier umweh­te das Gan­ze wie ein Hauch Lei­chen­ge­ruch. Mei­ne Her­ren! Etwas der­ar­tig Unwirk­li­ches ist mir noch nie im Leben begeg­net. Und die stil­le Wild­nis drau­ßen, die die­sen gero­de­ten Fleck Erde umring­te, erschien mir plötz­lich groß und unbe­sieg­bar, wie das Böse oder die Wahr­heit selbst, gedul­dig dar­auf war­tend, dass die­se bizar­re Inva­si­ons­ar­mee wei­ter­zie­hen würde.

Ach, die­se Mona­te! Na ja, Schwamm drü­ber. Ver­schie­de­nes pas­sier­te. Ein­mal brach abends in einer Grass­hüt­te, die vol­ler indi­schem Tuch, bedruck­ten Baum­woll­stof­fen, Glas­per­len und was sonst noch allem steck­te, der­art blitz­ar­tig ein Brand aus, dass man mein­te, die Erde hät­te sich auf­ge­tan, um den gan­zen Plun­der vom rächen­den Feu­er ver­zeh­ren zu las­sen. Ich saß neben den Ein­zel­tei­len mei­nes Dampf­boots, rauch­te mei­ne Pfei­fe und sah ihnen allen dabei zu, wie sie im Feu­er­schein mit nach oben gewor­fe­nen Hän­den Luft­sprün­ge voll­führ­ten, als der Stäm­mi­ge mit Schnauz­bart mit einem Blech­ei­mer in der Hand her­un­ter zum Fluss kam, mir ver­si­cher­te, dass sich alle ‚groß­ar­tig’ hiel­ten, ‚ein­fach groß­ar­tig!’, den Eimer mit einer Vier­tel­gal­lo­ne Was­ser füll­te und zurück­stürz­te. Mir ent­ging nicht, dass der Eimer im Boden ein Loch hatte.

Ich schlen­der­te hin­über. Eile war nicht ange­bracht, schließ­lich war das Ding in Flam­men auf­ge­gan­gen wie eine Streich­holz­schach­tel. Es war von Anfang an ein hoff­nungs­lo­ser Fall. Die Flam­men waren hoch empor­ge­schos­sen, hat­ten alle zurück­wei­chen las­sen, alles in Brand gesetzt – und waren dann in sich zusam­men­ge­fal­len. Die Hüt­te hat­te sich schon in einen Hau­fen sen­gen­der Glut ver­wan­delt. In der Nähe wur­de ein Nig­ger geprü­gelt. Man sag­te, er hät­te das Feu­er irgend­wie zu ver­ant­wor­ten; wie auch immer, in jedem Fall schrie er gotts­er­bärm­lich. Spä­ter sah ich, wie er meh­re­re Tage lang an einem schat­ti­gen Fle­cken saß, sehr krank aus­sah und ver­such­te, wie­der auf die Bei­ne zu kom­men; schließ­lich stand er auf und ging – zurück in die Wild­nis, die ihn ohne ein Geräusch zu machen wie­der in ihren Busen schloss. Als ich mich der Glut aus dem Dun­keln her­aus näher­te, fand ich mich hin­ter zwei Män­nern wie­der, die eine Unter­hal­tung führ­ten. Ich hör­te den Namen Kurtz fal­len, dann die Wor­te: ‚die­sen unglück­li­chen Unfall aus­nut­zen.’ Einer der Män­ner war der Direk­tor. Ich wünsch­te ihm einen guten Abend. ‚Haben Sie so etwas schon ein­mal gese­hen – ha? Unglaub­lich …’, sag­te er und ging weg. Der ande­re blieb da. Er war ein Agent ers­ter Klas­se, jung, von vor­nehm-ade­li­ger Art, ein wenig reser­viert; sein Gesicht zier­ten ein klei­ner Gabel­bart und eine Krumm­na­se. Den ande­ren Agen­ten gegen­über trug er die Nase hoch, und die wie­der­um sag­ten, er sei der Spi­on des Direk­tors. Was mich anging, hat­te mich kaum je vor­her mit ihm unter­hal­ten. Wir kamen ins Gespräch, und mit der Zeit spa­zier­ten wird von den zischen­den Über­res­ten der Hüt­te weg. Dann bat er mich in sei­ne Kam­mer, die sich im Haupt­ge­bäu­de der Sta­ti­on befand. Er zün­de­te ein Streich­holz an, und so wur­de ich gewahr, dass die­ser jun­ge Aris­to­krat nicht nur eine sil­ber­be­schla­ge­ne Wäsche­tru­he, son­dern auch eine gan­ze Ker­ze ganz für sich allein hat­te. Genau zu die­ser Zeit war nur der Direk­tor über­haupt berech­tigt, Ker­zen zu ver­wen­den. Die Lehm­wän­de waren mit Ein­ge­bo­re­nen­mat­ten und einer Tro­phä­en­samm­lung von Spee­ren, Asse­gai-Spie­ßen, Schil­dern und Mes­sern behängt. Ver­ant­wort­lich war der Bur­sche für die Her­stel­lung von Zie­gel­stei­nen – so hat­te man mir gesagt; aber nir­gend­wo in der Sta­ti­on gab es auch nur den Split­ter eines Zie­gel­steins, und er war schon über ein Jahr dort – und war­te­te immer noch. Wie es schien, brauch­te er noch irgend­et­was, um Zie­gel­stei­ne her­zu­stel­len, ich weiß nicht was – viel­leicht Stroh. Wie auch immer, dort gab es die­ses Etwas nicht, und da man es sicher nicht aus Euro­pa schi­cken wür­de, war mir nicht klar, wor­auf er noch war­te­te. Viel­leicht auf eine spe­zi­el­le Art der Urzeu­gung. Sie war­te­ten aller­dings alle auf etwas – alle sech­zehn oder zwan­zig Pil­ger gemein­sam; und mein Wort dar­auf, wenn man die Art betrach­te­te, wie sie damit umgin­gen, schien es kei­ne unan­ge­neh­me Beschäf­ti­gung zu sein, obwohl sie nie etwas ande­res beka­men als eine Krank­heit an den Hals – jeden­falls, soweit ich das über­se­hen konn­te. Sie ver­trie­ben sich die Zeit durch üble Nach­re­de und alber­ne Intri­gen. Ein Hauch von Rän­ke­schmie­de lag über der Sta­ti­on, aber natür­lich kam nie etwas dabei her­aus. Es war so unwirk­lich wie alles ande­re auch – wie der men­schen­freund­li­che Vor­wand der gan­zen Unter­neh­mung, wie ihr Gere­de, wie ihre Staats­die­ner, wie ihr vor­ge­täusch­tes Arbei­ten. Ihr ein­zi­ges wirk­li­ches Anlie­gen war es, auf eine Han­dels­sta­ti­on ver­setzt zu wer­den, wo es Elfen­bein gab, damit sie in den Genuss von Pro­vi­si­on kamen. Sie intri­gier­ten und übten sich in Ver­leum­dung und hass­ten sich alle des­we­gen – aber tat­säch­lich mal einen Fin­ger zu rüh­ren – oh, nein. Du mei­ne Güte!, es gibt wohl etwas in der Welt, dass dem einen Men­schen einen Pfer­de­dieb­stahl durch­ge­hen lässt, wäh­rend der ande­re nicht mal ein Half­ter anse­hen darf. Offe­ner Pfer­de­dieb­stahl. Nun denn. Er hat es getan???. Viel­leicht kann er rei­ten. Aber es gibt eine Art, ein Half­ter anzu­bli­cken, dass den wohl­mei­nends­ten aller Hei­li­gen zu einem Fuß­tritt ver­lei­ten würde.

