Autorenblog

Monat: November 2016

Sozialismus oder Atomtod

Wäh­rend im Netz hef­tig gestrit­ten wird, ob der vor­ges­tern ver­stor­be­ne Máxi­mo Líder der letz­te der roman­ti­schen Revo­lu­tio­nä­re war oder ein fie­ser Tyrann, der die Mei­nungs­frei­heit unter­drück­te, Schwu­le und Chris­ten in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger pferch­te und sich poli­ti­scher Geg­ner durch den Ein­satz von Erschie­ßungs­kom­man­dos ent­le­dig­te, soll­te man nicht ver­ges­sen, dass gro­ße Tei­le der Welt, hät­te er sei­nen Wil­len durch­ge­setzt, seit 1962 ver­mut­lich eine ato­mar ver­strahl­te Wüs­te wären.

Damals hat­te die Sowjet­uni­on, wie all­ge­mein bekannt ist, heim­lich begon­nen, nuklea­re Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten auf der Kari­bik­in­sel zu sta­tio­nie­ren. Das war in gewis­ser Wei­se ver­ständ­lich, schließ­lich hat­ten die USA sei­ner­zeit ähn­li­che Waf­fen­sys­te­me in der Tür­kei auf­ge­stellt, und Chruscht­schow woll­te im Prin­zip nichts wei­ter als das stra­te­gi­sche Gleich­ge­wicht wie­der­her­stel­len. Auch von kuba­ni­scher Sei­te aus gese­hen über­wo­gen die Vor­tei­le, hat­te es doch im Vor­jahr die geschei­ter­te Inva­si­on in der Schwei­ne­bucht gege­ben, und die Sta­tio­nie­rung von Atom­waf­fen schien eine wirk­sa­me Abschre­ckung gegen wei­te­re der­ar­ti­ge Ver­su­che von Sei­ten der USA zu bieten.

Natür­lich flog die Sache auf. Die Ame­ri­ka­ner ent­deck­ten die Rake­ten­stel­lun­gen auf U2-Spio­na­ge­flü­gen und reagier­ten mit einer See­blo­cka­de Kubas, die wie­der­um zur gra­vie­rends­ten Kri­se des gesam­ten Kal­ten Krie­ges führ­te. Meh­re­re Tage lang war nicht klar, ob die USA eine mili­tä­ri­sche Inva­si­on der Insel begin­nen wür­den, und auch die sowje­ti­sche Füh­rung ließ zunächst die Schif­fe mit Mili­tär­aus­rüs­tung, die noch auf dem Weg nach Kuba waren, wei­ter Kurs auf die Insel hal­ten. Heu­te wis­sen wir, dass eine sol­che Inva­si­on von Tei­len der ame­ri­ka­ni­schen Regie­rung und des Mili­tärs gefor­dert und nur durch Ken­ne­dys Beson­nen­heit ver­hin­dert wur­de. Wir wis­sen auch, dass es in die­ser extrem ange­spann­ten Lage min­des­tens zwei­mal aus Ver­se­hen bei­na­he zu einem Atom­krieg gekom­men wäre: Ein sowje­ti­sches U‑Boot ohne Funk­kon­takt mit der Ein­satz­lei­tung wur­de durch ame­ri­ka­ni­sche Übungs-Was­ser­bom­ben zum Auf­tau­chen gezwun­gen, und zwei der drei ver­ant­wort­li­chen Offi­zie­re waren dafür, den an Bord befind­li­chen Atom­tor­pe­do los­zu­schi­cken; nur der Flot­til­len­kom­man­dant Was­si­li Alex­an­d­ro­witsch Archip­ow (ein Held der Mensch­heit, um mal pathe­tisch zu wer­den) ver­hin­der­te dies. Unbe­stä­tig­ten Zeu­gen­aus­sa­gen zufol­ge gab es zu glei­chen Zeit in einer ame­ri­ka­ni­schen Rake­ten­stel­lung auf Oki­na­wa einen Fehl­alarm, der fast zum Start der dor­ti­gen Rake­ten geführt hätte.

In die­ser Lage bewies Coman­dan­te Cas­tro, dass er cojo­nes in der Grö­ße min­des­tens der Sier­ra Maes­tra hat­te: In einem Tele­gramm an Chruscht­schow vom 26. Okto­ber for­der­te er die Sowjet­uni­on (ziem­lich ver­klau­su­liert, aber doch deut­lich erkenn­bar) auf, die befürch­te­te US-Inva­si­on Kubas mit einem ato­ma­ren Erst­schlag zu beant­wor­ten: »Por dura y ter­ri­ble que sea la solu­ción, no hab­ría otra.« – »So hart und schreck­lich die Lösung wäre, es gäbe kei­ne ande­re.« (Quel­le) Womit er sich durch­aus im Ein­klang mit vie­len wei­te­ren Kuba­nern und Mit­re­vo­lu­tio­nä­ren wis­sen konnte:

