Der bes­te Zen-Leh­rer wäre einer, der noch nie etwas von Zen gehört hät­te. Und Leh­rer wäre er auch nicht.

Mein Freund Thom jeden­falls war so eine Art Haus­meis­ter. Und immer durs­tig. Wenn ich früh­mor­gens laut­hals gäh­nend aus mei­nem Bun­ga­low kam, um durch ein paar Schwimm­zü­ge im nahen Meer die Nacht aus mei­nen Glie­dern zu ver­scheu­chen, hat­te er schon zwei oder drei von den klei­nen, brau­nen Fläsch­chen mit Reis­fu­sel geleert, die so bil­lig waren, dass auch ein ein­hei­mi­scher Arbei­ter damit sei­nen Schnaps­durst löschen konn­te, und kehr­te ver­däch­tig gut gelaunt, aber aus allen Poren schwit­zend Laub und Sand von den Wegen oder hol­te umständ­lich mit einer lan­gen Bam­bus­stan­ge fri­sche Kokos­nüs­se von den Pal­men – wir Gäs­te hat­ten es ger­ne auf­ge­räumt und woll­ten spä­ter zu Hau­se vom baum­fri­schen Saft schon zum Früh­stück schwär­men kön­nen … Nach dem Mit­tag­essen sah man ihn dann öfter in sei­ner Hän­ge­mat­te lie­gen als irgend­wel­chen Pflich­ten nach­ge­hen (oder gar rich­tig arbei­ten), und pünkt­lich jeden Tag um fünf setz­te er sich auf sein altes Moped und knat­ter­te an die Haupt­stra­ße, wo sich an einer aus Palm­blät­tern, Plas­tik­fla­schen und Bau­schutt zusam­men­ge­haue­nen Schnaps­bu­de die ört­li­chen Trin­ker zu ver­sam­meln pfleg­ten, um laut­stark die Geschäf­te der Welt erst zu bere­den und dann in einem aus­ge­wach­se­nen Rausch zu ersäufen.

Thom ver­lor aber weder bei die­sen abend­li­chen Geheim­rats­sit­zun­gen noch zu sons­ti­gen Gele­gen­hei­ten jemals die Kon­trol­le über sich. Er tor­kel­te nicht halt­los her­um, beläs­tig­te die weib­li­chen Gäs­te nicht, stritt sich nicht mit den männ­li­chen und konn­te mühe­los weit jen­seits jeder Pro­mil­le­gren­ze den haus­ei­ge­nen Pick­up nach Naathon steu­ern, um Ein­käu­fe zu erle­di­gen oder beim Fähr­an­le­ger neue Gäs­te abzu­ho­len – und das, ohne auch nur den Mit­tel­strei­fen zu über­fah­ren. Nur beim Weih­nachts-Bar­be­cue, dass extra für die ja eigent­lich gera­de davor geflo­he­nen Gäs­te aus dem Wes­ten ver­an­stal­tet wur­de, ver­gaß er sich ein wenig und sprach dem Rum­punsch der­art hef­tig zu, dass er den gan­zen Abend über allen auf den Rücken hau­te und lan­des­un­ty­pisch laut grö­lend “Mel­ly Chlist­mas” wünsch­te, was ihm aber von nie­man­dem übel genom­men wur­de, denn alle hat­ten ihn gern. Und als er eines Abends eine Grup­pe von uns auf den besag­ten Pick­up lud und wir zusam­men eine feucht-fröh­li­che Nacht im Reg­gae-Pub in Cha­weng ver­brach­ten, muss­te auf der Rück­fahrt Gör­an aus Schwe­den das Lenk­rad über­neh­men, weil Thom dar­über ein­zu­schla­fen drohte.