Ich hat­te kei­ne Ahnung, war­um er so gesel­lig gestimmt war, aber wäh­rend des Plau­derns dort drin­nen kam mir der Gedan­ke, dass der Bur­sche auf etwas aus war – mich aus­zu­quet­schen näm­lich. Er spiel­te dau­ernd auf Euro­pa und die Leu­te, die ich dort ken­nen wür­de, an – stell­te Sug­ges­tiv­fra­gen??? hin­sicht­lich mei­ner Bekann­ten in der Grab­mal-Stadt und so wei­ter. Sei­ne Augen schim­mer­ten wie mit Leucht­stoff unter­legt – vor Neu­gier –, obwohl er ver­such­te, sei­ne Hoch­nä­sig­keit nicht ganz zu ver­lie­ren. Zuerst war ich über­rascht, aber bald über­kam mich eine furcht­ba­re Neu­gier, was er wohl von mir wis­sen wol­le. Ich konn­te mir über­haupt nicht vor­stel­len, etwas zu ver­ber­gen zu haben, das der Mühe wert war, die er auf­wand­te. Es war herr­lich mit anzu­se­hen, wie er sich selbst über­lis­te­te, denn in Wirk­lich­keit ver­barg ich nur ein stän­di­ges Frös­teln, und in mei­nem Kopf befand sich nichts außer der ver­fluch­ten Dampf­boot­ge­schich­te. Es war klar, dass er mich für jeman­den hielt, der nichts wei­ter als scham­lo­se Aus­flüch­te mach­te. Schließ­lich wur­de er böse, und um eine Ges­te wüten­der Ver­är­ge­rung zu ver­ber­gen, gähn­te er. Ich erhob mich. Dann fiel mir eine klei­ne Ölma­le­rei auf, eine Holz­ta­fel mit dem Bild­nis einer in Stof­fe dra­pier­ten Frau dar­auf, die eine Bin­de um die Augen und eine leuch­ten­de Fackel in der Hand trug. Der Bild­hin­ter­grund war düs­ter – fast schwarz. Die Frau befand sich in einer majes­tä­ti­schen Bewe­gung, und das Fackel­licht warf unheim­li­che Schat­ten auf ihrem Gesicht.

Ich war gefes­selt davon, und er stand höf­li­chen dane­ben, eine lee­re Pic­co­lo­fla­sche Cham­pa­gner in der Hand (medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung!), in der die Ker­ze steck­te. Auf mei­ne Fra­ge hin sag­te er, dass Mon­sier Kurtz die­ses Bild gemalt habe – genau hier in die­ser Sta­ti­on, vor mehr als einem Jahr –, wäh­rend er auf ein Trans­port­mit­tel zu sei­ner Han­dels­sta­ti­on war­te­te. ‚Nun ver­ra­ten Sie mir doch end­lich’, rief ich, ‚wer die­ser Mon­sieur Kurtz eigent­lich ist!’