In den Stra­ßen von Havan­na skan­dier­ten begeis­ter­te Men­schen: »Que ven­gan! Que ven­gan!« — »Sol­len sie doch kom­men! Sol­len sie doch kom­men!« Und Che Gue­va­ra schrieb genau­so berauscht: »Es ist das fie­be­rerre­gen­de Bei­spiel eines Vol­kes, das bereit ist, sich im Atom­krieg zu opfern, damit noch sei­ne Asche als Zement die­ne für eine neue Gesell­schaft … Wor­an wir fest­hal­ten ist, dass wir auf dem Weg der Befrei­ung blei­ben müs­sen, selbst wenn er durch einen Atom­krieg Mil­lio­nen Opfer kos­tet, weil wir im Kampf auf Leben und Tod zwi­schen zwei Sys­te­men nichts ande­res den­ken kön­nen als den end­gül­ti­gen Sieg des Sozia­lis­mus oder den Rück­schritt durch den ato­ma­ren Sieg der impe­ria­lis­ti­schen Aggres­si­on.« (Hoff­mann, Bert: Kuba, Mün­chen 2002, S. 77)

Dazu ist es Gott sei Dank nicht gekom­men. Die Rus­sen lieb­ten, wie es in dem schmal­zi­gen Schla­ger von Sting heißt, ihre Kin­der offen­bar genau­so wie wir und lie­ßen sich hin­ter dem Rücken Cas­tros auf einen Kuh­han­del mit den Ame­ri­ka­nern ein, dem­zu­fol­ge die Rake­ten aus Kuba wie­der abge­zo­gen wur­den, wäh­rend Ken­ne­dy zäh­ne­knir­schend das dor­ti­ge kom­mu­nis­ti­sche Regime akzep­tier­te und schließ­lich etwas spä­ter auch die ame­ri­ka­ni­schen Titan-Rake­ten aus der Tür­kei klamm­heim­lich ver­schwin­den ließ.

Was, wenn Chruscht­schow nicht nach­ge­ge­ben hät­te? Irgend­wann hät­te sich Ken­ne­dy nicht mehr gegen die Fal­ken im eige­nen Lager durch­set­zen kön­nen, und eine Inva­si­on Kubas wäre unum­gäng­lich gewor­den. Ein sowje­ti­scher Erst­schlag (damals stan­den 300 rus­si­sche Spreng­köp­fe gegen 5000 ame­ri­ka­ni­sche) hät­te gro­ße Ver­wüs­tun­gen ange­rich­tet, aber die USA hät­ten zwei­fel­los noch genü­gend Feu­er­kraft gehabt, um alles zwi­schen Ost-Ber­lin und Wla­di­wos­tok (und alles zwi­schen Havan­na und Sant­ia­go de Cuba eben­so) in eine ato­mar ver­seuch­te Wüs­te zu ver­wan­deln. Ob die Über­le­ben­den sich dem Sozia­lis­mus zuge­wandt hät­ten, wis­sen wir nicht, aber es kann uns auch egal sein, weil es uns mit hoher Wahr­schein­lich­keit gar nicht geben würde.

In die­sem Sin­ne: Möge er in Frie­den ruhen! (Mit Beto­nung auf »ruhen« …)

Die Leute unter dem großen Himmel

Über­rascht bin ich eigent­lich nicht. Vor lan­ger Zeit schon, als ich mich für Jack Kerou­ac hielt und per Anhal­ter durch die Ver­ei­nig­ten Staa­ten vaga­bun­dier­te, habe ich die­sen Men­schen­schlag ken­nen­ge­lernt: her­zens­gut, hilfs­be­reit und, solan­ge man ihn nicht reizt, aus­ge­spro­chen gut­mü­tig. Aber auch ein biss­chen kräh­win­ke­lig und oft all­zu sehr von der eige­nen Vor­treff­lich­keit über­zeugt: Man lebt irgend­wo in einem die­ser fla­chen und wei­ten Bun­des­staa­ten, die die Leu­te aus New York oder Kali­for­ni­en nur vom Drü­ber­flie­gen ken­nen, ist glück­lich mit sich selbst und sei­ner klei­nen Welt, wäh­rend der Rest des Pla­ne­ten oder sogar der eige­nen Nati­on zu einem sche­men­haf­ten Etwas zusam­men­schnurrt, das ab und zu in Form von kriegs­zer­stör­ten Häu­ser­rui­nen oder Ras­sen­un­ru­hen in den Groß­städ­ten in den Abend­nach­rich­ten auf­taucht. Die meis­ten wuss­ten damals weder, dass es zwei Deutsch­lands gab, noch hät­ten sie auf einer Welt­kar­te Paris oder Rom gefunden.