Nie­mand wuss­te so rich­tig, womit er sei­nen schnaps­se­li­gen Lebens­wan­del über­haupt finan­zier­te. Sei­ne Frau Dhin arbei­te­te in der Küche der Bun­ga­lo­w­an­la­ge, und sie pass­te wie ein Schließ­hund auf, dass ihrer bei­der Lohn nicht in der Trink­bu­de an der Haupt­stra­ße oder den Gir­lie-Bars von Cha­weng lan­de­te. Thom bekam ein klei­nes Taschen­geld von ihr, dass aber nie und nim­mer für das schät­zungs­wei­se gute Dut­zend brau­ne Fläsch­chen aus­reich­te, deren Inhalt jeden Tag sei­ne durs­ti­ge Keh­le hin­un­ter rann, also ging die all­ge­mei­ne Ver­mu­tung, dass die klei­nen Plas­tik­säck­chen vol­ler Mari­hua­na, die er manch­mal aus – so sag­te er jeden­falls – Gefäl­lig­keit für bestimm­te Gäs­te von einem Freund besorg­te, der in den Ber­gen eine grö­ße­re Plan­ta­ge betrieb, nur die Spit­ze eines Eis­bergs von pro­fes­sio­nell betrie­be­nem Dro­gen­han­del bedeu­te­te, und der wäre dann sei­ne eigent­li­che Ein­nah­me­quel­le. Viel­leicht stimm­te das, viel­leicht auch nicht; mir schien, es hät­te zu viel Arbeit bedeutet.

In jedem Fall – nicht gera­de ein Bodhi­satt­va, mein Freund Thom … Auf den ers­ten Blick jeden­falls. Auf den zwei­ten, für den man eine Wei­le brauch­te, stell­ten sich die Din­ge schon ein wenig anders dar: Als ich ein­mal mein in der Khao San gekauf­tes Che-Gue­va­ra-T-Shirt zum Trock­nen an die Wäsche­lei­ne häng­te, kräh­te Thom laut: “I like dis man!” und pries den Hel­den der Sier­ra Maes­tra so lan­ge und der­art kennt­nis­reich in den höchs­ten Tönen, dass ich ihm das T‑Shirt schließ­lich schenk­te und er es dar­auf­hin bis zu mei­ner Abrei­se nicht mehr aus­zog. Bei einer ande­ren Gele­gen­heit zeig­te er sich glei­cher­ma­ßen bewandt in Fra­gen der euro­päi­schen Geschich­te und erläu­ter­te sei­ne Sicht des gro­ßen Hel­den “Napo­li”, der die Errun­gen­schaf­ten der glor­rei­chen Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on über ganz Euro­pa ver­brei­tet hät­te. Wir strit­ten uns fast deswegen.

Voll­ends uner­war­tet traf mich dann sei­ne eher neben­her gemach­te Bemer­kung, er sei frü­her drei Jah­re als Mönch durch die Klös­ter des gan­zen Lan­des gezo­gen. Ich hat­te ihn von mei­nem Plan erzählt, in dem Wat auf der Nach­bar­in­sel eine Ein­kehr mit­zu­ma­chen, aber Thom wink­te nur ab:

You must go to Wat Suan Mokh, it is de best … !”

Es war schwie­rig, einem Men­schen, der so voll­kom­men in der Gegen­wart leb­te wie er, wei­te­re Ein­zel­hei­ten über sei­ne Ver­gan­gen­heit zu ent­lo­cken, aber an all den Nach­mit­ta­gen, die er auf mei­ner Veran­da in der Hän­ge­mat­te lag und mir gras­rau­chend beim Gitar­re­spie­len zuhör­te, kam doch die eine oder ande­re klei­ne Geschich­te zu Tage: Er stamm­te dem­nach aus der Gegend von Surat Tha­ni, wo sei­ne Fami­lie immer noch leb­te, war aber schon in jun­gen Jah­ren aus­ge­ris­sen und hat­te sich auf die Suche bege­ben, zuerst nach der gro­ßen, wei­ten Welt, dann nach der Bud­dha­schaft. Er und Dhin hat­ten eine Toch­ter, die in Bang­kok im Inter­nat leb­te und spä­ter auf eine gute Uni­ver­si­tät im Aus­land gehen soll­te. Für die­ses Kind spar­ten sie all ihr Geld und leb­ten selbst in einer mehr als schä­bi­gen Bam­bus­hüt­te, die Thom eigen­hän­dig und even­tu­el­le gesetz­li­che Hin­der­nis­se sou­ve­rän igno­rie­rend auf einem ver­fal­le­nen Bau­grund­stück errich­tet hat­te, des­sen Inves­tor plei­te gegan­gen war. Frü­her war er auch ein­mal in Kana­da gewe­sen und hat­te bei der Apfel­ern­te gear­bei­tet (in einer ande­ren Ver­si­on bei der Mari­hua­na-Ern­te), daher sprach er so gut Eng­lisch, und in ein paar Jah­ren, wenn die Toch­ter stu­die­ren wür­de, woll­ten er und Dhin eine gro­ße Welt­rei­se unter­neh­men, um end­lich ein­mal mit eige­nen Augen zu sehen, wo denn all die Freun­de wohn­ten, die sie im Lauf der Jah­re auf Samui gewon­nen hatten.