Der Chef der Bin­nen­sta­ti­on’, sag­te er kurz ange­bun­den und blick­te weg. ‚Herz­li­chen Dank’, sag­te ich und lach­te. ‚Und Sie sind der Zie­gel­ma­cher der Haupt­sta­ti­on. Wie jeder weiß.’ Er schwieg eine Zeit lang. ‚Er ist ein außer­ge­wöhn­li­cher Mensch’, sag­te er schließ­lich. Er ist ein Abge­sand­ter des Mit­leids, der Wis­sen­schaft, des Fort­schritts und der Hen­ker weiß, von was noch allem. ‚Uns feh­len’, fing er plötz­lich an zu dekla­mie­ren, ‚zur Füh­rung der Mis­si­on, mit der uns Euro­pa betraut hat, um es so aus­zu­drü­cken, hohe Intel­li­genz, umfas­sen­des Mit­ge­fühl und Ziel­stre­big­keit.’ ‚Wer sagt das?’, frag­te ich. ‚Vie­le sagen das’, ant­wor­te­te er. ‚Man­che schrei­ben es sogar; und so kommt er also zu uns, ein beson­de­rer Mensch, wie sie wis­sen soll­ten.’ ‚Woher soll­te sich das wis­sen?’, unter­brach ich ihn, wirk­lich über­rascht. Er ach­te­te nicht dar­auf. ‚Ja. Heu­te ist er der Chef der bes­ten Sta­ti­on, nächs­tes Jahr wird er Vize­di­rek­tor sein, noch zwei Jah­re, und … aber ich den­ke mal, Sie wis­sen, was er in zwei Jah­ren sein wird. Sie gehö­ren der neu­en Trup­pe an – der Trup­pe mit Grund­sät­zen. Die­sel­ben Leu­te, die unbe­dingt ihn hier haben woll­ten, haben auch Sie emp­foh­len. Oh, strei­ten Sie es nicht ab. Ich kann mei­nen eige­nen Augen trau­en.’ Mir ging ein Licht auf. Die ein­fluss­rei­chen Bekann­ten mei­ner lie­ben Tan­te hat­ten einen uner­war­te­ten Ein­druck auf die­sen jun­gen Mann hier gemacht. Ich brach fast in Geläch­ter aus. ‚Lesen Sie etwa die ver­trau­li­che Post der Gesell­schaft?’, frag­te ich. Dar­auf wuss­te er gar nichts zu ant­wor­ten. Es war ein Haupt­spaß. ‚Wenn Mon­sieur Kurtz’, fuhr ich fort, ‚erst Gene­ral­di­rek­tor ist, wer­den Sie kei­ne Gele­gen­heit mehr dazu haben’.

Er blies die Ker­ze plötz­lich aus, und wir gin­gen nach drau­ßen. Der Mond war auf­ge­gan­gen. Schwar­ze Gestal­ten wan­del­ten lust­los umher und schüt­te­ten Was­ser auf die Glut, was zu zischen­den Geräu­schen führ­te; der Dampf stieg ins Mond­licht empor, irgend­wo stöhn­te der geprü­gel­te Nig­ger. ‚Was die­ses Vieh sich anstellt!’, schimpf­te der uner­müd­li­che Schnauz­bart­trä­ger, als er an unse­rer Sei­te auf­tauch­te. ‚Hat er sich doch selbst zuzu­schrei­ben. Ver­bre­chen – Stra­fe – Zack! Gna­den­los, abso­lut gna­den­los. Nur so geht es. Dadurch wer­den wei­te­re Feu­ers­brüns­te in Zukunft ver­mie­den. Gera­de habe ich dem Direk­tor gesagt …’ Er bemerk­te mei­nen Gefähr­ten und fiel sofort in sich zusam­men. ‚Noch nicht zu Bett’, sag­te er mit einer Art unter­wür­fi­ger Herz­lich­keit, ‚das ist ganz natür­lich. Ha! Gefahr – Auf­re­gung.’ Damit ver­schwand er. Ich ging wei­ter in Rich­tung Fluss­ufer, und der ande­re folg­te mir. Ein böse zischen­des Gemur­mel drang an mein Ohr: ‚Ver­damm­te Idio­ten – los doch.’ Die Pil­ger stan­den in Hau­fen da und strit­ten sich wild ges­ti­ku­lie­rend. Eini­ge tru­gen noch immer ihren Knüp­pel in der Hand. Ich glau­be bei­na­he, sie nah­men die­se Knüp­pel mit ins Bett. Hin­ter der Umzäu­nung erhob sich im geis­ter­haf­ten Mond­licht der Wald, und durch jenen undeut­lich ver­nehm­ba­ren Auf­ruhr, durch die lei­sen Geräu­sches die­ses trost­lo­sen Sta­ti­ons­hofs hin­durch traf einen die gro­ße Stil­le des Lan­des mit­ten ins Herz – sein Geheim­nis, sei­ne Groß­ar­tig­keit, die ver­blüf­fen­de Wirk­lich­keit des dar­in ver­bor­ge­nen Lebens. Irgend­wo in der Nähe stöhn­te lei­se der ver­letz­te Nig­ger und ließ dann einen tie­fen Seuf­zer fah­ren, der mich mei­ne Schrit­te in davon weg len­ken ließ. Ich fühl­te, wie sich eine Hand unter mei­nen Arm vor­stel­lig mach­te. ‚Mein lie­ber Herr’, sag­te der Bur­sche, ‚Ich möch­te nicht miss­ver­stan­den wer­den, am aller­we­nigs­ten von Ihnen, der Mon­sieur Kurtz tref­fen wird, bevor ich die­ses Ver­gnü­gen haben kann. Ich möch­te nicht, dass er einen fal­schen Ein­druck von mei­ner Ein­stel­lung bekommt …’