Wenn es gut läuft, sind die­se abge­schie­de­nen Win­kel das Para­dies auf Erden. Wenn es nicht so gut läuft, ver­liert man dort schnell die Geduld. Damals lief es nicht so gut: Die USA befan­den sich mehr oder weni­ger seit dem ers­ten Ölschock in einer per­ma­nen­ten Wirt­schafts­kri­se, die auch durch die »Rea­g­ano­mics« nicht wirk­lich bes­ser wur­de, Bruce Springsteen sang herz­er­grei­fen­de Lie­der über hoff­nungs­lo­se Ver­lie­rer, die der ame­ri­ka­ni­sche Traum ver­ges­sen hat­te, und das Ster­ben der gro­ßen Stahl­wer­ke hat­te die Epo­che ein­ge­läu­tet, in der immer mehr tra­di­tio­nel­le Indus­trie­be­trie­be das Land ver­las­sen würden.

In jenem Som­mer war gera­de Wahl­kampf zwi­schen Mon­da­le und Rea­gan, und mehr oder weni­ger jeder, der mich mit­nahm, kam irgend­wann auf Poli­tik zu spre­chen. Der »gro­ße Kom­mu­ni­ka­tor« hat­te damals in Euro­pa kei­ne beson­ders gute Pres­se, und dies nicht ganz zu Unrecht: Er hat­te in sei­ner ers­ten Amts­zeit den Kal­ten Krieg auf eine neue Spit­ze getrie­ben (heu­te wis­sen wir, dass wir bei Able Archer bei­na­he alle drauf­ge­gan­gen wären), finan­zier­te sei­ne ideo­lo­gie­ge­trie­be­ne Wirt­schafts­po­li­tik durch eine absurd hohe Staats­ver­schul­dung und war augen­schein­lich schon damals geis­tig nicht mehr so ganz auf der Höhe. Und trotz­dem: Sie lieb­ten ihn ein­fach. Man gab offen zu, dass sich Ron­nie ver­mut­lich mor­gens zwei unter­schied­li­che Socken anzog, wenn Nan­cy nicht auf­pass­te. Man hat­te genau­so viel Angst vor einem Atom­krieg wie wir Euro­pä­er. Man wuss­te auch, dass die Trick­le-down-Poli­tik nicht funk­tio­nier­te. Aber – Man, he’s just gre­at…! Dass Rea­gan im Herbst jenes Jah­res mit über­wäl­ti­gen­der Mehr­heit wie­der­ge­wählt wur­de und Wal­ter Mon­da­le im Orkus der Geschich­te ver­schwand, war kei­ne gro­ße Überraschung.

Ich habe lan­ge dar­über nach­ge­dacht, weil mir das damals alles so rät­sel­haft erschien, und bin heu­te der Mei­nung, dass die Leu­te in den besag­ten Kräh­win­keln in Ronald Rea­gan eigent­lich das Bild lieb­ten, das sie sich von sich selbst mach­ten: zupa­ckend, zukunfts­ori­en­tiert, arbeit­sam, got­tes­fürch­tig, gerecht und aus­er­wählt, die Bür­ger des Neu­en Jeru­sa­lem zu sein. Es lie­ße sich leicht ein­wen­den, dass Rea­gan dies alles nur spiel­te und das Gan­ze ohne­hin für jeman­den, der arbeits­los, geschie­den und ohne Schul­ab­schluss durchs Leben geis­tert, ein uner­reich­ba­res Ide­al ist, aber wel­cher poli­ti­sche Füh­rer ver­dien­te es »groß« genannt zu wer­den, wenn er nicht in irgend­ei­ner Form ein sol­ches Ide­al­bild ver­kör­pern wür­de? Für die libe­ra­len, moder­nen Ame­ri­ka­ner der frü­hen 1960er war Ken­ne­dys »Camelot«-Hofstaat das Ziel aller Träu­me, auch wenn JFK viel­leicht in Wirk­lich­keit nur ein noto­ri­scher Fremd­ge­her mit Rücken­pro­ble­men war, der die ers­ten Sol­da­ten nach Viet­nam schick­te. Für die Jungs aus North Plat­te, Nebras­ka, reich­te 1984 ein ehe­ma­li­ger Wes­tern­dar­stel­ler mit rasan­ter Haar­tol­le und locke­ren Sprü­chen bei Mikrofonproben.

Ich bin mir ziem­lich sicher, dass all die Leu­te, die ich damals ken­nen­ge­lernt habe, und ihre Kin­der und Kin­des­kin­der noch dazu ges­tern für den Kan­di­da­ten votiert haben, der ihnen Make Ame­ri­ca Gre­at Again! zuge­ru­fen hat. Auch hier las­sen sich tau­send Grün­de fin­den, war­um Trump an sei­nen eige­nen Ansprü­chen schei­tern wird, auch hier ist der Gra­ben zwi­schen Ide­al und Wirk­lich­keit unüber­brück­bar tief. Aber er gibt ihnen das Gefühl, wie­der die­je­ni­gen sein zu kön­nen, die sie sein möch­ten. Wer das abseh­bar böse Ende ver­hin­dern will, muss zual­ler­erst die­ses Gefühl ernst­neh­men und ver­su­chen, ihm auf ver­nünf­ti­ge Wei­se Raum zu geben. Sonst ist The Donald nur der ers­te in einer Rei­he, die jedes Mal schlim­mer wird.

© 2024 Bernd Ohm

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