Über Thoms Zeit als Mönch erfuhr ich wenig mehr, als dass man im Wat Suan Mokh, das ist Thai­län­disch für “Gar­ten der Befrei­ung”, Geh­me­di­ta­ti­on betrie­ben habe – “You know, we did de wal­king-wal­king and only tink de wal­king-wal­king …” – und es sich bei dem Klos­ter, aber das wuss­te ich ja schon, um das bes­te ganz Thai­lands han­del­te. Manch­mal hielt er auch beim mor­gend­li­chen Keh­ren der Wege inne, blick­te auf die wei­te Bucht von Maenam und sag­te unver­mit­telt “I must do de medi­ta­ti­on again” oder “Dis place has lot of hah­mo­ny” oder sogar “Befo­re, not so many houses”.

Und dann erfuhr ich noch von dem Buch. Thom hat­te mir ein paar Tage vor mei­ner Abrei­se einen klei­nen, von ihm selbst aus einem Bam­bus­rohr und Ker­zen­wachs ange­fer­tig­ten und mit roter Far­be bemal­ten Did­ge­ri­doo geschenkt. Die Bema­lung wies den­sel­ben Stil auf wie die bun­ten Ver­zie­run­gen auf sei­ner Gitar­re, die schon einen grö­ße­ren Tai­fun zwei Meter unter Schlamm begra­ben über­lebt hat­te und des­halb krumm und schief und unbe­spiel­bar als Deko­ra­ti­ons­ob­jekt in einer Ecke sei­ner Hüt­te stand. Ich frag­te ihn daher, ob er auch malen würde.

I not do any­mo­re”, knurr­te er, ließ sich aber schließ­lich ent­lo­cken, dass er frü­her vie­le Bil­der, vor allem von der Bucht und den ört­li­chen Pflan­zen, gemalt, aber alle an Freun­de ver­schenkt habe, sodass er mir kei­nes mehr zei­gen kön­ne. Frü­her habe er auch viel nach­ge­dacht und alles, was ihm so ein­ge­fal­len sei, neben vie­len Zeich­nun­gen in ein gro­ßes Buch ein­ge­tra­gen, des­sen Blät­ter sich aber genau­so in alle Win­de ver­streut hät­ten wie die Bil­der. Er habe das Buch die­sem mit­ge­ge­ben, an jenen ver­lie­hen und einem Drit­ten dar­aus vor­ge­le­sen, und alle hät­ten sie Sei­ten her­aus­ge­ris­sen und wären auf Nim­mer­wie­der­se­hen damit verschwunden.

Was stand denn in dem Buch drin, woll­te ich wissen.

Er zuck­te mit den Schultern.

Life”, sagt er schließ­lich, das Leben.

Und wo war es hin?

Sei­ne Hand mach­te einen gro­ßen Kreis.