Ich ließ ihn sei­nen Ser­mon abspu­len, die­sen Mephis­to aus Papp­ma­ché, und mir schien, ein Ver­such hät­te genügt, mei­nen Zei­ge­fin­ger durch die Hül­le hin­durch zu ste­cken, um innen drin nichts wei­ter als ein paar Krü­mel Schmutz zu fin­den. Er selbst, das ist euch doch wohl klar, hat­te geplant, sich unter dem der­zei­ti­gen Chef nach und nach zum Vize­di­rek­tor hoch­zu­ar­bei­ten, und ich begriff lang­sam, dass die Ankunft von Kurtz die bei­den nicht unwe­sent­lich beun­ru­higt hat­te. Er rede­te vol­ler Hast und über­stürzt, und ich ver­such­te nicht, ihn zu unter­bre­chen. Ich lehn­te mit den Schul­tern gegen das Wrack des Dampf­boots, das am Ufer­hang dalag wie der Kada­ver irgend­ei­nes gro­ßen Tie­res, dass man aus dem Fluss gezo­gen hat­te. Der Geruch von Schlamm – von Urschlamm, soll­te ich sagen! – erfüll­te mei­ne Nüs­tern, die hoch­auf­ra­gen­de Unbe­wegt­heit des Urwalds lag vor mei­nen Augen; auf der schwar­zen Ober­flä­che des Neben­arms schim­mer­te es ver­ein­zelt. Der Mond hat­te über alles einen dün­nen Hauch Sil­ber gelegt – über das wild wuchern­de Gras, über den Schlamm, über die Wand aus ver­filz­ter Vege­ta­ti­on, die höher stand als jede Tem­pel­wand, über den gro­ßen Fluss, den ich durch eine düs­te­re Lücke fun­keln und glit­zern sah, wie er in all sei­ner Brei­te laut­los vor­über­floss. All dies war groß, vol­ler Erwar­tung, stumm, wäh­rend die­ser Mensch nur von sich selbst schwätz­te. Ich frag­te mich, ob die unbe­weg­li­che Ober­flä­che der Uner­mess­lich­keit, derer wir uns ent­ge­gen­sa­hen, wohl ein­la­dend oder dro­hend gemeint war. Wer waren wir bei­den schon, die wir uns hier­hin ver­irrt hat­ten? Konn­ten wir die­se stum­me Wesen­heit in den Griff bekom­men, oder wür­de es uns umge­kehrt erge­hen? Ich spür­te, wie unglaub­lich groß die­ses Wesen war, das nicht spre­chen konn­te und viel­leicht auch noch taub war. Was befand sich in sei­nem Innern? Ich konn­te sehen, wie das Elfen­bein dar­aus her­vor­kam, und ich hat­te gehört, dass Mon­sieur Kurtz dort drin­nen war. Und, weiß Gott, ich hat­te mehr als genug dar­über gehört! Und konn­te mir doch kein rech­tes Bild davon machen – man hät­te mir genau­so gut erzäh­len kön­nen, ein Engel oder ein Dämon befin­de sich dort drin­nen. Ich glaub­te dar­an, wie einer von euch glau­ben könn­te, dass es Bewoh­ner auf dem Pla­ne­ten Mars gibt. Ich kann­te ein­mal einen schot­ti­schen Segel­ma­cher, der sicher war, tod­si­cher sogar, dass es Mars­men­schen gibt. Wenn man ihn frag­te, wie man sich die­se Krea­tu­ren vor­zu­stel­len habe, pfleg­te er sich schüch­tern abzu­wen­den und etwas von ‚lau­fen auf allen Vie­ren’ zu mur­meln. Wenn man auch nur andeu­tungs­wei­se dar­über lächel­te, bot er – ein Mann von sech­zig Jah­ren – einem sofort Prü­gel an. Ich wäre nicht so weit gegan­gen, für Kurtz jeman­den zu ver­prü­geln, aber ich kam doch in die Nähe einer Lüge für ihn. Ihr wisst, dass ich Lügen has­se, ver­ab­scheue und nicht ertra­gen kann, nicht weil ich ehr­li­cher bin als der Rest der Mensch­heit, son­dern weil ich die Lüge absto­ßend fin­de. Es liegt ein Hauch Tod, ein Geschmack von Sterb­lich­keit dar­in – und genau dies has­se und ver­ab­scheue ich an der Welt – genau dies möch­te ich ver­ges­sen. Mir wird regel­recht schlecht davon, als ob ich in eine fau­le Frucht bei­ßen wür­de. Eine Fra­ge des Tem­pe­ra­ments, neh­me ich an. Wie auch immer, ich kam der Sache nah genug, indem ich den jun­gen Dumm­kopf in sei­nen Illu­sio­nen beließ, was mei­nen Ein­fluss in Euro­pa anging. Im Hand­um­dre­hen wur­de ich also genau so ein Heuch­ler wie der Rest der magisch gebann­ten Pil­ger. Und dies nur des­halb, weil ich das Gefühl hat­te, es könn­te irgend­wie die­sem Kurtz behilf­lich sein, der mir damals noch gar nichts bedeu­te­te – wenn ihr wisst, was mich mei­ne. Er war nur ein Wort für mich. Der Name bedeu­te­te mir genau­so wenig wie euch jetzt. Seht ihr ihn vor euch? Seht ihr da eine Geschich­te vor euch? Seht ihr über­haupt etwas? Ich habe das Gefühl, euch einen Traum erzäh­len zu wol­len – ein Ver­such, bei dem ich schei­tern muss, denn kei­ne Erzäh­lung eines Traums kann die Emp­fin­dung eines Traums ver­mit­teln, die­se Ver­mi­schung des Absur­den mit dem Über­ra­schen­den und dem Ver­wir­ren­den in einem fie­ber­haft quä­len­dem Auf­ruhr, die­se Ahnung, im Fan­tas­ti­schen gefan­gen zu sein, die allem Träu­men zugrun­de liegen …”

