Vor vie­len Jah­ren habe ich ein­mal eine Kurz­ge­schich­te des heu­te fast ver­ges­se­nen ame­ri­ka­ni­schen Sci­ence-Fic­tion-Autors R. A. Laf­fer­ty gele­sen, ich glau­be, der deut­sche Titel war „Die knar­ren­den Angeln der Welt“. Laf­fer­ty war ein Grenz­gän­ger zwi­schen SF und Fan­ta­sy, und sei­ne Geschich­ten sind vol­ler Anspie­lun­gen auf Mytho­lo­gie und Vor­ge­schich­te, was mir als 14jährigem Spund gut gefal­len hat (und immer noch gefällt). Die Angeln (oder Schar­nie­re) der Welt sind ein Begriff aus der Anti­ke: Man stell­te sich damals vor, der Him­mel und die Erde wür­den sich um die­sel­be gro­ße Ach­se dre­hen, deren Schar­nie­re, die car­di­nes mun­di, irgend­wo nörd­lich und süd­lich der damals bekann­ten Welt lägen. Laf­fer­ty ver­klei­nert das Kon­zept sozu­sa­gen, bei ihm dre­hen sich nur bestimm­te Tei­le der Erde ab und zu um Ach­sen, deren Schar­nie­re bei­spiels­wei­se am Nord- bzw. Süd­ende der Pyre­nä­en oder am Groß­glock­ner und in der Nord­see vor Wan­ger­oo­ge lie­gen. Erde und Men­schen dar­auf sehen nach der von einem tief­grün­di­gen Knar­ren beglei­te­ten Umwäl­zung genau gleich aus, aber die Men­schen ver­hal­ten sich nun wie das genaue Gegen­teil der vor­he­ri­gen Bewohner.

Eine Dre­hung der Ach­se, die durch Deutsch­land ver­läuft, hat es offen­bar irgend­wann vor 1933 gege­ben, aber in den letz­ten Jah­ren beschleicht mich des Öfte­ren das Gefühl, eigent­lich sei unse­re gan­ze Welt von lau­ter Wel­len und Spin­deln durch­setzt, deren Knar­ren mir lau­ter und lau­ter in den Ohren dröhnt. Die letz­te grö­ße­re Umdre­hung fand im Sep­tem­ber 2001 statt, aber in den letz­ten Tagen ist das unheil­vol­le Geräusch wie­der lau­ter gewor­den, und ich fra­ge mich, wel­che Tei­le des unter­ir­di­schen Volks dies­mal an die Ober­flä­che gekom­men sind, mit was für Men­schen ich es zu tun habe, die da mit Kalasch­ni­kows und Rake­ten­wer­fern bewaff­net durch Paris zie­hen und die Redak­ti­on von Char­lie Heb­do hinmorden.

Ich glau­be, das ist der ers­te Ter­ror­an­schlag mei­nes Lebens, bei dem ich irgend­ei­ne Bezie­hung zu den Mord­op­fern habe. Kei­ne per­sön­li­che Bezie­hung natür­lich, aber ich war schon immer ein gro­ßer Fan der fran­ko-bel­gi­schen Schu­le von Comics und Kari­ka­tu­ren, nicht zuletzt von Jean-Marc Rei­ser, der für vie­le der heu­ti­gen Zeich­ner ein gro­ßes Vor­bild ist. Und ich muss nicht lan­ge suchen, um in mei­nem Bücher­re­gal etwas zu fin­den, des­sen Autor einer der ges­tern Getö­te­ten war:

Wolinski

Ich moch­te Wolinskis Arbeit ger­ne, er war ein schreck­li­cher Alt-68er, aber einer, der sich gna­den­los über die Alt-68er (ein­schließ­lich sei­ner selbst) lus­tig machen konn­te. Für vie­le Fran­zo­sen mei­ner Genera­ti­on ist er wahr­schein­lich so eine Art ulki­ger Onkel, mit des­sen Wit­zen sie groß gewor­den sind. Wie Rei­ser kann­te Wolin­ski kei­ne fal­schen Rück­sich­ten, sein Humor war meis­tens ver­saut und gele­gent­lich über­trie­ben albern, aber ich wüss­te nicht, wer ihn erset­zen soll­te. Und ich kann nicht begrei­fen, wie man einen sol­chen Men­schen, wie man über­haupt irgend­ei­nen Men­schen töten kann, weil man irgend­ei­ner Idee von „Gott“ folgt, in wel­cher Reli­gi­on auch immer.