Eeev-lywhe­re”, üüüberall …

Das war das letz­te Mal, dass ich Thom gese­hen habe. Er ver­stand sich mit den Eig­nern der Bun­ga­lo­w­an­la­ge nicht beson­ders gut, und am nächs­ten Tag geriet er in einen der­art hef­ti­gen Streit mit ihnen, dass er nachts den Pick­up stahl, nach Naathon ras­te und sich mit der nächs­ten Wagen­fäh­re aufs Fest­land absetz­te. Dhin ver­lor eben­falls ihre Stel­lung, und ich muss­te am Tag der Abrei­se noch zu der Hüt­te auf dem ver­las­se­nen Bau­grund­stück lau­fen, um ihr auf Wie­der­se­hen zu sagen. Sie hat­te sich über Thoms Mari­hua­na-Vor­rä­te her­ge­macht und grins­te mich glück­lich bekifft an, als ich nach sei­nem Ver­bleib frag­te. Schließ­lich ver­such­te sie, etwas auf Eng­lisch zu sagen, aber im Gegen­satz zu ihrem Mann beherrsch­te sie die Spra­che kaum. Sie sag­te es dann auf Thai, was wie­der­um ich nicht ver­stand, also nick­te ich höf­lich lächelnd und ver­ab­schie­de­te mich schließlich.

Viel­leicht hat­te ihn ja die Reue gepackt, und er war auf dem Weg zurück in den Gar­ten der Befrei­ung, viel­leicht lock­te ihn auch wie­der Kana­da, viel­leicht woll­te er sich aber auch nur irgend­wo zu Tode trinken.

Ich jeden­falls kehr­te nach Euro­pa zurück und leb­te mein Leben, ver­lieb­te mich und trenn­te mich wie­der, jag­te Luft­schlös­sern nach oder ver­kroch mich mut­los in die Ecke, stürz­te mich in die Arbeit oder ver­geu­de­te gan­ze Tage mit Nichts­tun, igno­rier­te wah­re Freun­de und umwarb die fal­schen, erleb­te mit stolz­ge­schwell­ter Brust Sie­ge und ließ mich von Nie­der­la­gen zu Boden drü­cken – und hat­te kei­nen blas­sen Schim­mer, was das alles eigent­lich soll­te. Und je mehr Zeit mich von den mit Thom auf Samui ver­brach­ten Mona­ten trenn­te, des­to mehr dach­te ich über ihn nach. Der Gedan­ke wur­de gera­de­zu über­mäch­tig: Wenn Thom müde war, schlief er. War er hung­rig, aß er. Wenn er einen fau­len Tag hat­te, leg­te er sich in die Hän­ge­mat­te. Hat­te er Lust, mit sei­ner Frau zu schla­fen, ver­führ­te er sie. Und wenn ihn die Gier nach Alko­hol über­mann­te, trank er eben. Wenn ich müde war, ging ich in die Spät­vor­stel­lung ins Kino. War ich hung­rig, muss­te ich erst einen Brief zu Ende schrei­ben. Mei­ne fau­len Tage leg­ten sich schwer auf mei­ne pro­tes­tan­ti­sche Arbeits­mo­ral, und wenn ich eine Frau ver­füh­ren woll­te, betrank ich mich. Hat­te ich hin­ge­gen nur Lust auf ein Bier, frag­te ich mein Gewis­sen, ob es schon früh genug am Tag dafür sei. Kurz­um – Thom moch­te weder Dif­fe­ren­zi­al­glei­chun­gen lösen kön­nen noch sechs Spra­chen beherr­schen, in allen wesent­li­chen Belan­gen des Lebens war er mir mei­len­weit vor­aus. Er hät­te mein Leh­rer wer­den kön­nen, aber ich – der es ja immer bes­ser wis­sen muss­te – hat­te ihn nur für einen sym­pa­thi­schen, aber reich­lich ver­sof­fe­nen Hal­lo­dri mit inter­es­san­ter Ver­gan­gen­heit gehal­ten, und die Gele­gen­heit war verpasst.