Er schwieg eine zeitlang.

… Nein, es geht nicht; man kann die Emp­fin­dung irgend­ei­nes bestimm­ten Zeit­raums des eige­nen Lebens nicht ver­mit­teln – das, wor­in sei­ne Wahr­heit liegt, sei­ne Bedeu­tung – sein sub­ti­les und durch­drin­gen­des Wesen. Es geht nicht. Wir leben, wie wir träu­men – allein …”

Er hielt wie­der inne, als ob er nach­däch­te, und füg­te dann hinzu:

Ihr Jun­gens ver­steht natür­lich mehr von die­ser Geschich­te als ich es damals konn­te. Ihr ver­steht mich, den ihr kennt …”

Es war so nachts­schwarz dun­kel gewor­den, dass wir Zuhö­rer uns kaum noch sehen konn­ten. Seit län­ge­rer Zeit war er, weil er abseits saß, zu einer rei­nen Stim­me für uns gewor­den. Nie­mand sprach auch nur ein Wort. Die ande­ren schlie­fen viel­leicht schon, ich war aber noch wach. Ich hör­te zu, hör­te zu und lau­er­te dabei auf den Satz oder das Wort, durch den oder das ich das vage Unbe­ha­gen ver­ste­hen wür­de, die mir die­se Erzäh­lung berei­te­te, die sich ohne die Hil­fe mensch­li­cher Lip­pen in der schwe­ren Nacht­luft des Flus­ses selbst zu mate­ria­li­sie­ren schien.

… Ja – ich ließ ihn sei­nen Ser­mon abspu­len”, fing Mar­low wie­der an, “und soll­te er den­ken, was er woll­te, über die hin­ter mir ste­hen­den mäch­ti­gen Män­ner. Mei­net­we­gen! Und dabei stand nichts und nie­mand hin­ter mir! Nichts als die­ses jäm­mer­li­che, alte, schrott­rei­fe Dampf­boot, an das ich mich lehn­te, wäh­rend er mit sil­ber­ner Zun­ge über ‚die Not­wen­dig­keit für einen jeden von uns, im Leben vor­an­zu­kom­men’ sprach. ‚Und man kommt ja nicht hier­her in die Wild­nis, wenn Sie mich recht ver­ste­hen, um den Mond anzu­star­ren.’ Mon­sieur Kurtz sei ja ein ‚Uni­ver­sal­ge­nie’, aber selbst ein Genie zöge es doch wohl vor, mit ‚den pas­sen­den Werk­zeu­gen – intel­li­gen­ten Men­schen’ zu arbei­ten. Nein, er stel­le kei­ne Zie­gel her – wie auch, wenn es rein tech­nisch gar nicht gin­ge –, wie ich sehr wohl wis­se; und wenn er als Sekre­tär des Direk­tors arbei­te, dann nur, weil ‚kein ver­nünf­ti­ger Mensch mut­wil­lig das Ver­trau­en sei­ner Vor­ge­setz­ten aus­schlägt.’ Ob ich wohl ver­stün­de? Ich ver­stand. Was woll­te ich denn noch? Was ich wirk­lich noch woll­te, waren Nie­ten, Herr­gott noch mal! Nie­ten. Mit der Arbeit vor­an­kom­men – um das Loch zuzu­be­kom­men. Nie­ten fehl­ten mir. Unten an der Küs­te gab es Kis­ten davon – Kis­ten – auf­ge­sta­pelt – zer­bro­chen – ent­zwei. In jenem am Hang lie­gen­den Sta­ti­ons­hof trat man bei jedem zwei­ten Schritt gegen eine lose her­um­lie­gen­de Nie­te. Nie­ten waren in den Todes­hain hin­ein­ge­rollt. Alles, was man tun muss­te, um sich die Taschen mit Nie­ten voll zu stop­fen, war, sich zu bücken – und hier, wo man sie brauch­te, gab es nicht eine ein­zi­ge Nie­te. Wir hat­ten geeig­ne­te Ble­che, aber nichts, mit dem wir sie befes­ti­gen konn­ten. Und jede Woche ver­ließ der Bote, ein lan­ger Neger mit einer Brief­ta­sche um die Schul­ter und einem Stock in der Hand, unse­re Sta­ti­on und mach­te sich auf den Weg an die Küs­te. Und jede Woche kamen meh­re­re Küs­ten­ka­ra­wa­nen mit Han­dels­wa­ren an – gräss­lich sati­nier­tes indi­sches Tuch, des­sen rei­ner Anblick einen schon durch­schüt­tel­te, Glas­per­len zu etwa einem Pen­ny das Vier­tel­pfund, abscheu­li­che Taschen­tü­cher. Aber kei­ne Nie­ten. Drei Trä­ger hät­ten aus­ge­reicht, um alles her­an­zu­schaf­fen, was für das Wie­der­flott­ma­chen des Dampf­boots erfor­der­lich war.