Ich weiß aller­dings nicht, wie die Leu­te dar­über den­ken, die von der letz­ten Umdre­hung einer der Welt­ach­sen an die Ober­flä­che gebracht wor­den sind. Wür­den sie mich auch umbrin­gen, wenn ich mich öffent­lich über ihre Göt­ter und Pro­phe­ten lus­tig mache? Hal­ten wir jetzt alle den Mund, damit nicht eines Tages jemand mit einem Rake­ten­wer­fer in unser Büro spa­ziert? Aber viel­leicht bin ich es ja, der vor­her im Unter­grund gelebt hat und nun den hei­li­gen Zusam­men­halt der Welt gefähr­det, weil er an so gefähr­li­che Din­ge wie Frei­heit und Ver­nunft glaubt. Viel­leicht war die gan­ze Auf­klä­rung nur ein dum­mes Luft­schloss, von dem wir in unse­rer Höh­le geträumt haben.

Ich beschäf­ti­ge mich für ein Roman­pro­jekt gera­de viel mit der Fra­ge, wie die Welt wohl in unge­fähr 20 Jah­ren aus­se­hen wird. Ich habe da von vor­ne­her­ein kei­ne beson­ders opti­mis­ti­sche Visi­on, aber momen­tan auch den Ein­druck, dass die Wirk­lich­keit mir davon­rennt. Auf der einen Sei­te, in Dres­den, die Mär­sche der Abge­häng­ten, die jedes Ver­trau­en in Poli­tik und Medi­en ver­lo­ren haben und am liebs­ten alles hin­ter die Gren­zen ver­ban­nen wür­den, das ihnen nicht in den Kram passt. Ver­tei­di­ger des Chris­ten­tums, die nicht ein­mal ein simp­les Weih­nachts­lied aus­wen­dig kön­nen. Auf der ande­ren Sei­te jun­ge Män­ner und Frau­en, die hier auf­ge­wach­sen sind und das­sel­be Bil­dungs­sys­tem wie ich durch­lau­fen haben, aber dann nach Syri­en gehen und dort Gei­seln köp­fen. Die sich offen­bar seh­nen nach der Unfreiheit.

Hat­te Hun­ting­ton recht, ist das der gro­ße Streit der nächs­ten Jah­re und Jahr­zehn­te? Die Wes­ten­ta­schen-Ver­si­on des christ­li­chen Abend­lands gegen den Dschi­had? Ich fürch­te, dass mir bei­de Kon­tra­hen­ten die­ser Aus­ein­an­der­set­zung gleich absto­ßend erschei­nen. Ich kann auch mit Hou­el­le­becqs Welt­ekel, den er aus­ge­rech­net in die­sen Tagen wie­der vor uns auskippt, nicht viel anfan­gen, dem west­li­chen Selbst­hass und der Flucht in mod­ri­ge alte Gewiss­hei­ten. Ich möch­te wei­ter in einer Welt leben, in der man hier­über lachen kann:

charlie-hebdo-le-journal-satirique

100 Peit­schen­hie­be, wenn Sie sich nicht totlachen!

In Laf­fer­tys Geschich­te geht es um eine Welt­ach­se, die sich irgend­wo fern auf den Moluk­ken dreht und die Bewoh­ner der Insel Jilo­lo gegen ihre unter­ir­di­schen Pen­dants aus­tauscht. Vor­her sanft­mü­tig und schick­sals­er­ge­ben, wer­den sie nun zu blut­rüns­ti­gen Kan­ni­ba­len, die alle umlie­gen­den Inseln ter­ro­ri­sie­ren, Frau­en und Mäd­chen rau­ben und sys­te­ma­tisch die Häupt­lin­ge der ande­ren Stäm­me aus­rot­ten. Gott sei Dank gibt es auf einer der Inseln einen alten Hol­län­der, der sich noch erin­nert, wie die Ach­se zwi­schen Groß­glock­ner und Wan­ger­oo­ge wie­der ins Lot gebracht wur­de: durch die kon­zen­trier­te Anstren­gung aller Betei­lig­ten. Zwei Kanu-Expe­di­tio­nen fah­ren zu den Angeln der Moluk­ken-Welt, und mit Hil­fe zwei­er magi­scher Vögel, die in den Lüf­ten Sicht­kon­takt behal­ten und dadurch den schwie­ri­gen syn­chro­nen Beginn der Arbeit ermög­li­chen, gelingt das Werk. Am Ende sind die Jilo­los wie­der so gut­her­zig und bie­der wie vorher.

Die Fra­ge ist also, wo wir den Hol­län­der finden.

 

(Laf­fer­tys Geschich­te auf Eng­lisch gibt es hier.)