Ich wur­de immer unru­hi­ger. Ich woll­te sein wie Thom – wie war Thom zu dem gewor­den, der er war? Die Ant­wort konn­te nur lau­ten: Wat Suan Mokh! In die­sem Klos­ter war er wäh­rend sei­ner drei­jäh­ri­gen Wan­der­schaft am liebs­ten gewe­sen, hier muss­te er die wesent­li­chen Leh­ren emp­fan­gen haben, die ihn für sein wei­te­res Leben geprägt hat­ten. Erwar­tungs­voll zog ich Erkun­di­gun­gen über den Gar­ten der Befrei­ung ein und plan­te schon einen län­ge­ren Klos­ter­auf­ent­halt, den ich in die Zeit vor dem beab­sich­tig­ten Umzug in eine ande­re Stadt legen woll­te. Aber Gott, das Schick­sal, mein Kar­ma oder was auch immer hat­ten ande­re Plä­ne: Ich fand her­aus, dass Bud­dha­da­sa Bhikk­hu, der alte, hoch­be­rühm­te Abt des Klos­ters, schon vor eini­gen Jah­ren ver­stor­ben war. Unter sei­ner Lei­tung muss­te in jenem Gar­ten eine wahr­haft befrei­en­de Atmo­sphä­re geherrscht haben, die sich aus dem Bes­ten der Ther­ava­da-Schu­le, den Leh­ren Lao­t­ses, Zen-Bud­dhis­mus und einem huma­nis­tisch ver­stan­de­nen Sozia­lis­mus genährt hat­te. Nach sei­nem Tod war aber wie­der der Geist der thai­län­di­schen Ortho­do­xie in den Ort ein­ge­zo­gen, und die Jün­ger Bud­dha­da­sas waren fort­ge­zo­gen. Wie so oft im Leben kam ich zu spät.

Ich rauf­te mir die Haa­re. Wenn ich wenigs­tens Thoms Buch lesen könn­te … ! Dort müss­te doch auch alles ste­hen, sei­ne gan­ze Lebens­phi­lo­so­phie, sei­ne Ver­si­on des Juwels in der Lotos­blü­te, wenigs­tens ein klei­ner Split­ter von dem Dia­man­ten, der Wat Suan Mokh ein­mal gewe­sen sein muss­te. Wenn ich schon nicht die Wor­te ver­ste­hen wür­de, so wür­den mir doch sei­ne Bil­der einen gehei­men Weg wei­sen, viel­leicht konn­te ich ja sogar Thai­län­disch ler­nen, um mir die gesam­te Fül­le der Weis­heit zu erschlie­ßen. Ich kauf­te Selbst­lern­bü­cher und quäl­te mich durch das thai­län­di­sche Laut­sys­tem. Die Schrift erin­ner­te mich an ver­schlun­ge­ne Lia­nen, durch die sich wil­de Affen­hor­den durch einen bizar­ren Urwald schwin­gen. Wenn ich ver­such­te, die Wör­ter rich­tig aus­zu­spre­chen, hör­te sich das nicht an wie das sanf­te Miau­en der Thais selbst, son­dern wie das hei­se­re Gejau­le eines streu­nen­den alten Katers.