Er wur­de jetzt ver­trau­lich, aber ich neh­me mal an, da ich nicht dar­auf ein­ging, gab er es am Ende auf, denn er hielt es für not­wen­dig, mir mit­zu­tei­len, dass er weder Gott noch den Teu­fel fürch­te, von simp­len Men­schen ganz zu schwei­gen. Ich sag­te ihm, das sei ihm natür­lich anzu­se­hen, aber was ich wirk­lich wol­le, sei eine gewis­se Men­ge an Nie­ten – und Nie­ten sei­en auch das, was Mon­sieur Kurtz gewollt hät­te, wenn er es nur wüss­te. Und wo doch Brie­fe jede Woche an die Küs­te gin­gen … ‚Mein lie­ber Herr’, rief er, ‚mir wird dik­tiert, was ich schrei­be.’ Ich ver­lang­te Nie­ten. Es muss­te einen Weg geben – für einen intel­li­gen­ten Men­schen. Er änder­te sei­ne Hal­tung, wur­de sehr abwei­send und fing plötz­lich an, über ein Nil­pferd zu reden, frag­te mich, ob ich beim Schla­fen an Bord des Dampf­boots (ich kleb­te Tag und Nacht an mei­nem Ber­gungs­gut) nicht gestört wür­de. Es gab da ein altes Nil­pferd, das die schlech­te Ange­wohn­heit hat­te, nachts ans Ufer zu kom­men und die Sta­ti­on heim­zu­su­chen. Die Pil­ger pfleg­ten dann auf einen Schlag drau­ßen zu erschei­nen und jedes Gewehr auf das Tier abzu­feu­ern, das sie in die Fin­ger beka­men. Ein paar hat­ten sogar Nacht­wa­che des­we­gen gehal­ten. All die­se Anstren­gun­gen führ­ten aller­dings zu nichts. ‚Die­ses Vieh hat ein geseg­ne­tes Glück’, sag­te er, ‚was man in die­sem Land aller­dings nur von wil­den Tie­ren sagen kann. Kein Mensch – ver­ste­hen Sie mich? – kein ein­zi­ger Mensch hier hat ein geseg­ne­tes Glück’. Er stand einen Moment da im Mond­licht mit sei­ner zar­ten, ein wenig schief ver­setz­ten Krumm­na­se und sei­nen Leucht­stoff­au­gen, die ohne ein Zwin­kern glänz­ten, dann wünsch­te er kurz ange­bun­den eine gute Nacht und ent­fern­te sich. Ich konn­te sehen, dass er beun­ru­higt und ziem­lich ver­wirrt war, was mich hoff­nungs­vol­ler stimm­te, als ich seit Tagen gewe­sen war. Es war ein gro­ßer Trost, mich von die­sem Bur­schen ab- und mei­nem ein­fluss­rei­chen Freund, der zer­beul­ten, ver­bo­ge­nen, zer­trüm­mer­ten Blech­wan­ne von einem Dampf­boot, zuzu­wen­den. Ich klet­ter­te an Bord. Das Schiff schep­per­te unter mei­nen Füßen wie eine lee­re Dose Hunt­ley-und-Pal­mer-Kek­se, die man mit einem Fuß­tritt in den Rinn­stein beför­dert. Es war nicht beson­ders sta­bil und schon gar nicht schön anzu­se­hen, aber ich hat­te genug har­te Arbeit auf sei­ne Repa­ra­tur auf­ge­wen­det, um es lieb zu gewin­nen. Kein ein­fluss­rei­cher Freund hät­te mir bes­se­re Diens­te leis­ten kön­nen. Es hat­te mir die Gele­gen­heit gege­ben, ein wenig aus mir her­aus­zu­ge­hen – um her­aus­zu­fin­den, wozu ich in der Lage war. Nicht, dass ich ger­ne arbei­te. Ich fau­len­ze lie­ber und stel­le mir all die schö­nen Din­ge vor, die man so machen könn­te. Ich mag die Arbeit nicht – nie­mand tut das –, aber ich mag die Mög­lich­keit, die in der Arbeit liegt: sich selbst zu fin­den. Die eige­ne Wirk­lich­keit – für einen selbst, nicht für die ande­ren – was nie­mand ande­res jemals wis­sen kann. Die ande­ren sehen immer nur das äußer­li­che Brim­bo­ri­um und wis­sen nie, was es eigent­lich bedeutet.

Es über­rasch­te mich nicht, jeman­den ach­tern an Deck sit­zen zu sehen, der sei­ne Bei­ne über dem Schlamm bau­meln ließ. Es war so, dass ich mich eini­ger­ma­ßen mit den paar Mecha­ni­kern ange­freun­det hat­te, die zur Sta­ti­on gehör­ten und von den ande­ren Pil­gern natür­lich ver­ach­tet wur­den – wegen ihrer man­gel­haf­ten Manie­ren, neh­me ich an. Dies hier war der Vor­mann – von Haus aus Kes­sel­schmied –, ein guter Arbei­ter. Er war ein hage­rer, kno­chi­ger, gelb­ge­sich­ti­ger Mann mit gro­ßen, durch­drin­gen­den Augen. Sei­ne Mie­ne trug ste­te Besorg­nis, und sein Kopf war so kahl wie mein Hand­tel­ler, aber offen­bar war sein Haar beim Aus­fal­len am Kinn kle­ben geblie­ben und erfreu­te sich dort üppi­gen neu­en Wachs­tums, denn sein Bart hing bis zum Gür­tel her­ab. Er war Wit­wer und hat­te sechs klei­ne Kin­der (die bei einer Schwes­ter in Pfle­ge waren, damit er hier­her kom­men konn­te); sei­ne gro­ße Lei­den­schaft war die Brief­tau­ben­zucht. Hier zeig­te er Begeis­te­rung und Ken­ner­schaft. Er konn­te ins Schwär­men gera­ten über Tau­ben. Nach der Arbeit kam er manch­mal von sei­ner Hüt­te her­über, um sich über sei­ner Kin­der und sei­ne Tau­ben zu unter­hal­ten; bei der Arbeit, wenn in den Schlamm unter dem Boden des Dampf­boots krie­chen muss­te, band er sei­nen Bart immer in einer Art wei­ßem Ess­tuch hoch, das er extra dafür mit­ge­bracht hat­te. Er hat­te Schlei­fen an die Enden gemacht, um es sich über die Ohren zu hän­gen. Abends konn­te man ihn dann sehen, wie er am Ufer saß und die­ses Umschlag­tuch sorg­fäl­tig im Was­ser des Neben­arms wusch und dann fei­er­lich auf einen Busch zum Trock­nen legte.

Ich klopf­te ihm auf den Rücken und brüll­te: ‚Wir wer­den Nie­ten bekom­men!’ Er rap­pel­te sich auf und rief aus: ‚Nein! Nie­ten!’, als ob er sei­nen Ohren nicht trau­en woll­te. Dann, mit gesenk­ter Stim­me: ‚Sie … ähem?’ Ich weiß nicht, war­um wir uns wie Ver­rück­te benah­men. Ich leg­te einen Fin­ger seit­lich an mei­ne Nase und nick­te geheim­nis­voll. ‚Gut für Sie!’, rief er, schnipp­te mit den Fin­gern über sei­nem Kopf und hob dabei ein Bein an. Ich ver­such­te es mit einem iri­schen Volks­tanz. Wir voll­führ­ten Luft­sprün­ge auf dem eiser­nen Deck. Aus dem Schiffs­rumpf kam ein schau­der­haf­tes Schep­pern, das der Urwald am gegen­über­lie­gen­den Ufer des Neben­arms in einem don­nern­den Rol­len auf die schla­fen­de Sta­ti­on zurück­warf. Eini­ge der Pil­ger stan­den wahr­schein­lich in ihren Bet­ten. Eine schat­ten­haf­te Sil­hou­et­te ver­dun­kel­te den beleuch­te­ten Ein­gang der Hüt­te des Direk­tors und ver­schwand wie­der, dann, ein oder zwei Sekun­den spä­ter, ver­schwand auch der Ein­gang. Wir hiel­ten auf, und die von unse­rem Getram­pel ver­trie­be­ne Stil­le kam wie­der von allen Enden des Lan­des auf uns ein­ge­strömt. Die gro­ße Mau­er aus Vege­ta­ti­on, eine üppi­ge und inein­an­der ver­hed­der­te Mas­se von Ästen, Zwei­gen, Blät­tern, Trie­ben und Schling­pflan­zen, lag bewe­gungs­los im Mond­licht da wie eine zügel­lo­se Inva­si­on laut­lo­sen Lebens, ein Wel­len­bre­cher aus Pflan­zen, auf­ge­türmt, mit schäu­men­dem Wel­len­kamm, bereit zum Her­ein­bre­chen über den Neben­arm, bereit zum Aus­lö­schen unse­rer aller arm­se­li­ger Exis­tenz. Aber sie beweg­te sich nicht. Ein gedämpf­ter Aus­bruch gewal­ti­ger Plat­scher und Grun­zer erreich­te uns von fer­ne, als ob ein Fisch­sau­ri­er ein Bad im Glit­zern des gro­ßen Flus­ses genom­men hät­te. ‚Schließ­lich und end­lich’, sag­te der Kes­sel­schmied, wie­der ernst­haft, ‚war­um soll­ten wir kei­ne Nie­ten bekom­men?’ In der Tat — war­um nicht! Ich wuss­te kei­nen Grund, war­um wir kei­ne Nie­ten bekom­men soll­ten. ‚In drei Wochen sind sie da,’ sag­te ich zuversichtlich.