Die Sache fing an, aus dem Ruder zu lau­fen: Ich mach­te ohne einen Pfen­nig Geld in der Tasche Rei­se­plä­ne, kauf­te mir Land­kar­ten und Füh­rer. Ein gan­zes Buch konn­te doch nicht so ein­fach ver­schwin­den … Ich muss­te auf Samui ver­su­chen, sei­ne Spur auf­zu­neh­men und wie ein Jagd­hund mit der Nase dicht am Boden jeder gefun­de­nen Fähr­te fol­gen: Da gab es doch den Freund mit der Mari­hua­naplan­ta­ge oben in den Ber­gen, einen ande­ren hat­te ich eben­falls ken­nen gelernt, der von der Häu­ser­ver­mie­tung auf dem elter­li­chen Grund­stück leb­te und fröh­lich gitar­re­spie­lend und kif­fend sei­ne Tage in einer Hüt­te am Meer ver­brach­te. Die Bil­der hat­ten viel­leicht Besu­cher aus dem Wes­ten mit­ge­nom­men, wenn ich die übli­chen Orte in der Gegend abgras­te, an denen sich jun­ge Aus­stei­ger auf Zeit aus Euro­pa und Nord­ame­ri­ka zu ver­sam­meln pfleg­ten, konn­te ich viel­leicht noch das eine oder ande­re wie­der­fin­den, ver­ges­sen an der Wand im Gemein­schafts­raum einer Tra­vel­ler-Abstei­ge auf Phan­gan, ein­ge­klebt in ein altes Gäs­te­buch des Swiss Hotels in Penang, miss­braucht als Ver­zie­rung auf dem Deckel einer Spei­se­kar­te im Blues Café am Toba-See, ver­steckt als kost­bar gehü­te­ten Schatz im Pri­vat­be­sitz eines Restau­rant­be­sit­zers in Ubud auf Bali. Und wenn ich schon nichts fin­den wür­de, so wäre doch die Rei­se schon ein Gewinn an sich, und mit ein biss­chen Glück konn­te mir dabei sogar Thom selbst wie­der über den Weg lau­fen … ! Ich wür­de ihn in ein Klos­ter im Nor­den brin­gen, bei Bang­kok, ich hat­te gele­sen, dass dort Dro­gen- und Alko­hol­kran­ke von bud­dhis­ti­schen Mön­chen mit Medi­ta­ti­on geheilt wur­den, und dann konn­te er end­lich mein Leh­rer werden …

Am Ende hol­te mich das Leben wie­der ein. Ich muss­te mei­ne Tag­träu­me­rei­en begra­ben und mich um einen Brot­er­werb küm­mern wie alle ande­ren auch, die Thai-Lehr­bü­cher ver­schwan­den im Regal, gleich neben die Rei­se­füh­rer für Süd­ost­asi­en, die Flug­plä­ne schmiss ich weg, und der gan­ze Plan, nach Thoms Buch zu suchen, wur­de immer vager, bis die Erin­ne­rung an die­ses einst so gro­ße Vor­ha­ben beim Gedan­ken dar­an nur noch ein schwa­ches, wenn auch mil­des Lächeln aus­lös­te. Thom selbst blieb mir immer prä­sent, immer­hin. Ich schloss mich einer Sangha an, in der Zen gelehrt wur­de, medi­tier­te, sang Sutren, hat­te Unter­re­dun­gen mit den Dhar­ma-Meis­tern und dach­te mir irgend­wann, dass Weis­heit ja ohne­hin nicht in Büchern ste­he, man sie des­halb dort auch nicht fin­den kön­ne, und über­haupt muss­te ich jetzt erst ein­mal her­aus­fin­den, ob ein Hund die Bud­dha-Natur hat oder nicht, dann wür­de ich schon kla­rer sehen.

In die­ser Zeit erzähl­te mir eine Tan­te eine Geschich­te von mei­ner Groß­mutter, die ein wirk­li­cher preu­ßi­scher Ara­hat war und schon vor vie­len Jah­ren gestor­ben ist. Danach hät­te die­se ein­mal sie und mei­nen Onkel in der klei­nen Stadt besucht, in der sich die bei­den nach dem Krieg als Ver­trie­be­ne eine neue Exis­tenz auf­ge­baut hat­ten. Alle zusam­men hät­ten im Gar­ten geses­sen und Kaf­fee getrun­ken, dann sei aber mei­ne Groß­mutter unver­mit­telt auf­ge­stan­den und zu den gera­de auf­blü­hen­den Rosen­stö­cken gegan­gen, habe dort eine beson­ders schö­ne Blü­te, die ihr wohl vom Kaf­fee­tisch aus schon auf­ge­fal­len war, ein­ge­hend betrach­tet, schließ­lich mei­ne Tan­te zu sich gewun­ken und geflüs­tert: “Ich möch­te die­se Rose küssen …”