Aber das waren sie nicht. An Stel­le von Nie­ten erreich­te uns eine Inva­si­on, ein Ver­häng­nis, eine Heim­su­chung. Das alles traf stück­wei­se inner­halb der nächs­ten drei Wochen ein, und jeder Abschnitt wur­de von einem Esel ange­führt, auf dem ein Wei­ßer in neu­er Klei­dung und mit gegerb­ten Schu­hen saß und sich aus die­ser Höhe den beein­druck­ten Pil­gern zur rech­ten und zur lin­ken grü­ßend zuneig­te. Eine zän­ki­sche Ban­de fuß­kran­ker, mür­ri­scher Nig­ger folg­te dem Esel auf den Fuß; eine Unmen­ge von Zel­ten, Klapp­ho­ckern, Kon­ser­ven, wei­ßen Kof­fern und brau­nen Bün­deln wur­de im Sta­ti­ons­hof auf den Boden gewor­fen, und der Hauch von Geheim­nis, der über dem Durch­ein­an­der in der Sta­ti­on lag, wur­de jedes Mal ein wenig undurch­dring­li­cher. Fünf Raten die­ser unge­woll­ten Zah­lung erreich­ten uns und ver­brei­te­ten den absur­den Ein­druck regel­lo­ser Flucht, auf der man – so war der Ein­druck – das Raub­gut aus unzäh­li­gen Läden und Lager­häu­sern nach einem Plün­der­zug in die Wild­nis schlepp­te, um sie dort zu unter sich auf­zu­tei­len. Ein heil­lo­ses Knäu­el von Din­gen, die für sich genom­men kei­nen Anstoß erreg­ten, aber durch die Tor­heit der Men­schen den Ein­druck erweck­ten, es han­de­le sich dabei um Diebesbeute.

Die­se wacke­re Schar also nann­te sich die “Eldo­ra­do-For­schungs­ex­pe­di­ti­on”, und ich glau­be, sie hat­ten unter­ein­an­der Still­schwei­gen ver­ein­bart. Ihrem Reden nach waren sie aller­dings nur erbärm­li­che Frei­beu­ter: Wage­mut ohne Kühn­heit, Hab­gier ohne Ver­we­gen­heit und Grau­sam­keit ohne Mut zeig­ten sich dar­in; es gab nicht ein Mole­kül von Vor­aus­schau oder ernst­haf­ten Absich­ten in dem gan­zen Hau­fen, und es schien ihnen nicht bewusst zu sein, dass die­se Din­ge für das gro­ße Werk der Welt gebraucht wer­den. Den Inne­rei­en des Lan­des ihre Schät­ze ent­rei­ßen, das woll­ten sie, und es stand kein höhe­rer mora­li­scher Zweck dahin­ter als bei Ein­bre­chern, die einen Safe auf­bre­chen. Ich weiß nicht, wer die Kos­ten für die­ses edle Unter­fan­gen trug, aber bei dem Anfüh­rer han­del­te es sich um den Onkel unse­res Direktors.

Nach außen hin mach­te er den Ein­druck eines Metz­gers aus einem Armen­vier­tel, und in sei­nen Augen lag eine schläf­ri­ge Durch­trie­ben­heit. Er trug sei­nen fet­ten Wanst prah­le­risch auf kur­zen Bei­nen vor sich her, und in der Zeit, wäh­rend der sei­ne Ban­de die Sta­ti­on ver­seuch­te, sprach er mit nie­man­dem als sei­nem Nef­fen. Man konn­te die bei­den den gan­zen Tag her­um­strei­chen sehen, wie sie ihre Köp­fe in einer nie enden­den Kurz­be­spre­chung zusammensteckten.

Ich hat­te auf­ge­hört, mir über die Nie­ten Gedan­ken zu machen. Man kann so einen Unsinn weni­ger lan­ge mit­ma­chen, als Ihr viel­leicht denkt. Ich sag­te: zum Teu­fel damit! – und ließ den Din­gen ihren Lauf. Ich hat­te viel Zeit zum Nach­den­ken, und ab und an kam mir Kurtz in den Sinn. Nicht, dass er mich beson­ders inter­es­siert hät­te. Trotz­dem war ich neu­gie­rig zu sehen, ob es die­ser Mensch, der mit gewis­sen mora­li­schen Vor­stel­lun­gen hier ange­kom­men war, schließ­lich doch an die Spit­ze schaf­fen und wie er – dort ange­kom­men – sei­ne Auf­ga­be ange­hen würde.”

Teil II