Das wirk­te wie ein Sprung in das kal­te Was­ser der Maenam-Bucht. Mit einem Mal sah ich kla­rer. Da ich, wie gesagt, immer alles bes­ser wuss­te, hat­te ich mei­ne Groß­mutter bis dahin für eine her­zens­gu­te, beschei­de­ne und auf­op­fernd hilfs­be­rei­te, aber doch ein­fa­che Land­ar­bei­ter­frau aus Hin­ter­pom­mern gehal­ten. Jetzt wuss­te ich, dass sie in Wirk­lich­keit mei­ne Leh­re­rin gewe­sen war. Ich schäm­te mich sehr, sie so ver­kannt zu haben: “Ich möch­te die­se Rose küs­sen …” Ohne es zu wis­sen (oder doch?) hat­te sie mir nichts anders als ein Koan mit auf den Weg gege­ben wie einst der Welt­er­ha­be­ne auf dem Gei­er­berg sei­nem Schü­ler Kas­hya­pa, denn das war es ja, was ich selbst woll­te, die Rose küs­sen … ! Ich muss­te mich nur bücken und den Mund spitzen …

Und da ging mir auf, dass sie nicht die ein­zi­ge war, bei der es sich so ver­hielt, dass auch Thoms Buch nichts wei­ter war als ein ein­zi­ges gro­ßes tor­lo­ses Tor, durch das ich hin­durch­ge­hen konn­te, ohne den Flie­ger nach Bang­kok über­haupt bestei­gen zu müs­sen, ein Rät­sel, das sich der Gro­ße Zen-Meis­ter im Him­mel lis­tig aus­ge­dacht hat­te, um mich an der Nase her­um­zu­füh­ren. Ich muss­te Thom gar nicht mehr sehen, um ihn zu mei­nem Leh­rer zu machen, er war es längst gewe­sen, und sein Buch muss­te ich nicht suchen, ich muss­te es selbst schreiben … !

Und je län­ger ich dar­über nach­dach­te, des­to mehr Meis­ter fie­len mir ein, die mir auf die eine oder ande­re Wei­se einen Teil ihres Dhar­mas mit auf den Weg gege­ben hat­ten: den Lei­ter unse­rer Grund­schu­le, wenn er vor den Gro­ßen Feri­en alle Schü­ler auf dem Pau­sen­hof ver­sam­mel­te und dann “Wem Gott will rech­te Gunst erwei­sen” auf sei­ner Gei­ge anstimm­te, der alte Pole mit der Ausch­witz-Täto­wie­rung auf dem Unter­arm, der mich beim Auto­stopp in Süd­frank­reich mit­nahm und mir lachend ver­si­cher­te, aber gewiss doch, alle Men­schen sei­en Brü­der, die Gärt­ne­rei­be­sit­ze­rin, für die ich frü­her ein­mal gear­bei­tet hat­te und die nie Urlaub mach­te, nur jeden Mor­gen auf­stand und den Kampf mit den Schne­cken und dem stei­ni­gen Boden auf­nahm, und das war alles, was sie brauch­te, um glück­lich zu sein, und, und, und …

Erst jetzt begriff ich, dass es beim Dhar­ma nicht um eine exo­ti­sche Phi­lo­so­phie geht, die man mit geheim­nis­vol­len Ritua­len in Asi­en erler­nen und dann in Euro­pa in ver­schwie­ge­nen Zir­keln Ein­ge­weih­ter in Hin­ter­hof-Dojos pfle­gen muss, son­dern um das Leben jedes ein­zel­nen Men­schen an jedem Ort und zu jeder Zeit der Geschich­te. Dass man Acht­sam­keit bei der Zen-Ein­kehr pfle­gen kann, aber noch weit mehr davon beim Kaf­fee­ko­chen not­wen­dig ist. Dass jeder Mensch das Dhar­ma wei­ter­ge­ben kann, ohne je den Namen Bud­dha gehört zu haben.

Der bes­te Zen-Leh­rer wäre einer, der noch nie etwas von Zen gehört hät­te. Du hast ihm ges­tern die Hand gege­ben und dich für immer von ihm verabschiedet.

(2005)